Die trügerische Ruhe nach der Gewalt

Von Maria Borowski

Götz Wienold, 1938 geboren und ehemaliger Professor für Germanistik und Sprachwissenschaft las am 23. Juni 2017 in der Reihe Queer Reading im Taz-Café aus seinem bereits 2006 im Passagen Verlag erschienenen Buch „Großwahrwitz. Aus der Frühgeschichte des neuen Deutschland“. Nach der Habilitation im Jahr 1969 in Münster arbeitete Wienold an der Universität in Konstanz und siedelte 1992 für seine Professur nach Japan um, wo er bis 2003 an der Dokkyo Universität lehrte. Seit seiner Emeritierung lebt der er in Tokyo und begann mit der Veröffentlichung von literarischen Texten, die sich mit der Gewaltgeschichte am Ende des Nationalsozialismus, der frühen Bundesrepublik und DDR auseinandersetzt.

Er sitzt vorn, ruhig und gelassen, langsame Bewegungen, fast in Zeitlupe. Nichts seiner Bewegungen lässt erahnen, was in den nächsten 60 Minuten folgen wird. Wer Götz Wienolds Werk nicht kennt, ist zunächst einmal gefangen, befindet sich in einer Starre des Zuhörens, die während der gesamten Zeit der Gegenwart der lesenden Person nicht mehr verloren geht. Auch nicht am folgenden Tag. Die Gewalt der Sprache schabt sich tief hinein.

Die frühe Bundesrepublik in den 1950er Jahre

Götz Wienold bezeichnet sich selbst als Kriegskind und als Schriftsteller und Semantiker. Er weiß Worte und Sprache genau einzusetzen, sodass sie haften bleiben. Er liest Ausschnitte aus seinem fragmentarisch angelegten Roman „Großwahrwitz. Aus der Frühgeschichte des neuen Deutschland“, der durchaus eine andere Lesart ergibt, wenn die einzelnen Teile in veränderter Reihenfolge angeordnet werden. Er stellt uns Zuhörer*innen eine weitere Variante als die vom Passagen Verlag veröffentlichte aus dem Jahr 2006 vor und bestärkt im anschließenden Gespräch, dass alles Geschriebene stattgefunden hat, aber vielleicht in unterschiedlicher zeitlicher Abfolge passiert sein kann. Autobiografische Elemente ergänzt durch Dichtung ergeben ein Bild der 1950er Jahre in der frühen Bundesrepublik, das so kaum in der Literatur zu finden ist.

Narben, die bleiben

Jakob, die erzählende Hauptperson stellt seine Gewalterfahrungen in den Kontext der gewaltgeladenen Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Gewalt gegen Juden, Sinti und Roma, gegen Kranke, angebliche Asoziale, gegen politische Verfolgte und Homosexuelle prägten die nationalsozialistische Zeit, deren Auswirkungen sich der junge Jakob ausgeliefert fühlt. Die sexualisierte Gewalt durch den eigenen Vater und den zuerst ungläubig schauenden Onkel, durch Bekannte und Freunde erlebt Jakob in seiner frühen Kindheit. Die inneren Narben und Schmerzen wird Jakob nie ganz verwinden.

„Hinschauen, wahrnehmen, begreifen – und handeln“

Die Unausprechlichkeit seiner Gewalterfahrungen erfährt Götz Wienold bis ins hohe Alter hinein. Auf einem anderen Kontinent, in einer anderen Sprache angekommen, ermöglicht dem Autor, seine Muttersprache als Arbeitssprache zu begreifen, sich von ihr selbst und dem Erlebten zu distanzieren und in eine andere Sprache, nämlich die Sprache der Literatur – als Aufarbeitung der Gewaltverbrechen an seiner Person – zu übersetzen. Es ist eine schwer lesbare, tiefe und nachdenklich stimmende Sprache, die durch das bestimmte Betonen der Wörter zu einer Gewalt wird, die dem Zuhörer im Hals stecken bleibt. Götz Wienold hat im Vorlesen eine Welt erschaffen, die beim Lesen nicht derart zustande kommt, und umso stärker nachwirkt. Die Schwere der Sprache macht die Schwere der Verbrechen an einem Jungen, der unschuldig war und ist, deutlich und fordert dazu auf, sich zu betätigen. Sich nicht der Gewalt – an jungen Menschen zu beugen – sondern sich gegen sie zu stellen. Sich zu äußern, nicht wegzusehen oder wegzuhören. Hinschauen, wahrnehmen, begreifen – und handeln.

Ein zeithistorisches Dokument, das den vielen anderen Opfern eine Sprache zukommen lässt, die dem Erduldeten Gehör verschafft und ein weiteres Bruchstück der frühen Jahre der Bundesrepublik hinzufügt, dass eingehender historisch aufgearbeitet werden muss.

Maria Borowski, IQN-Vorstandsmitglied


Einen weiteren Bericht über die Queer Lecture mit Götz Wienold, von Torsten Flüh, finden Sie hier.