Kategorie: Allgemein

ATHENA – Neuer Think Tank gegen Entbiologisierung von Geschlecht

International hat sich seit der Veröffentlichung der Yogyakarta-Prinzipien 2006 ein Geschlechtsverständnis als Paradigma etabliert, das Identität und nicht Biologie als zentral erachtet. Vor allem über internationale Institutionen wie die Vereinten Nationen, Europäische Union und Europarat wurde dieses Verständnis seit mittlerweile zwanzig Jahren etabliert. ATHENA, ein neugegründeter Think Tank mit der Österreicherin Faika El-Nagashi an der Spitze, kritisiert diese Entwicklungen.

Porträtfoto von Faika El-Nagashi, der Gründerin des neuen Think Tanks ATHENA.
Neues Projekt: Faika El-Nagashi baut den Think Tank ATHENA-Forum auf (Foto: ATHENA-Forum)

5. Oktober 2025 | Till Randolf Amelung

Faika El-Nagashi, ehemalige österreichische Nationalratsabgeordnete für die Grünen, hat sich wegen unvereinbarer Standpunkte zu Geschlecht und zu Transthemen im Besonderen mit ihrer ehemaligen Partei überworfen. Während auch die österreichischen Grünen wie ihre deutsche Schwesterpartei bei Geschlecht auf die Selbstdefinition qua Identität setzen, gehört El-Nagashi in Österreich zu den wenigen öffentlichen Verteidigerinnen der Relevanz biologischer Tatsachen – vor allem für Frauen. Ebenso warnt sie beständig vor den Risiken gender-affirmativer Behandlungen bei Kindern und Jugendlichen.

Nachdem die österreichische Aktivistin schmerzlich erfahren musste, bei den Grünen mit ihren Standpunkten nicht mehr willkommen zu sein, hat sie nun zusammen mit anderen „ATHENA – a european initiative for sex-based rights, democractic values and political courage“ gegründet. Zu El-Nagashis Mitstreitern gehört auch Kurt Krickler, Mitgründer der HOSI Wien und Veteran der österreichischen Schwulenbewegung. Starthilfe gibt es aus Großbritannien von der Organisation Sex Matters.

EU als Schnittstelle

Zur Premiere von ATHENA legen El-Nagashi und ihre MitstreiterInnen einen Bericht vor, der die Europäische Union als wichtige Schnittstelle für die Verbreitung eines entkörperten und entbiologisierten Geschlechterbegriffs vorstellt. Die EU verstand sich von Beginn an auch als Bündnis für Menschenrechte, wie der Report erklärt:

„Die Europäische Union (EU) wurde nicht nur als Wirtschaftsbündnis gegründet, sondern auch als ein politisches Projekt, das auf den Grundrechten aufbaut. Zu ihren frühesten und am klarsten definierten Rechtsgrundsätzen gehört die Gleichstellung von Frauen und Männern, die erstmals 1957 in den EU-Verträgen verankert wurde, um gleiches Entgelt für beide Geschlechter zu gewährleisten. Im Laufe der Zeit wurde dieser Grundsatz auf die Arbeitsbedingungen, die soziale Sicherheit, den Zugang zu Waren und Dienstleistungen, den Mutterschutz und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ausgeweitet.“

Bezog sich „Geschlecht“ in den Dokumenten der EU zunächst auf das biologische Geschlecht, habe sich dies sukzessive hin zu Geschlechtsidentität geändert, den Entwicklungen in der Menschenrechtspolitik folgend. Ein bedeutender Umstand dafür sei laut El-Nagashi et al. die Übernahme des Begriffs „Gender“ in den 1990er Jahren gewesen. Damals habe sich der Begriff „Gender“ jedoch auf das soziale System ungleicher Machtbeziehungen zwischen den Geschlechtern bezogen, das in veralteten Stereotypen über das erwartete Verhalten von Frauen und Männern wurzelt, und nicht auf eine angeborene Identität, die von der biologischen Realität abweicht.

Ideologischer Begriffswandel

Seit mehr als fünfzehn Jahren habe sich in den europäischen Institutionen ein ernsthafter ideologischer Wandel vollzogen, der sich in einer veränderten Sprache, Konzepten, Politik und institutionellen Ausrichtung niederschlage.

Als wichtiges Dokument für die Interpretation hin zur Identität sehen die ATHENA-AutorInnen die Mitte der 1990er Jahre veröffentlichte „International Bill of Gender Rights“, die eine Gruppe US-amerikanischer Transaktivisten verfasst hat. In diesem Dokument plädieren die Aktivisten für die Ersetzung des biologischen Geschlechts durch ein inneres Gefühl der Geschlechtsidentität als Grundlage für rechtliche und soziale Anerkennung. Diese Interpretation habe in den folgenden Jahrzehnten an institutioneller Tragweite gewonnen – auch in der EU.

Für ATHENA ist dies ein fundamentaler Fehler:

„Gender Mainstreaming hat sich von der Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern auf die Förderung der Geschlechtsidentität und des Geschlechtsausdrucks verlagert; Konzepte, die nicht nur vage, sondern letztlich unvereinbar mit der Bedeutung und Funktion des geschlechtsspezifischen Schutzes. Wenn ‚Frau‘ alles bedeuten kann, bedeutet der Begriff letztlich nichts. In dem Maße, wie die Definitionen verschwimmen, verschwimmen auch die Mechanismen, die Frauen schützen sollen. Dienste, die für Frauen und Mädchen gedacht sind, wie z. B. Krisenzentren für Vergewaltigungen oder Sportwettbewerbe, stehen unter dem Druck, Gefühlen Vorrang vor der biologischen Realität einzuräumen.“

Die Institutionen der EU hätten, so ATHENA, LGBTI-Organisationen stark gefördert und ihnen damit eine intensivere Interessensvertretung ermöglicht. In den späten 2000er Jahren begannen transaktivistische Organisationen, den Europarat (CoE) als Anlaufstelle zu nutzen, um Geschlechtsidentität in internationales Recht und Politik einzubinden – mit Erfolg.

Menschenrechte und Geschlechtsidentität

Im Jahr 2008 berief der Menschenrechtskommissar des Europarats, Thomas Hammarberg, ein Expertentreffen mit transaktivistischen Organisationen ein, darunter ILGA-Europe und Press for Change UK. Wichtige Forderungen waren die rechtliche Anerkennung der Selbstidentität, den Zugang zu Dienstleistungen und institutionelle Reformen. Diese Forderungen wurden dann im 2009 veröffentlichten Themenpapier des Kommissars, „Menschenrechte und Geschlechtsidentität“ veröffentlicht und als Prioritäten innerhalb eines internationalen Menschenrechtsrahmens formuliert.

