Bruch mit der Herkunftsfamilie | Didier Eribon
Von Babette Reicherdt
Mit rund 120 Zuhörenden war das Berliner taz-Café wortwörtlich bis auf den letzten Stehplatz besetzt, als vorigen Montag, 28.11.2016, Didier Eribon auf Einladung der Initiative Queer Nations für eine Queer Lecture zu Gast war. Schon anderthalb Stunden vor Beginn der Veranstaltung hatten sich viele der Zuhörenden bereits ihre Sitzplätze gesichert. Die allermeisten von ihnen blieben ob einer hochspannenden Lecture bis zum Schluss der Veranstaltung.
Didier Eribon, Soziologe, Professor an der Universität Amiens und Autor einer vieldiskutierten Foucault-Biographie, hat mit seinem 2009 veröffentlichtem Buch „Rückkehr nach Reims“ viel Aufsehen erregt. Im Sommer 2016 ist schließlich nach sieben Jahren auch die deutsche Übersetzung im Suhrkamp Verlag erschienen und verblüffte ob ihrer politischen Aktualität.
Im rund 90-minütigen Gespräch mit IQN-Vorstand Jan Feddersen, erläuterte Eribon die zentralen Thesen seines Buches und diskutierte vor dem aktuellen politischen Hintergrund von Gesellschaften mit wachsendem Rechtspopulismus die Strategien linker Politiken, darauf zu reagieren. „Rückkehr nach Reims“, eine Erzählung nichtfiktionalen Hintergrunds, schildert am Beispiel der eigenen Biographie Eribons dessen sexuelles und zugleich soziales Coming-out, dass er mit seiner Flucht nach Paris als Anfangszwanziger vollzogen hat.
Damit floh er zugleich vor seiner sozialen Herkunft aus einer Arbeiterfamilie in Reims und der dort erlebten homophoben Gewalt. Die Scham vor dieser sozialen Herkunft verleugnete er viele Jahre. Anlässlich des Todes seines Vaters widmete sich Eribon diesem Thema, besuchte seine Mutter in Reims und entwarf einen Text, der – in der Tradition französischer Soziologie – am Beispiel seines persönlichen Lebens die Verschränkung von sozialer Klasse und sexueller Orientierung und die (Un-)Möglichkeiten sozialer Mobilität erörtert.
Die soziale Klasse im Kopf
Eribon betonte, dass es signifikante Unterschiede zwischen homosexuellen und heterosexuellen Menschen hinsichtlich ihrer sozialer Ausschlüsse gäbe, die eine Bewegung zwischen den sozialen Klassen beeinflusste. So sei es für Homosexuelle obligatorisch, ihre soziale Klasse zu verlassen, da ihnen die Möglichkeiten, sich in einen Familienzusammenhang einzuschreiben, nicht offen stünden. Gleichzeitig seien sie ebenfalls von den Herrschaftsverhältnissen, wie sie etwa im französischen Bildungssystem zum Ausdruck kämen, betroffen, und zugleich von Gewalt in Form von Homophobie.
Seine These, die Herkunftsfamilie und die Erinnerung an sie sei „seine soziale Klasse im Kopf“ gewesen, der er entflohen ist, lässt sich vor dem Hintergrund von Eribons Überzeugung verstehen, dass es sich auch beim Beispiel seines Lebens nicht um ein persönliches Schicksal handele, sondern um strukturell bedingte Umstände, die alle intimen Momente bestimmten. Eine psychologische und psychologisierende Deutung weist er an allen Stellen zurück.
Am Bruch mit der Herkunftsfamilie schilderte Didier Eribon weiterhin die Entwicklung einer durch die Front National politisierten Arbeiterschicht, die bis vor einigen Jahren noch mehrheitlich links gewählt hätte. Er beschreibt, wie das Desinteresse der Linken an sozialen Themen in Frankreich befördert habe, dass es der Front National geglückt sei, eine neue soziale Klasse in Gestalt ihrer Wählenden erst zu konstruieren.
Zizek – „Ein faschistischer Clown“
Dabei ging er hart ins Gericht mit den jüngsten Formen linker Protestbewegungen wie Nuit Debout, die nach Eribons Ansicht vor allem aus jungen urbanen Akademiker*innen bestünden, die die Perspektive der Arbeiter*innen nicht wirklich interessierten. Didier Eribon machte deutlich, was er unter linker Politik versteht: Die Kritik an und Beschäftigung mit allen Formen der Unterdrückung. Eine politische Linke sei daher nur als ein Zusammenschluss all dieser Bewegungen denkbar: Feminismus, Sozialismus, LGBT*-Emanzipation und Umweltschutz.
Auf die intellektuellen Stimmen des frauenfeindlichen und homophoben rechtspopulistischen Spektrums hatte er daher eine scharfe Antwort: der Philosoph und Lacan-Experte Slavoj Zizek sei für ihn „ein faschistischer Clown“ und – neben dem legendären französischen Psychoanalytiker Jaques Lacan – der Philosoph Alain Badiou ein „frauenfeindlicher, homophober Sexist“. Beide täten sich seit einiger Zeit in antifeministischen Diskursen hervor und Eribon rief ihnen zu: „ça suffit!“ – Schluss damit!
Babette Reicherdt, 2. Vorstand IQN