Gedanken zum Tod des Journalisten und Autors Martin Reichert



Genügt es, wenn ein Mensch, ein Freund, ein Kollege stirbt, einen Nachruf zu formulieren und dann zurückzukehren in den Alltag? Aus Anlass des Todes von Martin Reichert hat unser Autor einen weiteren Nachruf verfasst. Denn es gibt noch viel zu sagen über Martin Reichert und seine Texte.


10. Juli 2023 | Von Jan Feddersen

In seiner Zeitung ist zu lesen, wie sehr seine Community, vor allem die in der taz, um ihn trauert: Martin Reichert hat sich Ende Mai 2023 in Berlin selbst aus dem Leben genommen. Nichts spricht dafür, buchstäblich kein Detail, dass er, aller Dystopie in seinem Kopf zum Trotz, dies nicht absichtsvoll ins Werk gesetzt hätte, sodass er auf keinen Fall beim Akt, der ihn in ein Nichts bringen sollte, zu leiden haben würde.

Er hinterlässt seinen Mann B., der verzweifelt das nicht zu Verstehende zu begreifen sucht. B. spielt, immer am Rand des eigenen Zusammenbruchs, die Musik der beiden, melancholische und immer auch dramatische Tonspuren, Annie Lennox hängt mir im Ohr, Adele auch, Lieder vom Balkan, Tina Turner natürlich: „Simply the Best“!

In der Fülle der Nachrufe und Erinnerungsschnipsel, in der taz wie auch bei seinem neuen Arbeitgeber, dem Spiegel, bei dem er im Februar 2023 im Kulturressort zu arbeiten begann, in kondolierenden Einträgen bei Facebook oder Twitter, ist selbstverständlich vom schwulen Mann Martin die Rede, er war ja nicht in the closet, im Gegenteil. Er hat für so gut wie alle Foren, Magazine und Onlineplattformen unserer Kreise geschrieben, 2018 gekrönt mit dem vielleicht bestrecherchierten Geschichte von Aids in Deutschland.

„Die Kapsel“ heißt das beim Suhrkamp-Verlag veröffentlichte Buch, eine so ergreifende wie gründliche Historie der schlimmsten – und über viele Jahre homophob aufgeladene – Epidemien, die die schwule Community seit den frühen Achtziger Jahren heimsuchen konnte.

 

„Gedöns mit Orientierung“

Ich habe Martin 2001 kennengelernt, als Redakteur der Wochenendbeilage der taz, dem damaligen taz.mag. Der junge Kollege, der mit einzelnen Texten, verfasst noch aus der Position des Studenten, zum journalistischen Ertrag der Zeitung beitrug, wollte in den Journalismus, oder wie er sagte: „Ich weiß ja sonst nicht, was ich mit meinem Studienabschluss machen soll.“ Geschichte und Kulturwissenschaften waren seine Fächer – aber Martin hätte auch ohne akademische Qualifikation den gleichen, höchst erfolgreichen, ja furiosen Weg ins Mediengewerbe geschafft und ihn dort bewältigen können.

Seine Spezialität als Journalist, „Gedöns mit Orientierung“, wie er mit seiner üblich süffisant-heiteren Art meinte, baute er aus: Er guckte nicht in die Nachrichtenagenturen und die politischen Fakten, sondern in die Welt schlechthin. Er konnte noch aus dem Umstand, dass junge Leute Umhängetaschen mit sich führen, sich einen Reim machen, später sogar ein erfolgreiches Buch: „Wenn ich mal groß bin: Das Lebensabschnittsbuch für die Generation Umhängetasche“.


Nachruf von Arno Frank auf Martin Reichert bei Spiegel Online | Screenshot: IQN


Was in den oft tränengesättigten, trauernden, wahrhaft wie noch unter Schock verfassten Texten nach seinem Tod allerdings unterging, war die schwule Welt, in der er lebte, die homosexuelle Perspektive, quasi das innere Motorbrummen des Martin Reichert selbst: Was trieb ihn im Innersten, diesen liebenswürdigen, hilfsbereiten und allzeit zugewandten Mann?