El Nagashi et al. weisen auch darauf hin, dass das maßgebliche Dokument für diese Prioritätensetzung die Yogyakarta-Prinzipien von 2006 sind, die von einer Gruppe international angesehener Menschenrechtsexperten und -expertinnen speziell zur Anwendung des bestehenden Völkerrechts auf sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität entwickelt wurden. In diesen Prinzipien wurde die Geschlechtsidentität als „eine tief empfundene innere und individuelle Erfahrung des Geschlechts“ definiert und diese Formulierung in den empfohlenen staatlichen Verpflichtungen, dem Verhalten der Medien und den Maßnahmen der Nichtregierungsorganisationen verankert. Im März 2007 wurden die Yogyakarta-Prinzipien auf einer Sitzung des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen (UN) offiziell vorgestellt, im November 2017 wurden sie um zehn Punkte erweitert.

Obwohl die Yogyakarta-Prinzipien rechtlich nicht verbindlich sind, haben sie nach ihrer Veröffentlichung im Jahr 2007 schnell an offizieller Bedeutung gewonnen. Sie wurden, wie beabsichtigt, zur leitenden Interpretationshilfe, wie Menschenrechte für LGBTI zu beurteilen sind. Im Jahr 2009 verwies der Menschenrechtskommissar des Europarats im oben erwähnten Themenpapier auf sie und forderte die Mitgliedstaaten des Europarats auf, ihre nationale Gesetzgebung daran anzugleichen.

Wichtige Erfolge dieser transaktivistischen Bemühungen sind Gesetzesänderungen in mehreren EU-Mitgliedsstaaten ab 2014, die Änderungen des Vornamens und Geschlechtseintrags rein per Selbstdefinition und ohne medizinische Nachweise ermöglichen. Doch auch in weitere Felder sei laut ATHENA hineingetragen worden, „Geschlecht“ über Identität und nicht Biologie zu definieren, zum Beispiel in die Entwicklungshilfe, wo die EU einer der größten Mittelgeber weltweit ist.

Unterstützung für gender-affirmative Behandlungen

Doch nicht nur bei rechtlichen Aspekten, sondern auch in medizinischen Fragen wollen europäische Institutionen Einfluss nehmen. Das Papier „Human Rights and Gender Identity and Gender Expression“ des Europarats von 2024 beinhaltete eine Verteidigung geschlechtsangleichender Behandlungen von Minderjährigen inklusive Pubertätsblocker. In den vergangenen sechs Jahren wurde international zunehmend sichtbar, dass die medizinische Evidenz für diesen Ansatz unzureichend ist und damit schwerwiegende gesundheitliche Risiken nicht ausgeschlossen werden können. Besonders gründlich wurde dies für Großbritannien im Report von Hilary Cass dokumentiert – dessen Abschlussbericht ebenfalls 2024 vorgelegt wurde.

Doch dies ficht den Europarat nicht an, das Papier spricht sich eindeutig für den affirmativen Ansatz bei Minderjährigen aus, inklusive Verweis auf die niederländische Pilotstudie von 2011:

„Tatsächlich haben Ärzte beispielsweise in den Niederlanden berichtet, dass transsexuelle Jugendliche bei der Entscheidung, ob und wann sie bestimmte Behandlungsformen in Anspruch nehmen, vorsichtig sind. In mehreren Staaten wurden auch Bedenken geäußert, dass die Betroffenen die Eingriffe später bereuen könnten. Zwar kann das Bedauern über jede Art von medizinischer Behandlung generell ein berechtigtes Anliegen sein, doch gibt es keinen Grund, transspezifische Gesundheitsentscheidungen anders oder mit größerer Besorgnis zu behandeln.“

Dabei sind die Ergebnisse aus den Niederlanden nur begrenzt übertragbar, wie KritikerInnen bemängeln. So hat sich in den vergangenen 10 Jahren das Patientenprofil in den Gender-Ambulanzen deutlich verändert und die Studienergebnisse konnten in anderen Ländern so nicht wiederholt und damit auch nicht bestätigt werden. Politische Parteinahmen für einen medizinischen Ansatz wie vom Europarat bewirken jedoch, dass die wissenschaftliche Diskussion über die Entwicklung nicht offen und sachlich stattfinden kann.

Debatte unerwünscht

In Deutschland wurde dies zuletzt rund um eine Konferenz der Organisation SEGM sichtbar, die von Transaktivisten als „transfeindlich“ diffamiert wurde, weil auf dieser Konferenz die Risiken des gender-affirmativen Modells im Zentrum standen. Beteiligte Ärzte wurden von Aktivisten auf Instagram gar zu Feinden stilisiert, was die Bundesärztekammer nun als „inakzeptabel“ und „Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit“ verurteilte.

Die von Faika El-Nagashi mitbegründete Initiative ist angetreten, diesen Entwicklungen etwas entgegenzusetzen und sie überhaupt erst einmal einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Denn auch das ist bemerkenswert: Über all diese Entwicklungen blieb eine öffentliche und konstruktive Debatte bislang aus – insbesondere fehlt eine Rechtsfolgenabschätzung über den Shift von Biologie zu Identität beim Geschlechterbegriff. Ebenso ist in der Medizin eine differenzierte Auseinandersetzung mit den jüngsten Erkenntnissen wie im Cass-Report dringend erforderlich.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Gaza-Flottille: Queere Solidarität unerwünscht

In der queeren Szene ist Palästinasolidarität voll im Trend. Doch Vorfälle rund um die Global-Sumud-Flotilla, die gerade über das Mittelmeer Richtung Gaza segelt, offenbaren die islamistische und damit queerfeindliche Gesinnung hinter dem Palästina-Aktivismus.

Hunderte Tunesier versammelten sich in Sidi Bou Said in der Nähe von Tunis, um die Gaza-Flottille zu begrüßen. Die Klima-Aktivistin Greta Thunberg hielt eine Ansprache.
Prominente Schiffsbesatzung: Greta Thunberg hält eine Ansprache im Hafen von Sidi Bou Said in der Nähe von Tunis, einer der Sammelpunkte der Gaza-Flotille im Mittelmeerraum (Foto: Brahim Guedich, Wikimedia).

