Im Jahrbuch Sexualitäten 2022 dachte Stephan Wackwitz in einem Essay anhand von Büchern über und von Susan Sonntag über das Spannungsfeld von Körperlichkeit und Intellektualität nach. Ute Cohen hat den Text für queernations.de Premiere gelesen und besprochen.


Susan Sontag, 1979

 

Kein Jahrbuch Sexualitäten ohne Miniaturen, den gleichermaßen persönlichen wie engagierten Auseinandersetzungen mit aktuellen Themen der queeren Welt. Das Jahrbuch Sexualitäten 2022 verzeichnet eine Miniatur bzw. einen Essay des Schriftstellers Stephan Wackwitz.

In „Unsere intellektuellen Körper“ setzt er sich mit dem Körperlichen bei Intellektuellen auseinander, besonders am Beispiel der legendären US-amerikanischen Essayistin Susan Sontag.

Die Autorin und Journalistin Dr. Ute Cohen hat den Essay für queernations.de – gleichsam als Patin – Premiere gelesen. Lesen Sie nachfolgend ihre Besprechung von „Unsere intellektuellen Körper“:

Kampf um den Leib

Von Dr. Ute Cohen

Ein Loblied soll ich singen? Müsste ich nicht. Aber selbst wenn: Es wäre zu langweilig, zu profan. Dieser Text verdient mehr, denn Stephan Wackwitz‘ Essay über „Unsere intellektuellen Körper“ bietet uns den Schlüssel zu einer zentralen Gegenwartsdebatte: Die drohende Refundamentalisierung unserer Gesellschaft. Warnende Stimmen gibt es allerorts: Die einen fürchten einen moralischen Totalitarismus, andere wiederum die Vernichtung des Universalismus durch Identitätspolitik.

Man braucht nicht einmal besonders hellhörig zu sein, kein außerordentliches Gespür für Bändigung zu haben, um der Gefahr gewahr zu werden. Wie aber konnte es so weit kommen, dass der Streit unmöglich wird, vom gemeinsamen Kampf ganz zu schweigen? Dass Pop-up-Aktivisten den Ton angeben und historische Errungenschaften ganzer Bewegungen in Vergessenheit geraten? Dass der Ruf nach Sichtbarkeit einhergeht mit der Unsichtbarkeit der anderen? Dass Konflikte nicht mehr von Angesicht zu Angesicht, sondern vor Gericht ausgetragen werden? Dass wir die anarchische Kraft in uns verlieren?

Es ist der Leib, der uns abhandenkommt. Das Verschwinden des Körpers empfinden viele derzeit als Gefahr. Der Sieg des gefühlten Geschlechts über das biologische ist eines der Menetekel, die auf die Bedeutungslosigkeit des Körperlichen hinweisen. Die Verlagerung körperlichen Verlangens in die virtuelle Welt ein anderes: VR-Brillen bedienen die menschliche Bequemlichkeit und Angstbesessenheit. Das Risiko, in die Welt hinauszugehen wird vermieden, die Gefahr, amouröse Niederlagen einzustecken, gebannt. Der Mensch wird nurmehr als formbare, knetbare Masse gesehen, die sich dem Geist oder auch nur dem gefühlten Geist unterwirft.

 

Winseln im Stuhlkreis

Weibliche Wut wird zwar gepriesen – Wie viele Bücher sind in den letzten Jahren zu Wut erschienen? – erschöpft sich aber in einem Winseln im Stuhlkreis. Wenn es die Rage in die Öffentlichkeit schafft, dann bleibt sie dem Irrationalen verhaftet, anstatt den Sprung zur Ratio zu schaffen. Der Leib wird amputiert von diesem Geist, der als Fluidität und Identität im Äther schwebt.

Stephan Wackwitz, Schriftsteller, Leiter des Goethe-Instituts in Tiflis, ist es nun zu verdanken, dass er die Verstümmelung gegenwärtiger Debatten im Körper-Geist-Konflikt verortet. Er zeichnet nicht nur deren Genese nach, sondern lässt uns am eigenen Leib spüren, wie er sich in die Körperlichkeit des Denkens hineingefunden hat. Der Essay ist eine Handreichung für alle, die die sich mit der Sprödigkeit des Wortes nicht zufriedengeben wollen, sondern Lebendigkeit im Textfluss suchen und „sektiererischer Unbedingtheit“ entfliehen wollen, wie Wackwitz es nennen würde.

Wackwitz selbst war in den Achtzigern vor der „sektiererischen Unbedingtheit“ des Marxismus nach London geflüchtet. Dort begeisterten ihn Lässigkeit und Eleganz, eine Eleganz, die sich nicht zuletzt in der Kunst der Debatte zeigte. Das geschliffene Wort und eine klare Struktur münden nicht in Borniertheit und Starrheit. Sie lassen Raum für den Austausch, den gepflegten Streit. Das Vertrauen in die eigene Fähigkeit und das triftige Argument verhindern den Rückzug in Ideologien.

