Der Bundestag stimmt am Freitag über das Selbstbestimmungsgesetz ab
Kommt das Selbstbestimmungsgesetz nun doch, nach vielen Momenten der Ungewissheit? IQN-Redakteur Till Randolf Amelung hält dieses Gesetz für einen schweren Fehler, der die Akzeptanz von Transpersonen beschädigt und Frauen und Jugendliche gefährdet.
12. April 2024 | Till Randolf Amelung
Was soll anders werden? Künftig können Volljährige für diese Änderungen eine Erklärung auf dem Standesamt abgeben – ohne Nachweis, ob auch wirklich Transsexualität der Grund ist. Minderjährige ab 14 Jahren sollen die Erklärung zusammen mit den Eltern abgeben. Für unter 14-Jährige liegt die Verantwortung dafür sämtlich bei den Eltern. Dazu soll bei Minderjährigen noch ein Nachweis vorgelegt werden, dass sie eine Beratung erhalten haben.
Gegen Ende vergangener Woche kamen Gerüchte auf, dass die Ampel-Koalition sehr bald einen neuen Anlauf zum Durchbringen des Selbstbestimmungsgesetz wagen wolle. Am Dienstag bestätigte es sich – die Bundesregierung will tatsächlich diesen Freitag über dieses hochumstrittene Gesetz in zweiter und dritter Lesung im Bundestag abstimmen. In einer Hauruck-Aktion wurde das Gesetz am Mittwoch mit letzten Änderungen im Familienausschuss vorgestellt und dort durchgewinkt. Die CDU/CSU ist gegen dieses Vorhaben und änderte ihre Position nicht.
Mit diesem Gesetz würde das über 40 Jahre alte Transsexuellengesetz abgelöst, welches von Transaktivist*innen als „Menschenrechtsverletzung“ gewertet wird. Der Grund sind die noch obligatorischen unabhängigen zwei Gutachten und ein Verfahren über das Amtsgericht, die Voraussetzung sind, damit man Vornamen und amtlich registrierten Geschlechtseintrag ändern lassen kann.
So viel steht fest: Transaktivist*innen und der grüne Queerbeauftragte Sven Lehmann wollten ursprünglich, dass schon 14-Jährige ohne Einwilligung der Eltern ihren Geschlechtseintrag wechseln können. Das war jedoch mit dem Koalitionspartner FDP nicht zu machen, vor allem Bedenken hinsichtlich ausreichender Schutzvorkehrungen bei Minderjährigen waren dafür ausschlaggebend. Wahrscheinlich wurde nun deshalb der Nachweis einer Beratung bei Minderjährigen ergänzt. Gerade aus FDP und SPD gab es immer wieder Bedenken, die den Fortgang bei diesem Gesetzesvorhaben seit Vorstellung der Eckpunkte 2022 immer wieder bremsten. 2023 hatte zum Beispiel Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) Bedenken des Bundeskriminalamts eingebracht, dass das Selbstbestimmungsgesetz Straftäter*innen das Untertauchen oder das ‚Verschwinden‘ in den Sicherheitsdatenbeständen ermögliche. Daher wurde zunächst in den Entwurf reingeschrieben, dass eine erfolgte Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags an die Sicherheitsbehörden gemeldet werden müsse. Dies wurde nach Einwänden des Datenschutzbeauftragten und Beschwerden der Aktivist*innen wieder zurückgenommen.
Probleme bleiben bestehen
Die eingebrachten Änderungen am Entwurf lösen das Grundproblem am Selbstbestimmungsgesetz nicht. Volljährige dürfen weiterhin ohne jeden Nachweis ihren amtlichen Geschlechtseintrag ändern. Es gibt keine Maßgabe, wie Standesbeamten mit Selbsterklärungen umgehen können, bei denen erhebliche Zweifel an der Seriosität bestehen. Auf dieses Problem hat zum Beispiel auch die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände in einer Stellungnahme hingewiesen. Unlängst konnte man in Spanien sehen, dass Gesetzeslücken auch tatsächlich genutzt werden. Dort gibt es seit letztem Jahr ein Selbstbestimmungsgesetz. Nun wurde bekannt, dass in der Enklave Ceuta mehrere Soldaten ihren amtlichen Geschlechtseintrag von männlich auf weiblich geändert haben, um in den Genuss von Maßnahmen zur Frauenförderung zu bekommen. Dazu gehört auch ein höheres Gehalt.
In den Niederlanden plante man ein ähnliches Gesetz, jedoch wird dieses Vorhaben jetzt offenbar fallengelassen, weil sich die Probleme mit einem rein selbstbestimmten Verständnis von Geschlecht, ohne objektivierbare, konsistente Definitionen nicht aus dem Weg schaffen lassen (IQN berichtete).
