Emily Lau würdigt lesbische Beiträge im Jahrbuch Sexualitäten 2024

Am 5. Juli wurde das Jahrbuch Sexualitäten 2024 in der taz Kantine präsentiert. Emily Lau, eine „junge Lesbe alter Schule“, wie sie sich selbst nennt, hat alle lesbischen Beiträge im Jahrbuch gelesen und stellt sie uns vor. Wir dokumentieren ihre Rede zum Nachlesen im Blog.

Die Reiseanbieterin für lesbische Kreuzfahrten, Olivia Travel (Foto: Screenshot)

17. Juli 2024 | Emily Lau

Ich darf heute Patin der lesbischen Fraktion des diesjährigen Jahrbuchs sein und wir gehen wie immer direkt ans Eingemachte bzw. in Lesbias Res

Waren Sie schon mal in einem „SLINTA Darkroom“? Nein? Die Queer Lecture im diesjährigen Jahrbuch Sexualitäten von Chantalle El Helou erspart Ihnen diesen Gang.  Das „S“ in SLINTA ersetzt das „F“ im herkömmlichen FLINTA. „F“ stand dabei für „Frauen“. „S“ steht nun für „sapphisch“, was so viel heißen soll, wie sich unabhängig vom eigenen Geschlecht zu irgendeiner wabernden Weiblichkeit hingezogen fühlen. Der Tausch dieser Buchstaben ist für die Autorin symptomatisch für das queersexistische Fundament, das diesen erst herbeiführen konnte.

Queerer Sexismus

In der Lecture geht es der Politikwissenschaftlerin Chantalle El Helou darum, zu erörtern, warum Lesben eigentlich nicht viel von “queer” zu erwarten haben. Lesben – damit sind Frauen gemeint, die andere Frauen begehren. Und wir reden hier nicht von der Idee einer Frau, sondern von einer faktischen Frau mit all ihren herkömmlichen Erhebungen und Vertiefungen. Aber vom eigenen Geschlecht aus soll man niemanden begehren. Es soll maximal von der eigenen Identität aus passieren.

„How to sapphisch lieben“ nach Butler und Sabine Hark? Oder was ist eine gute Lesbe? Die Queertheoretiker*innen wissen, dass die Frau nur in der heterosexuellen Matrix, als das sich zum Mann konstituierende Andere existiert. Dadurch wird der Lesbe bei Butler zugeschrieben jenseits der Kategorie des Geschlechts zu stehen. Allein weil sie die Heterosexualität ablehnt, stelle sie sowohl das anatomische Geschlecht als auch die Geschlechtsidentität radikal in Frage. Butler entlarvt sich an dieser Stelle als höchst unbewandert in echtem Sapphismus. Ließe man sie einmal in den Kopf einer TÜV-geprüften Lesbe gucken, wüsste sie, wie affirmativ repräsentiert dort gerade die knallharte Anatomie ist. Kfz-Werkstätten und Butch-lesbische Sexualität sind übrigens auch gar nicht so weit voneinander entfernt. Aber dazu ein anderes Mal mehr.

Jedenfalls schlafen nach Butler die Lesben nicht mit dem Körper einer Frau, sondern maximal noch mit dekonstruierten Einzelteilen. Also wer da nicht direkt Lust bekommt. Und das alles täten sie selbstlos im Namen der großen Mission, also der Unterwanderung der Heteronorm – immer schön solidarisch bleiben.

Emily Lau spricht auf der Release-Party am 5. Juli 2024

Sexualität wird auf Identität reduziert

Echtes Lesbischsein ist damit nach Butler und Hark noch viel schlimmer als Hetentum. Heten tun wenigstens nicht, als seien sie subversiv. Eine gute queere Lesbe muss sich offen halten so ziemlich alles zu repräsentieren. Lesbischsein muss also eine Frage bleiben. Das, so stellt El Helou so treffend heraus, ist das Gegenteil von Selbstbehauptung und Selbstbewusstsein. Die Gebungsart, die queer von Lesben verlangt ist übrigens eine herkömmlich weibliche, die die langjährig unsichtbaren und unsicheren Lesben dahin zurückdrängt, wo sie hergekommen waren. Nämlich zurück in den Closet. Denn queertheoretische Überlegungen legen nahe, dass Sexualität nur noch als Identität und damit als selbstversichernde Herrschaft über den anderen denkbar ist. Dadurch erscheinen exklusiv lesbische Räume – Räume der weiblichen Körper, Räume, in denen, wie El Helou sagt, die Sexualität in Homosexualität hervorgehoben ist – als Bedrohung. Sexualität ist als Mittel der Dekonstruktion erlaubt. Rein genital ist sie ausgrenzend und machthaberisch. Diese feine, hier nur angerissene Analyse von Chantalle El Helou lohnt sich sehr, da es eine Kritik an Butler durch Butler ist.