26. September 2025 | Jan Feddersen

Manchmal sind Klarstellungen nötig. Wie jetzt bei der sogenannten Global-Sumud-Flotilla, einem Konvoi an kleineren Schiffen, die sich in Mittelmeerhäfen versammeln, um  anschließend in das Kriegsgebiet des von der terroristischen Hamas kontrollierten Gazastreifens zu gelangen. Dort sollen Essenspakete abgeliefert werden, weil Israel angeblich keine Nahrung in das Hungergebiet des umkämpften Gebiets hineinlasse. Die Flotille ist mit internationaler Aktivista-Prominenz besetzt, u.a. ist neben etlichen Abgeordneten verschiedener linker Organisationen aus Frankreich, Spanien und Italien auch die vormalige Klimakämpferin Greta Thunberg mit an den Bord.

Queere Passagiere auf Gaza-Flottille nicht willkommen

Nun hat sich ein Konflikt herausgeschält, dieser wiederum wurde  in einem tunesischen Hafen ruchbar: Zur Solidaritätscommunity der Gaza-Flottille auf dem Mittelmeer gehören auch queere Aktivistas, und das sei nicht in Ordnung, stellten nun verschiedene Stimmen fest. Der Fernsehmoderator Samir Elwafi veröffentlichte auf Facebook seine Perspektive, hier mit KI aus dem Arabischen übersetzt:

„Palästina ist in erster Linie die Sache der Muslime und kann nicht von seiner spirituellen und religiösen Dimension getrennt werden – Jerusalem steht in dieser Hinsicht im Mittelpunkt seiner Symbole und seines Schicksals. Warum mischt ihr dann verdächtige Aktivisten darunter, die anderen Agenden dienen, die uns nichts angehen und nichts mit Gaza zu tun haben, wie zum Beispiel LGBT-Themen? Warum hören wir die Stimmen dieser Menschen in einer Flottille, die unsere Gesellschaften und ihre Solidarität mit Gaza repräsentieren soll?

Warum spaltet ihr die Menschen in Bezug auf die größte Sache, die sie eigentlich vereinen sollte? Warum all diese finanziellen, moralischen, ideologischen und sicherheitspolitischen Verdächtigungen in einer Flotte, die die arabische Sensibilität und das menschliche Gewissen repräsentieren sollte? Was kann man von einem arabischen Muslim erwarten, der die Slogans der „Queer”-Bewegung in einer Flotte sieht und hört, die im Namen seiner heiligsten Sache segelt und damit entweiht wird?!”

Eine weitere prominente Aktivistin, die sich öffentlich von queerer Präsenz distanziert hat, ist Mariem Meftah, die ebenfalls auf Facebook schreibt:

„Die sexuelle Orientierung jedes Einzelnen ist eine private Angelegenheit […]. Aber als „Queer”-Aktivist zu agieren bedeutet, die Werte der Gesellschaft anzutasten und einen Weg einzuschlagen, der meine Kinder und meine Angehörigen in eine Situation bringen könnte, die wir ablehnen. Ich lehne es ab, dass meinem Sohn in der Schule vorgeschlagen wird, sein Geschlecht zu ändern… Ich werde denen nicht verzeihen, die uns in diese missliche Lage gebracht haben; wir müssen darüber sprechen, denn manche überschreiten gerne eine rote Linie oder haben dies bereits getan. Ich rufe alle dazu auf, die Situation zu retten und den Fehler gegenüber den Menschen wiedergutzumachen, die ihr Blut gegeben haben, damit diese Flottille zustande kommen konnte.“

Islamistische Ideologie statt queerer Befreiung

Beide Stimmen können als plausibel verstanden werden: Sie sagen, was Sache ist. Mit einem linken Internationalismus, der sich allen echten oder imaginierten Unterdrückungsfeldern widmet, soll die Gaza-Flotille nichts zu tun haben. Es geht um die, wie sie es verstehen, Befreiung Palästinas, eine heilige Sache, die von profan-irdischen Angelegenheiten wie Queerness nicht beschmutzt werden soll, also nicht um die Möglichkeiten queeren Lebens.

Diese Ablehnung finde ich erfrischend deutlich – und demonstriert eindrücklich, was unsere „Queers for Palestine“-Freund*innen nicht wahrhaben wollen: Das Palästina, das sich die Pro-Hamas-Aktivistas vorstellen, ist queerfrei. Kein Catwalk für Menschen, wie es heißt, „mit blauen Haaren“. Es geht um die Tilgung Israels zugunsten eines islamistischen Regimes, nicht um ein antipatriarchales Stuhlkreisprojekt. Wer als Queer-Aktivista unbehelligt durch den Alltag gehen will, phantasiert sich kein Leben im Hamas-beherrschten Gaza, sondern in Tel Aviv.

Die Verdeutlichung dessen, worum es auch in Berlin propalästinensischen (faktisch: Pro-Hamas)-Aktivistas geht, ist für die betroffenen Queers ernüchternd. Falls sie diese Ernüchterung überhaupt zur Kenntnis nehmen wollen, falls sie ihre Hoffnungen als Illusionsgewölk erkennen, was beim Dyke* March im vorigen Jahr in Berlin unterblieb, als am Ende der prolesbianischen Prozession in Neukölln (Hot Spot der Hamas-Community und auch der Dyke-March-Fellows) sich beide Teile der Demo fast geschwisterlich um die Hälse fielen.

Übersehen wurde damals, dass ein halbes Jahr zuvor und wenige Monate nach dem Massaker der Hamas in der Negev-Wüste Israels an tausenden Menschen (meist jüdische Israelis) eine Demo für die Palästinenser in Berlin dreigeteilt werden musste, weil sich der gewichtigste Teil der in Berlin lebenden Palästinafreunde weigerte, in einer Demo mit queeren Prideflaggen und die sie tragenden Queeraktivistas zu laufen.

Doch nicht nur der Berliner Dyke* March ist auf einem irreführenden Solidaritätstrip mit Queer-Hassern. Auch der INTA* Pride, eine Parade für Transidentitäten, widmete sich in diesem Jahr ganz der palästinensischen Befreiung. In einem Statement hieß es unter anderem: „Der Kampf für palästinensische Freiheit ist untrennbar mit unserem Kampf für trans und queere Befreiung verbunden.“

Queers for Palestine: Illusion in eigener Sache

Nein, die Solidarität des Queeraktivismus mit der sogenannten palästinensischen Sache ist eine Täuschung in eigener Sache. Man glaubt sich in globaler Einigkeit und würde nach einer Hamas-artigen Weltrevolution doch nur allenfalls Platz auf dem Kehrichthaufen islamistischer Moral haben.