Das nämlich exakt waren Fragen, die sein hinter der öffentlichen Kulisse Befindliches betrafen – und mit Antworten zu diesen Fragen geizte er beinah umfassend. Sein Mann B. sagte, als noch alles auf dem Weg zum Besseren schien, besser: scheinen sollte, denn die psychische Krise dauerte schon einige Wochen: Sein Martin, der habe Angst. Furcht vor dem Versagen, dem Nicht-zu-Genügen, der persönlichen Zukunft und auch der Gegenwart schon – schlechthin.

 

taz2 und die Details des Alltags

Als wir uns kennenlernten, vor zwei Jahrzehnten, waren in der taz gerade redaktionelle Verhältnisse am Wachsen, die es ihm überhaupt ermöglichten, als Journalist zu arbeiten. taz2, die Gesellschaftsseiten jenseits des offiziell politischen Teils der Zeitung, waren die, wie manche bösartig bemerkten, „Spielplätze“ für solche, die politisch nix in der Birne haben. Nichts wäre falscher, denn in den Details des Alltags, des Gesellschaftlichen liegen Wahrheiten zum Politischen, die die oft hartlaibigen Politikberichterstattungen – die er freilich auch zu beherrschen lernte – ergänzten, mindestens dies.

In diesen Teilen unserer Publizistik schrieb er, in taz2 wie im taz.mag – kleinere Texte von stupender Kundigkeit, ja Brillanz, etwa auch in seiner Kolumne „Landmänner“, die aus heutiger Sicht wie ein Alarmanzeiger für die kommenden Ströme des Rechtspopulismus (auch) notierten, vordergründig aber lediglich oft lustig zu lesende Histörchen aus der Welt in den ländlichen Vorlandschaften Berlins schilderten, denn dort lebte er mit seinem ersten Mann.

Wir, in den ersten Jahren unserer Freundschaft in der Redaktion, bildeten einen „schwulen Raum“ in der Redaktion. Nicht, dass die linksalternative Tageszeitung taz auch ein homophob gewirktes Blatt gewesen wäre, das nur passager, womöglich aus Acht- und Achtungslosigkeit, aber in vielen Jahren waren selbst politisch hochbrisante Themen wie der Kampf für die Ehe für alle oder die Cancellung der Reste des Schandparagraphen 175 eher beiläufig wahrgenommen worden ), wenn überhaupt.

„Ehe?“, bemerkte eine frühere, durchaus feministisch orientierte Chefredakteurin einst, was für’n Unfug – wir Heteros wollen nicht mehr heiraten, und ihr wollt das unbedingt. Wir pflegten natürlich darauf zu erwidern, dass Heteros die Hässlichkeit antihomosexueller Haltungen nicht zu empfinden vermögen – aber sie konnte sich ja auf Kolleg*innen berufen, ebenfalls schwul oder lesbisch, die aus ideologischen, jedenfalls nicht politischen Gründen den Kampf für die Gleichstellung im Personenstandsrecht böse verkannten. (Und inzwischen, worüber wir sarkastisch lachten, selbst verheiratet sind, meist.)

Manchmal jedoch traf ihn eine Kritik böse, und er zeigte dies nicht. Er hatte vor vielen Jahren in Wien den schwulen Performer Hermes Phettberg interviewt, ein später in der Zeitung ergreifendes Dokument des Versuchs, einem schwulen Leben Auskünfte der Würde und Selbstwürdigung zu entlocken. Und was sagte ein heterosexueller Kollege in der Blattkritik vor großem Redaktionsforum, nachdem er das Interview in seiner Tonalität in die Tonne getreten hatte, durchaus auf Beifall des Kollegiats spekulierend, mit um Einverständnis heischendem Tremolo: „So etwas möchte ich nie mehr in der Zeitung lesen!“

 

Diese gewisse Aufgehobenheit

Martin Reichert und mir war dieser „schwule Raum“, durchaus mit Bezug auf die von uns verehrte politische Theoretikerin Hannah Arendt, sehr bewusst. Arendt hatte vor Jahrzehnten, darauf wies ihr Schüler, der schwule Begründer der Zeitschrift Stonewall, Michael Denneny hin, darauf beharrt, dass Jüd*innen in einem eigenen Raum lebten, leben müssen, darauf angewiesen, dass untereinander, in ihrer stigmatisierten Crowd, der politische Diskurs lebt, denn es geht ja immer (für sie zuallererst und zuletzt) ums Ganze: Wie überlebt man, missachtet und bisweilen brutal verfolgt, diese Atmosphäre der Unfreundlichkeiten und Entwertungen?

