Die verlorene Liebe der queeren Holocaustüberlebenden | Anna Hájková
Von Timo Lehmann
„Ich forsche darüber, was verboten ist“, sagt Anna Hájková, zieht die Augenbrauen hoch und lächelt charmant zu ihren Zuhörern. Kurze Stille der Verblüfften im Raum. Der homophobe Alltag des Gräuel ist das Thema der Historikerin – das Zusammenleben in den Deportationslagern des NS-Regimes und die bis heute bestehende Lücke in Erinnerungs- und Wissenschaftswelt: queere Holocaustüberlebende.
Anna Hájková, 38 Jahre, ist Juniorprofessorin am Institut für Neuere Geschichte an der Universität Warwick in Großbritannien. Die gebürtige Tschechin studierte in Berlin; in ihrer mehrfach ausgezeichneten Dissertation beschäftigte sich Anna Hájková mit dem sozialen Innenleben des Ghettos Theresienstadt. Als Beirat fungiert sie in der tschechischen Gesellschaft für das queere Gedächtnis.
Nach Berlin kam die Wissenschaftlerin am Montagabend zur letzten Queerlecture des Jahres 2016. Mit einleitenden Worten und nachbohrenden Fragen führte IQN-Vorstand Jan Feddersen durch die Veranstaltung im voll besetzten tazcafé.
Homofeindlichkeit gehörte zum Alltag
Dass es bis heute keine Aufarbeitung schwuler und lesbischer Holocaustüberlebender gibt, erklärt Hájková mit einer durchaus brisanten These: Es war politisch nicht gewollt, wurde vergangenheitspolitisch bewusst getilgt. So gibt es in den Archiven kaum Nachlässe queerer, jüdischer Opfer.
Nicht nur arithmetisch kann man jedoch leicht darauf schließen, dass es jene gab, auch wurde sehr wohl von anderen Opfern über sie gesprochen. Mithäftlinge fielen in aufgezeichneten Erinnerungen über ihre schwulen und lesbischen Zeitgenossen her, stellten sie als kranke Aufdringlinge dar. „Der Druck, Geschlechterrollen zu genügen, war in den Lagern noch größer.“ Abweichendes Verhalten wurde im Lager noch stärker sozial geächtet, Homofeindlichkeit gehörte zum Alltag.
Spuren in Südamerika
Auch Abhängigkeitsverhältnisse spielten eine Rolle. Anna Hájková spricht etwa von der KZ-Aufseherin Anneliese Kohlmann und ihrer Beziehung zu einer Häftlingsfrau im Arbeitslager Neuengamme. Ebenfalls spannend: Der Fall der türkisch-jüdischen Eleonore Behar, die eine Beziehung zu einer Frau im Konzentrationslager Theresienstadt einging. Anna Hájková hat erst vor wenigen Tagen eine neue Spur in Südamerika ausmachen können, kontaktierte einen Ururneffen der inzwischen längst verstorbenen Eleonore Behar. Der 19-Jährige versprach via Facebook Einsicht in einen Karton mit Briefen.
Im Anschluss gab es Frageraum für die neugierigen Zuhörer. Auch wenn Anna Hájková heute publizieren kann, es gäbe im Wissenschaftsraum noch immer Vorbehalte. „Wie dünn ist das Eis, auf dem wir stehen?“, fragt sie, spricht leidenschaftlich von „verlorener Liebe“ und „radikaler Ungerechtigkeit“, die sie umtreibt. So will Anna Hájková weiter forschen: „Weil Sexualität keine dreckige Fußnote ist, sondern Geschichte hat.“
Timo Lehmann, Mitglied von Queer Nations