Israel übt, last but not least, sich in Geduld mit der Gaza-Flotille, abwartend, bis sie vor den Küsten Gazas und Israels aufgefischt werden können. Es gab bereits Angebote seitens der Israelis, dass die Flottille den Hafen in Ashkelon ansteuern dürfe, und von dort würden die Hilfsgüter übernommen, um sie an die Notleidenden in Gaza weiterzugeben. Doch das wurde ausgeschlagen. Von den Flottilistas wurden stattdessen schwere Vorwürfe erhoben, Israel würde sie mit Drohnen beschießen.  Doch das israelische Militär beherrscht feinsinnigere Methoden: Mit Störsendern ließen sie nun die Radios der Flotillistas kapern – und es ertönte: Musik von Abba. Unter vielen Queers (wie von mir, Befreiungstonspuren aus den Siebzigern) hochgeschätzt. Darauf ein: Thank you for the music.


Jan Feddersen ist Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Vielfaltsbarometer 2025: Schwindende Sympathien für unsereins

Eine neue Erhebung der Robert-Bosch-Stiftung attestiert im Vielfaltsbarometer 2025 eine sinkende Akzeptanz von Vielfalt in der deutschen Bevölkerung, davon betroffen ist auch die Kategorie „sexuelle Orientierung“. Ein genauerer Blick in die Daten offenbart, dass sich der Akzeptanzverlust vor allem bei Trans zeigt. Woran liegt das?

Fußgängerampel zeigt "rot", Symbolbild für Artikel "Vielfaltsbarometer 2025: Schwindende Sympathien für unsereins"
Stoppt die Akzeptanz von Vielfalt in Deutschland? (Foto von Kai Pilger auf Unsplash.)

21. September 2025 | Till Randolf Amelung

In Deutschland sinkt die Zustimmung zur Vielfalt – so lautet der Befund des Vielfaltbarometer 2025 der Robert-Bosch-Stiftung, die diese Erhebung nach 2019 zum zweiten Mal durchgeführt hat. Gemessen wurden die Akzeptanzwerte in den Vielfaltsdimensionen „Lebensalter“, „Behinderung“, „Geschlecht“, „sexuelle Orientierung“, „sozioökonomische Schwäche“, „ethnische Herkunft“, und „Religion“. Besonders deutlich fiel der Rückgang der Akzeptanz bei „ethnische Herkunft“ und „Religion“ aus.

Sinkende Akzeptanz im Vielfaltsbarometer 2025

Auch die Zustimmung für LGBTIQ ist rückläufig: Erreichte die Akzeptanz der Dimension „sexuelle Orientierung“ 2019 noch 77 von 100 Punkte, so sind es nun 69 Punkte. Sind die Deutschen etwa wieder schwulenfeindlicher geworden? Ein genauer Blick offenbart: Im Studiendesign der Robert-Bosch-Stiftung wurden unter „sexuelle Orientierung“ nicht nur Lesben, Schwule und Bisexuelle gefasst, sondern auch Transpersonen.

Insgesamt vier Fragen wurden zur Erhebung der Einstellungen in dieser Dimension gestellt. Zwei davon bezogen sich auf Trans – und vor allem hier ist die Entwicklung der rückläufigen Akzeptanz deutlich an den Zahlen abzulesen. Zur Aussage „Das Geschlecht zu ändern ist wider die Natur“, sagten 2025 laut Erhebung 23 Prozent der Befragten „Stimmt völlig“, „stimmt gar nicht“ 34 Prozent. Im Vergleich dazu antworteten 2019 auf die gleiche Frage 15 Prozent „stimmt völlig“, 54 Prozent „stimmt gar nicht“. Auch bei der Aussage „Transsexuelle Menschen sollten unter sich bleiben“ ging die komplette Verneinung dieser Aussage von 74 auf 56 Prozent zurück, während sie für „stimmt völlig“ von 7 auf 13 Prozent anstieg.

Rückgang vor allem bei Trans

Schaut man sich im Vergleich die beiden Aussagen zu Homosexualität an, ist die Veränderung beim Transteil im Kontrast bemerkenswert deutlich. Der Aussage „Es ist ekelhaft, wenn Homosexuelle sich in der Öffentlichkeit küssen“ stimmten zwölf Prozent der Befragten vollkommen zu, 2019 waren es noch zehn Prozent.  Dass Homosexuelle keine eigenen Kinder haben sollten, bejahte 2025 16 Prozent der Befragten, 2019 waren es noch 14 Prozent. Der Unterschied beträgt jeweils nur zwei Prozentpunkte. Ganz anders die beiden Aussagen zur Transthematik: Dort gibt es eine Differenz zwischen 2019 und 2025 von bis zu 18 Prozent!

Man fragt sich: Woran liegt es? Hierzu lohnt sich ein Blick in das vielbeachtete Buch „Triggerpunkte“ von Steffen Mau et al. aus dem Jahr 2023. Dort gingen der Soziologe und seine Mitarbeiter der Frage nach, ob und wie stark die deutsche Gesellschaft in ihren Ansichten polarisiert sei. Zur queeren Frage machten sie deutlich, dass vor allem die Einstellung zu gleichgeschlechtlicher Sexualität und Partnerschaften innerhalb weniger Jahrzehnte einen fundamentalen Wandel zum Positiven hin erfuhr.

Ende der stetigen Liberalisierung?

Während 1957 das Verfassungsgericht noch festhielt, dass der berüchtigte Paragraf 175, der gleichgeschlechtliche Sexualität schlechthin unter Strafe stellte, dies den „sittlichen Anschauungen des Volkes“ entsprach, so klingt das heute nicht nur befremdlich, sondern wäre sogar nach den Maßgaben der Europäischen Union diskriminierend. Mau et al. stellen fest: „Kein Zweifel: Zwischen uns und dem Urteil zum § 175 liegt eine Zeit intensiver gesellschaftlicher Liberalisierung, Durchlüftung und Entrigidisierung.“ Das gilt im Übrigen auch für Heteros, denn die Abschaffung des Kuppeleiparagrafen 1969 gehört ebenfalls zu dieser Liberalisierung.

In der Transfrage war die Entwicklung zur Liberalisierung lange spürbar, was auch die Ergebnisse des Vielfaltsbarometers von 2019 belegten. Steffen Mau und seine Mitautoren konstatierten 2023 ebenfalls, dass Transthemen trotz kontroverser Debatten um das Selbstbestimmungsgesetz kein Problem darstellten. Auch insgesamt fanden sie in ihrer Studie „eine sehr starke Akzeptanz von Menschen, die ihr Geschlecht gewechselt haben: 84 Prozent geben an, dass diese Menschen als ‚normal anerkannt werden sollten‘“. Das im November 2024 schließlich in Kraft getretene Gesetz ermöglicht die Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags auf Basis der reinen Selbsterklärung beim Standesamt. Ein Nachweis über die Berechtigung muss nicht mehr erbracht werden.