Lebte er noch, würden wir über den Text von Blake Smith diskutieren: Wie Hannah Arendts Ideen vom Zionismus half, den amerikanische gay identity zu beflügeln, also die Unruhen von „Stonewall“, die Unermüdlichkeit des Kampfs um öffentliche, sichtbare gesellschaftliche Teilhabe, ohne sich zu assimilieren, sich anzupassen, auf unsere Verhältnisse: schwul zu bleiben, nicht nur homosexuell.

Schwuler Raum, das meint eben diese gewisse Aufgehobenheit in einem ansonsten fremden Gefüge. Man konnte, nun ja, „schwul“ reden – rasch, smart, mit Wortwahlen, die durchaus bitchy sein konnten und nur im Zweifesfall sehr kalt und sehr bösartig. Über eine Kollegin, mittlerweile in den höheren Vierzigern, problematisch im Charakter (für uns, klar), sagte er mal: „Es ist erstaunlich, wie sehr es stimmt, dass die Persönlichkeitsentwicklung bei manchen mit der Pubertät ans Ende gekommen ist.“ Und lachten darüber!

Im Übrigen: Ich wusste, dass Martin mir immer loyal gegenüber sein würde – keine Selbstverständlichkeit, wie ich bei anderen (auch: schwulen, lesbischen) Kolleg*innen im Laufe der Jahre feststellen musste: Die Hand, die gab, im Gegenzug verratend und preisgebend zugunsten nickelig kleiner Vorteile – und ich ihm sowieso. Wir waren schwul, um mit Hannah Arendt, die dies für ihr Jüdisches so beantwortete: Ja, gucken Sie mich an – man sieht es doch. So wie uns das Schwule.

In diesem Raum konnten wir, was wir öffentlich nie taten, streiten. Immerhin. Wer mal in einer Gruppe als einziger Homo gearbeitet hat, wird wissen, was wir als Privileg hatten: einen schwulen Raum. Nicht allein sich fühlen. Doch different sein können. Und einig zugleich. Und verschieden in manchen Auffassungen. Und spontan einvernehmlich in der Wahrnehmung von Phänomen: Ist doch Quatsch, oder? – Ja, ist es. Ich lästerte gelegentlich: Sei nicht immer so versöhnlich!, Warum neigen gerade Schwule dazu, den offenkundigen Diss von Heteros (und Homos, oh ja) freundlich abzumoderieren?

 

Er traute den Liberalisierungen nicht

Ist es wirklich gut, dieser Hedonismus der schwulen Szene?, Dieser Sex an allen Ecken – und wofür steht eigentlich dieses dauernde Ungenügen mit der eben kennengelernten Person im Darkroom? Und stimmt nicht, was der schweizerische Psychoanalytiker Paul Parin 1985 in der Zeitschrift „Psyche“ als Beobachtung notierte: Dass Juden und Homosexuelle eint, so stellte er bei jüdischen Patienten und auch homosexuellen Patienten parallel fest, dass sie mit dem Gefühl lebten, nie festen Boden unter den Füßen zu haben, stets drohe Instabilität, immer ängstige, die Welt verschlinge einen, Flucht zwecklos? Er stimmte zu mit den Worten: „Geht es uns nicht auch so?“

Er traute, anders als ich, den Liberalisierungen, die queere Menschen in den vergangenen Jahrzehnten erkämpften, nicht. Manchmal stimmte er zwar zu, dass vieles errungen worden sei, Anerkennung, aber am Ende fürchtete er, fast mit jeder Phase seines Körpers, einen, wie er sagte „Backlash“ – eine Zeit, in der es wieder zwingend werde, sich klein zu machen, untertänig und versteckend.

