Harald Welzer stößt sich an den Auswüchsen der Identitätspolitik

Von Benno Gammerl

Gleich zu Beginn der Queer Lecture, im mit über 80 Gästen sehr gut besuchten taz-Café, brachte Harald Welzer seine zentrale Botschaft auf den Punkt: Identitätspolitik darf nicht zu unbegründeten Sprechverboten verkommen. Sein Beispiel, von Jan Feddersen in der Anmoderation angesprochen: eine Kolumne, die Welzer in einem Heft von National Geographic zum Thema Gender veröffentlicht hatte. Darin setzte er sich kritisch mit der Forderung auseinander, Kindern, die Probleme mit ihrem Geburtsgeschlecht haben, mittels Hormonen und operativen Maßnahmen eine Annäherung an ihr Wunschgeschlecht zu ermöglichen. Dieses Insistieren auf der frühen Machbarkeit von Geschlecht interpretierte Welzer als Ausdruck neoliberaler Flexibilisierung, Kommodifizierung und Konsumorientierung. Diesen Text beurteilte eine Trans*-Organisation auf Anfrage der Redaktion von National Geographic als politisch problematisch. Hier verkomme, so Welzer, Identitätspolitik zu einer Art Sprachpolizei, die unliebsame Beiträge aus dem Diskurs verbanne und dadurch das Austragen von Meinungsverschiedenheiten im offenen Konflikt unmöglich mache.

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Jan Feddersen und Harald Welzer

Ausgehend von diesen Überlegungen schlug Welzer einen weiten Bogen zum erfolgreichen Kampf neoliberaler Kräfte gegen den Sozialstaat oder den demokratischen Kapitalismus seit den 1970er Jahren. Diese Konfrontation, deren Effekte von der Schließung öffentlicher Bibliotheken bis zum Rückzug des Staates aus der Bildungsfinanzierung reichten, führte Welzer auf den Gegensatz zwischen einem neoliberal radikalisierten Individualismus und einer letztlich aufklärerisch geprägten, universalistischen Vorstellung von Gesellschaft zurück, die allen unabhängig von ihren jeweiligen Leistungspotentialen Teilhabe garantiere.

Die soziale Frage rückt immer mehr in den Hintergrund

Indem sie partikularistische Interessen bediene, so Welzer, gerate die Identitätspolitik innerhalb dieses Spannungsfeldes – vielleicht ohne es zu wollen – zur Erfüllungsgehilfin des neoliberalen Projekts. Zudem verabschiede sie sich mit ihren Forderungen nach symbolischer Anerkennung vom Streben nach materieller sozialer Gerechtigkeit. Diesen Prozess sah Welzer dort am Werk, wo schwule Paare Leihmütter im globalen Süden ausbeuten, um sich ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Oder dort, wo sich die Sozialwissenschaften postmodernen Turns folgend nur noch mit sich selbst und anderen immer abwegigeren Problemen beschäftigen und darüber die soziale Frage aus den Augen verlieren. Oder dort, wo der Wahlsieg Donald Trumps allein darauf zurückgeführt wird, dass die weiße und männliche Bevölkerung in den von De-Industrialisierung betroffenen Teilen der USA sich vernachlässigt und in ihrem Stolz gekränkt fühlt. Oder schließlich dort, wo sich bestimmte Teile der Ökobewegung, wie Welzer es zugespitzt formulierte, in ihr Gärtchen zurückziehen, von wo aus sie nicht mehr sehen können, wie eng ihr ökologisches Anliegen mit globalen Kämpfen gegen ökonomische Ungleichheit verknüpft ist.

Immer wieder plädierte Welzer also dafür, den Blick aufs Große und Ganze zu richten, wobei er diese Universalität in erster Linie ökonomisch-materiell fasste und mit dem Problem der ungerechten Verteilung von Vermögen und Einkommen identifizierte. Aus dieser Perspektive erschienen ihm die partikularen und identitätspolitischen Forderungen von LSBTI* und anderen Bewegungen gleichsam als Manöver, die vom eigentlich zentralen Kampf um soziale Gerechtigkeit im globalen Maßstab ablenkten.

Was kennzeichnet eine offene Gesellschaft?

In der Diskussion relativierte Welzer diese Polemik, indem er betonte, dass er die Errungenschaften von schwulen, lesbischen, feministischen, anti-rassistischen und anderen sozialen Bewegungen durchaus anerkenne. Allerdings fand er keine klare Antwort auf die seine Kritik an der Trans*-Sprachpolizei adressierende Frage, wie er denn definieren würde, welche Äußerungen diskursfähig seien und welche als verbale Formen von Gewalt und Diskriminierung ausgeschlossen werden müssten. Letztlich verwies Welzer lediglich darauf, dass man in offenen Gesellschaften ein Mindestmaß an ‚Gegenwind‘ aushalten müsse, und dass sich in der Arena des demokratischen Streits alle Kontrahenten notwendig verletzbar machten. So sympathisch diese Betonung der politischen Auseinandersetzung ist, so erfreulich wären ausführlichere Überlegungen dazu gewesen, wie man_frau darüber streiten kann, welche Bemerkungen zu ertragen sind, und welche man_frau sich verbeten kann.

Benno Gammerl, IQN-Vorstandsmitglied