Doch gilt 2025 immer noch, dass diese Regelung keine Kontroverse darstellt? Immerhin hat seit Jahresbeginn der Fall einer rechtsextrem aktivistisch tätigen Person namens Marla-Svenja Liebich mehrfach Schlagzeilen gemacht. Dieser Fall zeigte, dass die Warnungen derjenigen berechtigt waren, die eine Änderung von Vornamen und Geschlechtseintrag ohne Überprüfung der individuellen Motivation für zu riskant hielten. In einer Umfrage der Zeit von August dieses Jahres wird nun erkennbar, dass die Zustimmung zum Selbstbestimmungsgesetz in der Bevölkerung abgenommen hat. Im Oktober 2022 fand eine knappe Mehrheit in Deutschland das Selbstbestimmungsgesetz noch okay, 2025 ist es nur noch ein Drittel.  Etwa vierzig Prozent lehnen dieses Gesetz mittlerweile ab.

Große Krisen verantwortliche Faktoren

Das „Vielfaltsbarometer“ der Robert-Bosch-Stiftung macht für den Rückgang der Akzeptanz in bestimmten Vielfaltsdimensionen vor allem folgendes verantwortlich:

„Die enge Taktung von Krisen ermüdet die Bevölkerung oder überfordert sie gar. Der ökonomische Abschwung schürt Verlustängste und führt zu Protektionismus gegenüber allen anderen, vor allem ‚dem Fremden. Die zunehmende Individualisierung und Sichtbarkeit einstiger Randgruppen hinterlassen bei manchen Menschen ein Unbehagen.“

Doch diese Diagnose kann die auffällige Verschlechterung bei der Akzeptanz von Transpersonen nicht plausibel erklären. Gerade das Selbstbestimmungsgesetz steht für etwas anderes – nämlich dem aktivistisch betriebene Etablierungsversuch eines neuen Weltbildes. In diesem Weltbild soll Geschlecht keine biologischen Grundlagen mehr haben, allein die Identität darf bestimmend sein. Ebenso wird die biologische Definition von Geschlecht angegriffen, die nach wie vor zwei biologische Geschlechter kennt, differenziert anhand der beiden Keimzellenarten Spermien und Eizellen. Zur Last gelegt wird dieser Definition von Geschlecht, dass sie Trans und Inter ausgrenze und pathologisiere. Daher soll sie durch ein anderes Modell, dem biologischen Geschlecht als Spektrum ersetzt werden.

Zwei Gameten vs. Spektrum

Doch das Spektrumsmodell ist in den Naturwissenschaften eine Außenseitermeinung, und viele in Wissenschaft und Medizin Tätige haben diese lange Zeit ignoriert. In Deutschland wird das Spektrumsmodell vor allem durch den in Merseburg tätigen Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß vertreten, der seine Auffassungen auf einer Missinterpretation eines vielbeachteten Nature-Aufsatzes von Claire Ainsworth von 2015 aufbaut. Ainsworth wollte nicht die biologische Definition in Frage stellen, sondern eine wertschätzende Haltung zur Vielfalt in der äußerlichen Erscheinung vermitteln. Den Anspruch moralischer Richtigkeit hat sich das Spektrumsmodell vor allem durch gezieltes Protegieren durch die Politik erworben, als sie queere Anliegen und damit den Transaktivismus ab 2013 mit wesentlich mehr Steuergeldern zu füttern begann.

Es ist freilich nichts gegen ein neues Modell einzuwenden, wenn dieses tatsächlich zu besseren, weil präziseren Forschungsergebnissen führt. Als 2022 ein abgesagter Vortrag der Biologiedoktorandin Marie-Luise Vollbrecht bei der Langen Nacht der Wissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin die Kontroverse um die wissenschaftliche Geschlechterdefinition die Kontroverse einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machte, wurde deutlich, dass das Spektrumsmodell nur aktivistische Relevanz hat. Rüdiger Krahe, Vollbrechts Doktorvater, sagte damals gegenüber der Berliner Zeitung, dass die Zweigeschlechtlichkeit unter Evolutionsbiologen vollkommen unstrittig sei und so auch an der HU gelehrt werde.

Überspannung durch fragwürdige Weltbilder

Das queeraktivistische Aufdrängen fragwürdiger Weltbilder bleibt nicht unbemerkt und entsprechend darf man auch eine Äußerung des Mainzer Historikers Andreas Rödder einordnen, die er Anfang September gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung tätigte:

„Aus einer Emanzipationsbewegung für bestimmte Lebensformen ist ein Modell für die staatliche Umgestaltung der Gesellschaft geworden. Diese Überspannung ist das Problem, nicht die Toleranz, die dem Ganzen zugrunde liegt.“

Damit provozierte Rödder entrüstete Reaktionen aus der queeren Aktivistenbubble, zum Beispiel in Person von Nora Eckert, die sie auf queer.de erregt und ad hominem zum Besten gab:

„Andreas Rödder hat sich wieder einmal zu Wort gemeldet. Und wenn er das tut, ist das stets von der Art, bei der ich mich frage, wie so jemand Professor werden konnte. Denn kritisches Denken mit wissenschaftlichem Anspruch schließt bekanntlich selbstkritisches mit ein. Außer windschiefen Argumenten haben wir von dem bekennenden Konservativen und Verteidiger einer deutschen Leitkultur à la Union, an der er eine Zeitlang mitgestrickt hat, noch nichts wirklich Vernünftiges gehört – zumindest, wenn es die queere Community betrifft.“

Bereits Mau et al. hatten 2023 in „Triggerpunkte“ Themen identifiziert, die dafür sorgten, dass eher mit Abwehr auf Queer reagiert wurde: eines davon war geschlechtersensible Schreibweisen mit dem Genderstern, ein anderes das Verwenden neuer Begriffe, die sich nicht ohne Weiteres erklären und Angst vor Fehlern und Fettnäpfchen produzierten. Gerade der Genderstern steht für das oben skizzierte Weltbild des Spektrumsmodells. Für eine deutliche Mehrzahl in der deutschen Bevölkerung ist das Sternchen zusammen mit dem gesprochenen Glottisschlag ein Symbol für dieses Geschlechtermodell und damit eine Umerziehung, die dem gesunden Menschenverstand zuwiderläuft. Ein Umstand, den Mau et al. leider in ihrer ansonsten sehr lesenswerten Studie vor allem als Reaktion auf Verunsicherung von Handlungsroutinen deuten wollen.