Martin hätte niemals die schwule Szene, zumal die Metropole wie in Berlin nicht, für ihre umfassende Rauschwunsch-Anfälligkeit kritisiert. Einmal merkte ich an, als er schrieb, die Schwulen hätten sich 1969, als der Paragraph 175 in seiner Nazifassung ins Gewöhnlich-Homophobe, aber immerhin nicht mehr Strafbare für Volljährige reformiert wurde, das Recht erkämpft, Sex zu haben, dass das nicht stimmt. Homosexuelles Begehren wurde unter allen staatlichen und gesellschaftlichen Umständen gelebt worden – sonst wäre es ja etwa im Nationalsozialismus oder in den Nachkriegsjahren den Polizeien nicht gelungen, so viele unserer Vorfahren zu ‚erwischen‘, ihrer für ein Strafverfahren habhaft zu haben. Was die allermeisten Homosexuellen gleich welchen Geschlechts wollten, sei ganz klar: In Ruhe gelassen, nicht behelligt werden – ihre Art der Normalität ermöglicht bekommen. Er erwiderte, das sei ein karges Reformprogramm, und ich wiederum: Das ist ein höherer Berg, als wir, die wir eine bessere Welt wollen, uns vorzustellen vermögen. Aber das nur nebenbei vom Diskurs im „schwulen Raum“ …

 

Schwuler Selbsthass unnötig

So oder so: Er wollte, so stand es für ihn zur Wahl, nicht schreiben, dass die Exzesse, die hochfrequente Sexualisierung problematisch sein könnte – denn das hätten auch die Konservativen, die Homohasser gelesen und dies als Beweis für ihre Aversionen genommen. Und er hätte auch nie, viel zu nah womöglich an ihm selbst dran, über das geschrieben, worüber die schwule Szene in all ihren Nischen nie spricht: Einsamkeit, konkrete, im Einzelfall des Tages – oder auch genereller, dieses Gefühl, allein zu sein, nicht umgeben von Behütung und Aufgehobenheit. War es das, was für ihn selbst ein Tabu war, ja, sein musste: Das Gefühl von Weltverlorenheit?

Er war lieber als unermüdlicher Familienaufsteller unterwegs, weniger in den Mainstreamschuppen der Szene, bei den Coolen, wenn er es nicht zuhause aushielt und das Leben draußen viel spannender fand – und Leute kennenlernte, die durch ihn ein kleines, aber wichtiges Stück wärmer, aufgetauter wurden: Martin konnte ihnen vermitteln, dass schwuler Selbsthass nicht nur nicht lohnt, sondern ganz unnötig ist. Seine Mission – tragischerweise muss man schreiben: – war die Vermittlung, auch: die Familienaufstellung, immer mit dem Hinweis versehen, die andere Seite zu beachten. Was er suchte, war Heimat, ein Aufgehobensein, ein sicherer Grund auf der Welt. Das alles suchte er, indem er ging, immer eine Spur im Unruhigen, im eiligen Schritt, im Move stets fast forward.

Sein Herz hatten immer die Unfertigen, die (mit sich) Ringenden, die Verzweifelten, die er hinter lächelndsten Mienen erkannte, die ein Charles-Aznavour-haftes „Et pourtant“ anstimmen würden – und hier besonders die muslimischen, arabischen, türkisch oder jugoslawisch geprägten jungen Männer.

 

Felix-Rexhausen-Preis

Er war null abonniert auf Jugendlichkeit, sein erotisches Sprühen galt den Welpen, für die die Welt noch wenig Antworten, aber viele Fragen offenhielt. Kein Zufall, dass er sich in den schwulen Undergrounds des Irak im Nachkrieg aufhielt und dort, hoffentlich, Zuversicht stiftete – oder in Beirut, wo er über das (nicht gerade fromme) Nachtleben berichtete, er mittendrin, anteilnehmender Reporter. Später, 2006, erhielt er für eine Geschichte „Adieu Habibi“ den Felix-Rexhausen-Preis zuerkannt, zurecht. Das war zu der Zeit, als wir öfters über Israel – von ihm wie von mir geliebtes, faszinierendes Land – sprachen: Die Jüd*innen haben sich in diesem ihren Land einen Safe Space geschaffen, immer bedroht, militärisch hochgerüstet bewacht … Warum sollten es dies nicht für Schwule gelten? Für Lesben, für trans Menschen?