 

Sexuelle Befreiung des Intellekts

Der Versuchung, Bannmeilen für Meinungsgegner festzulegen und das Feindliche scharf abzuzirkeln, unterliegt Wackwitz nicht. Wer die Wandlung vom Hardcore-Marxisten zum „pragmatist liberal“ schafft, interessiert sich mehr für das Menschenmögliche als Sprechautomaten und Manifeste. Die Verantwortlichkeit liegt in einem „liberal utopia“ wie Richard Rorty sagen würde, beim Individuum, den konstitutionellen Rahmen vorausgesetzt.

Wer das Individuum aber in die Pflicht nimmt, muss es erkennen und durchschauen. Das tut Wackwitz in diesem Essay. Und wie bei vielem im Leben steht am Anfang ein Traum: Die sexuelle Befreiung des Intellekts. Ein lebenslanger Akt scheint es zu sein, den Wackwitz vollzieht, wenn sich die Idee von Freiheit und Körperlichkeit im Denken noch heute in sein Unterbewusstes schleichen. Kein Wunder: Der Protestantismus war noch nie ein guter Ratgeber in Sachen Körperlichkeit. Auch das Preußentum in Wackwitz‘ Familie war eher Verhinderer als Befeuerer der Lust.

In seinem Essay über „Unsere intellektuellen Körper“ entblättert sich Wackwitz nun Schicht für Schicht. Die Nacktheit der eigenen Erinnerung aber möchte er uns doch nicht zumuten. Liegt es am Britischen? Ist es ein Rest der „intellectual snobbery“ des „Evangelisch-Theologischen Seminars“? Zwischen den Leser und sich schiebt er seine eigene Lektüre zweier Bücher: Benjamin Mosers Biographie Susan Sontags und ein Erinnerungsbuch der Schriftstellerin Sigrid Nunez.

 

Göttermutter-Ungerührtheit

Beide Bücher sieht er als „cautionary tales über die Gefahren einer Leibfeindlichkeit“ des Bildungsbürgertums. Er selbst sei davon nicht verschont geblieben: Jahrelang habe er sich wie ein „hollow man“ aus T.S. Elliotts Wasteland gefühlt. Dass er sich als junger Erwachsener nun ausgerechnet Susan Sontag als Lichtgestalt und Orientierungs-Guide auserkoren hat, verwundert nicht. Sontag, die Wackwitz selbst erlebte in ihrer „statuarischen, irgendwie junonischen Göttermutter-Ungerührtheit.“ Ihren Gegenpol sieht er im Kunstkritiker John Berger: „Konfrontiert mit der körperlichen Erdung ihres Gesprächspartners bleibt sie ein hochkultivierter Schatten.“

Diese „Sterilitätsverschattung“ trifft den Kern auch dessen, was mich von Sontag immer wieder zurückweichen ließ. Der Wunsch nach Reinheit, so empfindet das auch Wackwitz, ist immer gepaart mit Grausamkeit – Grausamkeit gegenüber anderen und sich selbst. Bis zum Ende ihres Lebens weigerte sich Susan Sontag „als öffentliche Person zu ihrer sexuellen Präferenz zu stehen“. Homosexualität sei für sie das Gegenteil ihrer bildungsbürgerlichen Ideale wie Geistesheroismus oder Urteilsstrenge gewesen.

 

Neuerliche Leibfeindlichkeit

Camp und Metapher, in diesen mit Sontags Werk unlösbar verknüpften Termini erkennt Wackwitz Sontags Tragik: „Nicht nur der begehrende, sondern auch der von Vernichtung bedrohte Körper wird mit ästhetischen Verfahren aus der Wirklichkeit hinauskomplimentiert.“

Der neuerlichen Leibfeindlichkeit einer tonangebenden Meinungselite gilt es auf den Zahn zu fühlen. Wackwitz‘ Errungenschaften, seinen Kampf um den Leib zu begraben unter einer gefühlten Geschlechtlichkeit, wäre fatal. „Zu leben ist ein aggressiver Akt“ sagte Susan Sontag im Rolling-Stone-Interview mit Jonathan Cott. Das aber genau gilt es zu beherzigen!

Diese Besprechung wurde Anlässlich der Premierenlesung des Jahrbuchs Sexualitäten 2022 Mitte Juli 2022 verfasst. Das Jahrbuch Sexualitäten ist im Wallstein Verlag Göttingen erschienen und im Handel (bspw. Prinz Eisenherz, Berlin) erhältlich, sowie in vielen universitären Bibliotheken abrufbar.

Dr. Ute Cohen auf Twitter: https://twitter.com/ute_cohen


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