Es gilt, letzten Endes, als exkludierend und „-phob“, wenn man darauf verzichtet sich Penisträger*innen ins Bett zu holen, obwohl es, lassen Sie uns lesbisch ehrlich, ehrlich lesbisch oder wie es im englischen heißt lesbi-honest, es sich um exakt das Accessoire handelt, das in der Begehrenslogik weiblicher Homosexualität nichts zu suchen hat.

Solltet ihr also eingeladen werden zu einem „SLINTA-FLINTA-Abend“, hier ein paar Trigger-Warnings, die sich aus der Erfahrung von Chantalle El Helou ergeben: Es erwartet euch ein sich als hypersexuell befreit gebender Raum, mit Emo-Runden voller Pflicht- und Schuldbewusstsein bezüglich der eigenen so schrecklich mächtigen Triebstruktur sowie intersektionale Masturbationsrunden, die sich letztlich um einen erigierten Phallus versammeln. Also ich glaube, ich habe an dem Abend schon was vor…

Luise F. Pusch und ihr schwerer Weg zum Coming-out

So, da wir eben die Gegenwart ein wenig aufgeräumt haben, können wir uns jetzt getrost einem Stückchen lesbischer Geschichte widmen.

Luise Pusch, Urmutter der feministischen Linguistik und Erfinderin der Gender-Pause, erzählt im Interview mit Jan Feddersen davon, was es bedeutet als junge Lesbe der 50er Jahre bis zu 25 Jahren in Unsichtbarkeit gelebt zu haben. Wenn sie da so drüber spricht, klingt es wie eine unerträgliche und prägende Zeit, in der man sich an die wenigen Überlebenshilfen klammert, die man findet.

Für Luise Pusch war es zum Beispiel “Frauen in Uniform” – ein Film mit Romy Schneider und Lilli Palmer. Überlebenshilfen gab es in den homophoben Jahren der 50er-80er in Deutschland jedoch nicht für alle. Sonja, Die damalige Partnerin von Luise Pusch beging Suizid. Dieser Schlag brachte Pusch dazu, Sonjas und ihre tragische Lebens- und Liebesgeschichte und damit die Geschichte von vielen der unsichtbaren Lesben aufzuschreiben. Das Buch brachte sie 1981, 5 Jahre nach Sonjas Tod, unter dem Pseudonym  Judith Offenbach heraus. Zunächst so, da sie um ihre wissenschaftliche Karriere fürchtete. Zwei Jahrzehnte später erst, gab es eine Neuauflage unter Klarnamen. Mit “Sonja” stellte Luise Pusch ihrer lesbischen und schwulen Nachwelt nun die Überlebenshilfe, die sie damals vielleicht selbst gebraucht hätte. Das Ganze ist so schmerzlich wie ermutigend.

Luise Puschs langes Leben im Versteck mag dazu beigetragen haben, aus der Not eine Tugend zu machen. Ihr ganzes Leben widmet sie bis heute dem Kampf der Sichtbarmachung von Frauen. Frauen sollten nicht mehr im generischen Maskulinum begraben werden und die Rhetorik ist, wie wir wissen, keineswegs übertrieben und keineswegs nur eine Metapher. Also wer mehr von dieser Pionierin im lebhaften und detailgenauen Gespräch mit Jan Feddersen hören möchte, darf sich das neue Jahrbuch nicht entgehen lassen!

Emanzipation in den feministisch bewegten 70er Jahren

Und alle, die sich innerhalb der letzten Minuten in Luise Pusch schockverliebt haben, die muss ich leider enttäuschen. Denn wie der im Jahrbuch anschließende Beitrag auf schicksalshafteste Art darlegt, ist sie glücklich und vergeben. Der Beitrag ist nämlich von Luise Puschs Ehefrau Joey Horsley. Er trägt den Namen „Unchained Melody“. Ein Lied, Sie alle kennen es, das von einsamen Flüssen und hungrigem Warten handelt.

In ihrem Beitrag erzählt uns Joey Horsley, Professorin für Germanistik und Women’s Studies, von ihren Jahren als jungenhaftes Kind, ihrer Pubertät und Collegezeit, in der sie zur gesellschaftlich anerkannten heterosexuellen Frau “avancierte” und schließlich ihrer Ehe mit Don. Und nein, Don war nicht der Kose-Name ihrer Butch-Ex-Wife. Sie heiratete einen Mann nach dem College, denn ihre Heterosexualität hatte sie nie hinterfragt. Joey Horsley berichtet davon, dass sie zwar nicht unglücklich war, aber die ganze Sache mit der Ehe und den Kindern eher als engagiert angegangenes Gruppenarbeitsprojekt gesehen wurde.