Eine Art Israel des Regenbogens, und dabei fiel uns, glamourverliebt, wie er auch war, natürlich ein: Monte Carlo! Minutenlang phantasierten wir, wie dieses Monaco aussähe, wäre es eine Art queeres Israel. Martin sagte bei dieser Gelegenheit: „Mit der Zeit könnte es eng werden, aber dann nehmen wir Nizza dazu.“ Ich darauf: „Okay, aber San Remo wäre auch noch schön.“ Woraufhin wir auf Youtube italienische Schlager suchten, in San Remo vorgetragen, beim Festival im Frühjahr dort, gern die Sängerin Mina mit ihrem melancholischen „Se telefonando“.

Was mir nur schemenhaft klarer wurde über all unsere Jahre der Freundschaft – mit allen Hochs und Tiefs – war, woher seine Energie rührte. Lag es daran, dass er mit seinem Schwulsein eigentlich extrem haderte? Dass er, Jahrgang 1973, sein Coming-out später als andere begann, zunächst ja in Heteroverhältnissen lebend, weil es für ihn ein Horror war, in Wittlich an der Lieser (Moselland!, nicht an der Mosel) womöglich der Aussätzige zu sein? Lag es an den elterlichen, väterlichen und mütterlichen Wünschen, in ihm, den Sohn mit besten akademischen Zukunftsaussichten, den ersten in der Familie, nur den heterosexuell Orientierten sehen zu wollen? Dass, typisch, ein schwuler Sohn ein Versager, ein Verräter an den Eltern ist?

Er bemerkte einmal, und meine Erfahrung sagte mir das Gleiche: Es sei normal, ja, typisch, dass Schwule über ihre Coming-outs reden können, aber so gut wie niemals über die drei bis fünf Jahren davor, wenn alles niederdrückt vor ungewisser Seelenzukunft, wenn das, wie Sigmund Freud gesagt hätte, das „Triebschicksal“ eine unhintergehbare Wahrheit ausmacht, dies aber nicht beherzt und mit Liebesfähigkeit beantwortet werden kann, zunächst?

 

Berlin, sein Asylort

Hannah Arendt berichtete im berühmten TV-Gespräch mit Günter Gaus über ihre antisemitischen Umstände als Kind, sinngemäss: Sie habe sich nicht geschämt, Jüdin zu sein – die Scham kroch auch nicht in sie hinein ob der damals üblichen antisemitischen Haltungen. Ihre Mutter habe jedoch von ihr verlangt, sich gegen Gleichaltrige in Konflikten auch durchzusetzen, nur bei Lehrern sei ihre Mutter eingeschritten, ihre Tochter schützend. Der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker bemerkte zu dieser ikonischen Stelle des Gesprächs Hannah Arendts: Die Jüdin konnte psychisch die antisemitischen Attacken aushalten, weil sie im Elternhaus behütet war – der schwule Heranwachsende aber kann sich auf diesen elterlichen Schutz prinzipieller Art nicht verlassen: Der schwule Mann vor dem Coming-out weiß, dass er – oder sie, im lesbischen Fall – auf der Welt ganz allein ist, wenn schon die Eltern nicht an der Seite stehen. Allein ist – und sehr oft, ja meist bleibt.


Nachruf auf Martin Reichert von Jan Feddersen bei taz.de | Screenshot: IQN


Er war, so versuche ich es zu begreifen, in Berlin, seinem Asylort, auf der Suche nach Heimat. Und fand sie persönlich und sehr konkret in seinem ihn liebenden Mann B., den er vor einigen Jahren, beinah ohne jede Wahrscheinlichkeit, das Berliner Szeneleben ermöglicht kaum Momente des Verweilens und Innehaltens, kennenlernte, ja, der quasi wie ein Glück ins Leben geweht wurde. Beide lernten die Segnungen eines ruhigeren Lebens kennen, ja, sie bauten sich in Berlin, später in B’s Heimat Slowenien, dort in Koper an der Adria, Nester, ihre gemeinsamen Orte. Wie Martin mir vor Jahren, gerade hatte er seinen Liebsten ‚erkannt‘ erzählte: „Er brachte mir geschnittenes Obst ans Krankenbett. Geschnittenes Obst!!“ Und ich lachte vor Glück ein wenig mit ihm mit. Es war, so zitierte er das Lied leicht anträllernd, als sänge ihm Dahlia Lavi ein „Willst du mit mir geh’n?“