Auffällig ist, dass das biologische Geschlecht von Transpersonen lange kein anstößiges Thema in der Gesellschaft war – bis zu dem Moment, als queerer Aktivismus die Definition vom biologischen Geschlecht angegriffen hat. Das zeigte sich 2023 sowohl bei Mau et al. als auch im Vielfaltsbarometer von 2019. So hat der Umgestaltungsversuch erst dem jetzt spürbaren Backlash Vorschub geleistet. Statt wie noch zuvor vorsichtig-distanzierte und neugierige Aufgeschlossenheit, vergrößert sich jetzt die Ablehnung gegenüber Transpersonen. Womöglich ist diese Entwicklung aktuell nicht mehr schnell zu ändern, man sollte diese aber nicht weiter befeuern, indem man der Bevölkerung wissenschaftlich nicht haltbare Weltbilder immer noch einpauken will.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Queerfeindlichkeit: Der liberale Ekel

Jacques Schuster, Chefredakteur der Welt am Sonntag und bekennender Liberaler, äußert sich in einem Kommentar seiner Zeitung entnervt über die Formel „LGBTQ“ – und wünscht es sich „ein wenig leiser“. Das darf zurückgewiesen werden, klar. Aber was an seiner Klage könnte triftig sein? Über die Tyrannei der Diskretion.

Teilnehmende auf dem CSD Zürich 2023. Eine Person hält ein Schild hoch, mit der Aufschrift "We exist everywhere". Symbolbild für Artikel "Queerfeindlichkeit: Der liberale Ekel"
Besonders augenfällig ist Sichtbarkeit auf CSD-Paraden – wie hier 2023 in Zürich. (Foto von Ilia Bronskiy auf Unsplash).

15. September 2025 | Jan Feddersen

Vor wenigen Jahrzehnten zeichnete der berühmte Bildererzähler Ralf König eine Szene seiner Helden Konrad und Paul, in der sie in einem Eiscafé sitzen und der eine bei der Bestellung, so sinngemäß, sagt: Guten Tag, wir sind schwul und wir hätten gern zwei Kugeln Vanille und eine Kugel Schokolade … worauf die Bedienung nur cool antwortet: „Das erste ist mir egal, aber beim Zweiten: mit oder ohne Sahne?“

Es waren die frühen neunziger Jahre, wenn ich mich recht erinnere, und die Szene bringt das damalige Lebensgefühl sehr vieler schwuler Männer ziemlich gut auf den Punkt: Schwul zu sein nicht als unbedingt zu beschweigenden Lebensumstand. Es war die Zeit, in der die Aidskrise durch die Entwicklung pharmakologischer Eindämmungsmöglichkeiten im Falle einer HIV-Infektion allmählich weniger hysterisch wurde, Homosexuelles, zumal die männliche Form, wurde nie zum Hype, aber man durfte in vielen Bereichen offener drüber reden.

Anrüchige Spaßvögel

In der Geschichtsschreibung heißt es stets, der nazikontaminierte § 175 habe bis 1969 gegolten, danach sei für schwule Männer das Paradies ausgebrochen. Das ist falsch. Wer dabei war, weiß das nur zu gut. Für Homosexuelle, gleich ob Männer oder Frauen, galten auch im liberalen Spektrum unserer Republik strikte, aber nicht verschriftlichte Regeln: Spricht nicht drüber! Ich nenne das: Die Macht der Tyrannei der Diskretion.

Ein historisches Beispiel ist Fritz Bauer – war er schwul? Antwort: Hat er ja selbst nicht gesagt. Wie hätte er das auch tun sollen, als ein bei Nazis und ihren Freunden in den sechziger Jahren bis zu seinem Tod verhasster Staatsanwalt? Er wäre erledigt gewesen. Bis in die neunziger Jahre hinein war das Gesetz der Diskretion übermächtig: Wer darüber sprach – und sei es nur, als Mann von „meinem Mann“ zu sprechen -, riskierte, nur noch als homosexuell wahrgenommen zu werden, also nicht gesellschaftsfähig – oder nur als Spaßvögel, so wie viele Jahre später Hella von Sinnen oder Dirk Bach. Schwules und Lesbisches – anrüchig, nicht sagbar.

Geht es leiser?

Um endlich auf den Anlass meiner Zeilen zu kommen: Jacques Schuster, Chefredakteur der Welt am Sonntag und bekennender Liberaler, schrieb am Wochenende nun einen Kommentar mit dem Titel: „Liebe LGBTQ – geht es ein wenig leiser?“ Er schreibt:

„Das nächste Unwort des Jahres sollte ‚LGBTQ‘ werden. Und das nicht nur, weil es ein Zungenbrecher ist. ElDschiBiTiKiu steht für Lesbisch, Gay (schwul), Bisexuell, Transgender und Queer, also für Menschen, deren sexuelle Orientierung von der Heteronorm abweicht. Nichts gegen diese Menschen! Sie sollen tun, was sie wollen, und leben, wie sie es für richtig halten. Aber vielleicht geht es ein wenig leiser?“

Davon abgesehen, dass in der Formel „LGBTQ“ es nicht um „sexuelle Orientierung“, also ums Begehren, um Sehnsucht geht, sondern um „sexuelle Identität“, also um Selbsteinschätzungen, möchte ich doch anmerken: Nein, leiser geht’s nicht. Wie der Medienjournalist Stefan Niggemeier schreibt:

„Wenn eines wichtig ist in diesen verstörenden, beängstigenden Zeiten, gerade auch für queere Menschen, dann das: dass wir nicht leiser werden.“

Stärkere Präsenz von LGBTQ

Das ist eine naheliegende Reaktion, erklärt aber nicht den fast wütenden Stoßseufzer des journalistischen Kollegen Schuster, wenn er formuliert:

„Es ist kaum noch auszuhalten, in welcher Wucht man täglich – sei es im Fernsehen, sei es sonst wo – thematisch mit LGBTQ belämmert wird: vom grammatikalischen Firlefanz des Genderns bis zu queeren Lebensgemeinschaften in jeder zweiten Vorabendserie.“

Das ist einerseits eine zutreffende Wahrnehmung, Queers sind heutzutage in den Medien präsenter denn je, und wenn man die Doku über Daniel Küblböck angeschaut hat, weiß man: Das war auch überfällig, denn noch vor 20 Jahren wurde unsereins allenfalls wahrgenommen und gewertschätzt, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ – und dann auch noch gönnerhaft.