Das Problem des fehlenden Nachweises verschärft sich noch dadurch, dass der heutige Transbegriff stark verwässert und aufgeweicht ist. Wenn es nach Aktivisten geht, soll die Selbstäußerung über das Geschlecht gar nicht mehr hinterfragt werden. Ein objektivierbares, wissenschaftsbasiertes Verständnis von Geschlecht wird vehement abgelehnt, was auch die queeraktivistischen Attacken auf die Biologie immer wieder zeigen (IQN berichtete).
Rahmenbedingungen, wie ein unscharfes Begriffsverständnis machen es umso wahrscheinlicher, dass Gesetzeslücken ausgenutzt werden. Doch dies wird von Verantwortlichen aus der Ampel-Koalition und von Transaktivist*innen stets abgestritten, obwohl einige Frauen vehement auf die Risiken für ihre Schutzräume hinweisen. Insbesondere auf Bereiche wie zum Beispiel Umkleiden, Toiletten oder Pflegesituationen. Da dies so sensible Bereiche sind, reichen bereits wenige Missbrauchsfälle oder nur strittige Fälle aus, um Unruhe zu bringen und Vertrauen zu zerstören. Dadurch kann bisher erreichte Akzeptanz von Transsexuellen gefährdet werden.
Risiken für Minderjährige
Der ergänzte Passus des Nachweises über erfolgte Beratung zeigt, dass zumindest Risiken für Minderjährige von den Gestaltern dieses Gesetz nicht mehr in toto ignoriert werden können. Bei einer solchen Beratung muss aber sichergestellt werden, dass es eine tatsächlich ergebnisoffene und nicht nur rein affirmative Beratung ist. Dennoch bleibt der Eindruck, dass die Bundesregierung gerade die Augen davor verschließt, dass vor allem bei Kindern und Jugendlichen die internationalen Entwicklungen zu mehr Vorsicht gemahnen (IQN berichtete).
Der gender-affirmative Ansatz, der neben einer zügigen medizinischen auch eine ebensolche soziale Bestätigung der Geschlechtsidentität empfiehlt, hat eine wacklige Evidenzbasis. Am Mittwoch wurde in Großbritannien der Abschlussbericht des sogenannten Cass Reviews veröffentlicht, der sich mit dem Gender Identity Developement Service (GIDS) der Londoner Tavistockklinik befasst hat. Diese Untersuchung wurde vom National Health Service (NHS) 2020 noch während des Gerichtsverfahrens von Keira Bell beauftragt. Bell war selbst minderjährige Patientin im GIDS, durchlief eine vermännlichende Transition und stellte später fest, dass dies ihre Probleme nicht löste. Doch im GIDS wurden ihr keine anderen Möglichkeiten aufgezeigt als eine Geschlechtsangleichung.
Im Abschlussbericht des Cass Review wird die schwache Evidenz für den gender-affirmativen Ansatz nochmal hervorgehoben. Die Bundesregierung erwidert auf Kritik zwar stets, dass das Selbstbestimmungsgesetz keine medizinischen Maßnahmen regele, aber damit macht es sich die Regierung zu leicht. Der Cass Review stellt auch heraus, dass bereits die soziale Transition, zu der auch die Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags gehört, eine mächtige Intervention ist und die Weichen für medizinische Transitionsschritte stellt. Eine Beratung muss diese neuesten Erkenntnisse und Entwicklungen unbedingt berücksichtigen.
Verhinderung des Gesetzes noch möglich
Sollte der Entwurf am Freitag tatsächlich durch den Bundestag gehen, hat das Selbstbestimmungsgesetz eine wichtige Hürde genommen. Allerdings kann noch ein Normenkontrollverfahren beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe beantragt werden. Laut „Juraforum“ wird mit einem Normenkontrollverfahren die Rechtmäßigkeit von Rechtsnormen innerhalb der deutschen Rechtsordnung geprüft. Antragssteller können Gerichte, die Bundes- oder Landesregierungen sein. Ein solches Verfahren könnte das geplante Inkrafttreten zum 1. November 2024 verzögern.
Welchen Ausgang es heute auch immer nimmt: Dieses Gesetzesvorhaben hat für eine vermeidbare Polarisierung gesorgt, und es ist zu hoffen, dass sich diese nicht durch Missbrauchsfälle weiter verstärkt.
Im Jahrbuch Sexualitäten 2023 ist der Text „Körperloses Geschlecht – LSBTTIQ auf dem Irrweg“ von Monika Barz erschienen. Darin erklärt sie, warum sie gegen eine Entkopplung des Geschlechtsbegriffs vom Körper ist. Der Essay ist als PDF kostenlos verfügbar.
Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog. Im November 2023 war er als Sachverständiger im Familienausschuss zum Selbstbestimmungsgesetz angehört worden.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.