Nun denke ich an nichts anderes als an ihn. Hätten wir uns nicht endlich mal wieder treffen sollen? Hätten wir nicht nur en passent miteinander sprechen sollen, sondern, ganz unüblich in der Metropole wie Berlin, mal in einen Open-Space-Modus schalten sollen, nicht nur im „Ich muss gleich los“-Umstand? Lese ich die weinenden Nachrufe, könnte ich ihm, absurd, ich weiss, diese vorlesen, würde ich ihn fragen: Warum bist Du nie wütend geworden? Weshalb sind die Zumutungen, denen Du Dich öfters ausgesetzt sahst, nicht ein einziges Mal als solche zurückgewiesen worden? Was hindert Dich, mal so richtig aus der Haut zu fahren?

Alle Nachrufe, alle letzten Worte auf ihn sind von warmer Herzlichkeit, von Trauer umrahmt. Aber darf man sagen, dass Martin, so typisch für ihn, für alle ein Herz hatte, dass er sie beinah fürsorglich zu therapieren suchte – auch, um von sich nichts preiszugeben, von seinen Ängsten? Kannte man ihn wirklich? Mich beschleichen Zweifel: Was hast du uns nicht zeigen wollen, Martin?

 

Er konnte nicht mehr

Er war, vielleicht, auch eine „Kapsel“, so gut verschlossen, wie die Traumen von Aidsüberlebenden, die von Horror (sein Text zum 2. Coming-out von Conchita Wurst) befallen waren, weil sie als Aidsinfizierte öffentlichen Nachstellungen ausgesetzt waren – eventuell in dem Horror auch gespiegelt, dass sie selbst Aids, heute keine schöne, aber managebare Infektionskrankheit, die nicht mehr tödlich wirkt binnen kürzestem, als Strafe fürs Schwulsein empfanden?

Wütend werde ich, weil ich Martin übelnehme, sich in unserem „schwulen Raum“ meinen, ja, unseren Fragen nicht mehr zu stellen. Er konnte aber nicht mehr, ich muss das akzeptieren. Ist möglich, so ertappe mich ich bei meinen ewigen Grübeleien über ihn, die nur Mutmassungen sein können, dass die Entschlossenheit, mit der er seinem Leben ein Ende setzte, auch die wütendste Geste war, zu der er je fähig war – leider, tragischerweise gegen sich selbst?

Ich habe keine Mahnungen zu formulieren, Martins Tod macht keinen Sinn, schon gar keinen allgemein gültigen. Doch wäre es nicht lohnend, die Feier des Hedonistischen mal in ihren Epen zwischen den Zeilen zu lesen? Könnte es nicht Gewinn bringen, mal fundierter denn je die liberalen Zeiten und ihre fatalen Voraussetzungen, Elternhäuser, die schwule oder lesbische oder trans Kinder eher nicht so mögen, unter die Lupe zu nehmen? Und langweilt die zeitgenössische Forschung zu Schwulem und Lesbischem auch deshalb, weil diese partout nicht an die entscheidende Konstellation in ‚queeren‘ Leben heranwill: in die der Familien, den Gehegen, in denen wir groß wurden, in denen uns beigebracht wurde, bis in die letzte Zelle, dass Schwules oder Lesbisches nicht erwünscht ist?

Ist queere Forschung, so mutmaßte Martin mal, nicht im Mainstream ein hochsubventioniertes Ablenkungsmanöver, um sich den naheliegenden Fragen nicht zu widmen: Die Genese tief wurzelnder Homophobie in unseren Familien, wo die Unerwünschtheit unserer Liebesfähigkeit und unseres Begehrens fein mit rötesten Linien markiert ist?

Er liebte, er wurde wiedergeliebt, aber das reichte nicht für ein Leben, das ihm noch sehr gut möglich gewesen wäre. Stehen wir seinem Witwer, seinem Liebsten B. bei. Er ist nun verzweifelter, als es Martin je gewollt haben kann. |


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Titelbild: Unsplash/Yannis Papanastasopoulos