Schuster aber führt dann aus, ein für einen Liberalen riskanter Hinweis auf die seiner Meinung nach wahren Mehrheitsverhältnisse:

„Die LGBTQ-Missionare in den Sendern und woanders vergessen die Mehrheit: Etwa 88 Prozent der Deutschen sind heterosexuell, 49 Prozent leben in Familien, 75 Prozent haben keinen Einwanderungshintergrund. Vielleicht sollte zur Abwechslung mal an die gedacht werden – gleichgültig was die fingerschwenkende moralische Elite dazu meint.“

Hier stimmt vieles nicht, etwa die Prozentangaben zum Einwanderungshintergrund. Knapp die Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung hat (seit der NS-Zeit) einen solchen. Wichtiger aber scheint mir: Im LGBTQ-Kontext ist wirklich viel Missionarisches im Spiel: als ob man Vokabeln zu lernen hätte und Strafen fürchtet, hat man sie nicht gut genug gepaukt. Worte wie „lesbisch“ oder „schwul“ werden gar nicht mehr erwähnt, vielmehr ist selbst eine wie die Kunstfigur Conchita Wurst kein schwuler Mann mehr namens Tom Neuwirth, sondern eine queere Conchita Wurst. Dragkunst mag ja auch queer verstanden werden, aber zunächst ist sie, nun ja: drag. Und: Neulich wurde selbst die frühere Bundesverfassungsrichterin Susanne Baer als queer gelabelt – wobei sie sich selbst als lesbisch sieht.

Keine Wahrnehmungsroutine

Mit anderen Worten: Es hätte nach anderthalb Jahrzehnten queeren Aktivismus in den Medien eigentlich die Rede von Gewöhnung, von Wahrnehmungsroutinen sein müssen, so hat es mal der Soziologe Niklas Luhmann ausgeführt: Mediale Strategien führen zur Überwältigung,  also Routine und Gewöhnung. Stattdessen ist einer wie Schuster (und wahrscheinlich viele andere) einfach nur genervt von einer unaussprechlichen Buchstabenformel. Und das darf er, andere Meinungen sind geschützt.

Aber Schuster hat den Gegenstand vor allem nicht präzise genug in den Blick genommen: Warum mokiert er sich nicht darüber, dass männliche Wesen in den Medien gern mit bunten Haaren gezeigt werden, außerdem schmal und allzeit juvenil? Und warum gibt es im LGBTQ-Sprachbrevier eigentlich, medial gesehen, keine gewöhnlichen Homosexuellen, männlich wie weiblich, sondern nur: Queers? Sind sie das überhaupt – und wollen sie es sein? Oder spielt für sie, allem offen bekundeten Homosexualität zum Trotz, Queeres als Lebensmittelpunkt nicht (mehr) die große Rolle? Queer hat eine Mehrfachbedeutung – aber inzwischen gilt alles als queer, was nicht wie imaginierte Heteronormalität daherkommt. Fatal: Selbst Heteromänner bezeichnen sich als queer – oftmals nur, weil sie ihre Fingernägel bunt lackieren.

Jacques Schuster hat ein erstaunlich offenes Dokument liberalen Ekels vor dem lebensweltlich Sagbaren formuliert. Es verdient, nicht blank zurückgewiesen zu werden. Die Ära der Diskretion ist vorbei – aber ist die der queeren Belehrung nicht minder passé?


Jan Feddersen ist Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Ein Mensch namens Lana Kaiser aka Daniel Küblböck

Die ARD widmet sich dem Leben Daniel Küblböcks, einem Showstar der frühen Nuller Jahre, der sich am Ende seines Lebens Lana Kaiser nannte. Entstanden ist eine beeindruckend dichte Dokumentation in drei Teilen über insgesamt zwei Stunden. Und die doch eher ein Märchen als eine einordnende Geschichte zu einem der größten queeren Stars seiner Zeit geworden ist.

Daniel Küblböck singt auf der Bühne des CSD Köln 2009. Küblböck trägt ein pinkes Hemd, eine graue Weste und Hose und hält ein Mikrofon in der Hand.
Daniel Küblböck auf dem CSD Köln 2009 (Foto: Wikimops).

13. September 2025 | Jan Feddersen

Wie auch immer sich Daniel Küblböck in der letzten Zeit seines Lebens identifizierte, als Frau, also als Lana Kaiser, oder als das männliche Wesen, als das er am 27. August 1985 geboren wurde: In diesem Text wird er als Mann erkannt, mit den entsprechenden Pronomen. In der dreiteiligen Dokumentation über ihn heißt es in einer schriftlichen Einblendung zum Auftakt 120 Minuten indes: „Diese Serie handelt von einer Person, die sich kurz vor ihrem Ableben als trans sichtbar machte. Da viele Gesprächspartner*innen sie nur aus der Zeit davor kennen, werden in dieser Serie unterschiedliche Namen und Pronomen verwendet.“

DSDS statt Kinderpflege

Was nach dieser Erläuterung folgt, ist eine teils ergreifende, teils deprimierende Revue über das Leben des Daniel Küblböck.  Ende 2002 lässt er eine Ausbildung zum Kinderpfleger sausen, um dorthin zu gelangen, wonach es ihn sehnte: ins Showgeschäft. Er gehörte zur ersten, man könnte sagen: legendären ersten Staffel des RTL-Formats „Deutschland sucht den Superstar“. Küblböck wurde zwar nicht der Sieger, sondern Alexander Klaws. Im Gegensatz zu diesem aber,  avancierte der Bayer mit seiner mitreißenden, etwas erratischen, jedenfalls für die Wünsche der TV- und Musikindustrie immer etwas unberechenbaren Art zum wirklichen Superstar seiner Zeit: Er habe nicht singen können, hieß es später, er habe dieses oder das nicht gekonnt, aber er hatte dieses gewisse Etwas, das Sterne von Sternschnuppen unterschied.

Was ihn trieb, wurde in aller Öffentlichkeit breit erörtert, und Küblböck war das recht: Stars wissen, dass sie Futter geben müssen, Langeweile darf nicht sein. In die Wiege gelegt war ihm das aber nicht, wie er in seiner 2003 veröffentlichten Autobiografie „Ich lebe meine Töne“ verriet:  Küblböcks Mutter blamierte ihren Sohn öfters mit dem Satz, er könne nichts, er sei nichts, er werden nie etwas können. Aber Küblböck, nahm diesen  nur denkbaren übelsten Schmäh aggressiv – er wollte ins Licht und also unter Scheinwerfer. Er war als Aschenputtel designiert, wollte aber – mindestens – die Prinzessin werden. Dank DSDS wurde er schließlich zu einem Star, dessen Popularität gerade bei den Heranwachsenden an die von Michael Jackson in jenen Jahren heranreichte.