Dann kam mit den 70er Jahren plötzlich die feministische Welle, die Joey Horsley mitriss und ihren einsamen Fluss in die offenen Arme des lesbischen Meeres trieb. Sie war plötzlich so inspiriert von den Frauen, dass sie in ihren Vorlesungen glühend die Gedichte von Sappho vortrug. Sie wusste es selbst noch nicht, aber einige ihrer lesbischen Studentinnen nickten sich bereits wissend zu.

Ich will das Kennenlernen von Joey und Luise jetzt nicht komplett vorwegnehmen. Nur das möchte ich noch gesagt haben: es muss sich angefühlt haben wie ein Epochensprung. Joey Horsley wollte Luise Pusch nämlich als Gastautorin für ihre Konferenz in Boston beherbergen. Sie holte sie am Bahnhof ab, sah sie und fragte vorsichtig: „Warten Sie auf jemanden?“ Und Luise Pusch antwortete: „Ich warte auf Joey Horsley!“ Einen Satz, den beide heute noch gerne wiederholen, als erstes Zeichen für ihre gemeinsame Vorherbestimmtheit.

Lesbische Kreuzfahrt als Fotoromanza

Der letzte Beitrag, sozusagen das Grand Lesbian Finale im neuen Jahrbuch, erscheint in Form einer Fotoromanza. Es geht um eine lesbische Kreuzfahrt! Das Motto der einsamen Flüsse zieht sich also durch! Wenn die Lesben schon keine herkömmlichen Cruising Areas wie die Schwulen für sich beanspruchen können, dann sollen sie doch wenigstens über den Ozean cruisen dürfen. Allein das Gleiten auf den Wellen lässt sich hier schon als lesbisches Fundament der Reise verstehen.

In diesem außergewöhnlichen Beitrag des Jahrbuchs beschreibt Wiebke Hoogklimmer, eine deutsche Altistin und Musiktheaterregisseurin, ihre Reise mit “Olivia Travel”, einem Reiseunternehmen, das Kreuzfahrten anbietet, die sexclusiv lesbisch sind. Man merkt dem Stück an, wie erleichternd und gut es sich angefühlt haben muss einfach nur unter sich gewesen zu sein, nicht das kleine Schwarze zum Dinner tragen zu müssen und niemanden durch das eigene Auftreten zu irritieren, sondern sogar zu begeistern.  Also ich wünsche allen Lesben aber auch den SBTIQ + FLINTAs und ja, auch den SLINTAS da draußen, dass wir so etwas wie „Olivia Cruise“ entweder mal live erleben oder zumindest als Geisteszustand in unser Leben integrieren!

Denn was durch diese Kreuzfahrt ganz klar wird und im Grunde all die lesbischen Texte des Jahrbuchs eint, ist, dass lesbische Freizügigkeit keineswegs eine Selbstverständlichkeit war und ist. Daher: lasst uns unverschämt und zusammen dafür einstehen! Und damit wünsche ich euch einen Happy Pride. Wir sehen uns beim Dyke-March!

Emily Laus Rede auf YouTube anschauen:


Emily Lau studierte im Bachelor Psychologie, im Oktober 2024 wird sie ihr Masterstudium am Zentrum für interdisziplinäre Antisemitismusforschung der TU Berlin beginnen. Sie schrieb bereits im „Zeit Magazin“ zu queeraktivistischen Belangen und war für das Jahrbuch Sexualitäten auch 2022 schon als Erstleserin unterwegs.


Jahrbuch Sexualitäten 2024

Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von Jan Feddersen, Marion Hulverscheidt und Rainer Nicolaysen.

Mit Beiträgen von Marko Martin, Thomas Großbölting, Vojin Saša Vukadinović, Blake Smith, Tae Ho Kim, Björn Koll, Martina Lenzen-Schulte, Chantalle El Helou, Aaron Gebler, Sigi Lieb, Joey Horsley, Luise F. Pusch, Jan Feddersen, Clemens Schneider, Manuel Schubert, Meike Lauggas, Michael Wunder, Till Randolf Amelung, Adrian Daub, Marion Hulverscheidt, Wiebke Hoogklimmer, Richard F. Wetzell, Thomas Weber, Norbert Finzsch, Norman Domeier und Ketil Slagstad.

294 S., 22 z.T. farb. Abb., geb., Schutzumschlag, 15 x 22,3 cm, ISBN 978-3-8353-5725-9

Preis: € 34,00 (D) / € 35,00 (A)

Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.