Queere Sichtbarkeit statt Diskretion

Viele seiner Nächsten kommen in dieser Dokumentation zu Wort: Als Zuschauer freut man sich, dass Küblböck anscheinend umgeben war von einem schützenden Ring an ihm innig gesinnten Menschen, darunter zwei Ex-Männer, Gracia, seine DSDS-Mitbewerberin und spätere ESC-Teilnehmerin, außerdem eine Kneipenwirtin in Berlin, die Hamburger Dragqueen Olivia Jones und auch der Vater, der zeitweise für seinen Sohn Manager war. Erahnbar wird die quasi avantgardistische Leistung des Künstlers: Als er die Showbühnen  unter dem giftigen Patronat Dieter Bohlens eroberte, gab es gegen schwule (und überhaupt: queere) AkteurInnen noch diese gewisse Tyrannei der Diskretion.

Schwule oder lesbische Stars wie Olivia Jones, Hella von Sinnen, Guido Maria Kretschmer waren in jenen Jahren Geschöpfe des privaten Fernsehens, nicht der ARD oder des ZDF, für die Nichtheteronormatives souverän zu zeigen als allenfalls tolerier-, aber nicht wünschbar erschien.. Subtile oder drastisch geäußerte Homophobie musste gar nicht zelebriert werden, sie war einfach Comment, so alltäglich wie selbstverständlich.

Daniel Küblböck brauchte allerdings als schwuler Star in spe auch gar nicht geoutet werden: Seine Art der fröhlichen Unmackerigkeit wurde als „schwul“ quasi automatisch „mitgelesen“ –  auch schon von jungen Schwulen selbst: Sie waren ja anders als die anderen (Jungs), sie hatten Sinn für Mädchen, aber mehr, um mit ihnen Gummitwist zu spielen als ihnen an die Wäsche zu gehen.

Zwischen Ruhm und Abstieg

Das alles zeigt diese Dokumentation: ein Meilenstein in der Aufklärung strukturell-antiqueerer Verhältnissen vor allem, aber nicht, nur in den öffentlich-rechtlichen Medien. Vor allem ist dieses Portrait Küblböcks eine Geschichte über einen jungen Mann, der sich nicht verstecken will und viel Scheitern auf sich nehmen muss, ehe er – vielleicht – verstanden hat, dass jeder Ruhm den nahen Abstieg in sich trägt.

Küblböcks verzweifelte Schritte, seine Flamboyanz, sein schwules Strahlen einzubüßen, schockieren im Nachhinein extrem. So gut wie alles probiert er aus, um irgendwie im Showbusiness zu bleiben inkl. Dschungelcamp. Er ist sich aufmerksamkeitsökonomisch für nichts zu schade. An ihm scheint abzuprallen, dass  ARD-Talkmoderator  Frank Elstner in einer Gesprächssendung ihn wie einen von einer Geisteskrankheit Geheilten behandelt, ein Sohn, der endlich zur Besinnung gekommen ist: ordentlich korrigierte Zahnreihen, ein eher langweiliger Kurzhaarschnitt. Inklusive gefälliger Zustimmung Küblböcks, als Elstner ihn an frühere Zeiten erinnert. Dabei waren dies seine besten!

Sichtbarkeit als Freiheitsversprechen

Im Nachhinein wird mir klar, dass ich selbst Küblböck als schwule Tapferkeitsverkörperung nicht wahrgenommen hatte. DSDS war nicht mein Format, entzündete so wenig mein Interesse wie das Dschungelcamp. Aber mit dieser Doku wurde mir bewusst, dass der Aufstieg des schwulen Daniel Küblböcks zur gleichen Zeit stattfindet wie beim ESC international queere Sichtbarkeit bis in die KünstlerInnenriege deutlich werden konnte – von Dana Internationals ESC-Sieg 1998 bis hin zu Conchita Wurst mit ihrem Eurovisionstriumph 2014. Als seien sie ein Versprechen.

Offenbar waren die 2000er Jahre  jene Zeit, die irgendwann als Möglichkeitsjahre queerer (vor allem schwuler und lesbischer) Sicht- und Sagbarkeit erinnert werden. Die Generation der Küblböcks nahm die Freiheitsversprechen der Länder, die sich in puncto Queerness als inklusiv (bis hin zur „Ehe für alle“, in Deutschland 2017) verstehen wollten, beim Wort. Dass Küblböck damals DSDS nicht gewinnen konnte, hatte vermutlich mit den kühlen betriebswirtschaftlichen Überlegungen der Produzenten von DSDS zu tun: Ein bekennend heterosexueller Posterboy wie Alexander Klaws  versprach, durch viele jugendliche weibliche Fans die Kassen kräftiger klingeln zu lassen.

Letzte Station Schauspielausbildung

Die Krise des Daniel Küblböck begann mit seinen späten Dreißigern, er war kein glamouröser junger Prinz mehr, als er nach Berlin ging, um eine Schauspielausbildung zu machen. Er wirkte, ehrlich gesagt, schon wie ein fertig ausgebildeter Mann der Bühne – aber er hatte den formalen Abschluss wohl nicht. Hier in dieser Stadt beginnt seine letzte Etappe – und diese lässt eine Reihe offener Fragen zurück.

Seine Ausbildung scheint nicht erfolgreich zu laufen. Während der Proben für das Abschlusstück klagt er, jemand würde ihn sabotieren. In der Tat gab es zerstörte Kostüme und Technik. Es steht der Verdacht im Raum, er könne dies selbst getan haben. Schilderungen einer ehemaligen Mitschülerin vermitteln den Eindruck eines Menschens, der sich offenkundig in einer psychischen Krise befunden haben muss. Auch von einem häufig übermäßigen Alkoholkonsum wird berichtet.

Zugleich wird er unnahbar, hält mehr und mehr Abstand zu vormaligen Buddys … und erkennt sich als Trans. Ein Mensch, der auf das Selbstverständlichste mit femininer Körpersprache ein schwul begehrendes Leben führte. Küblböck hatte angefangen, ohne ärztliche Verschreibung und wohl auch ohne psychotherapeutische Begleitung Hormone zu nehmen. Bisherige medizinische Leitlinien einer Geschlechtsangleichung empfehlen jedoch, dass ein solcher Schritt nur unter ärztlicher und psychotherapeutischer Aufsicht erfolgen sollte.

In Berichten nach seinem Tod hieß es, auf Mallorca, wo Küblböck zeitweise lebte, habe ein Arzt eine akute Episode einer schizophrenen Psychose diagnostiziert. Doch das wird in der Doku nicht thematisiert.  Das queeristische Narrativ will Trans ausschließlich als glückliche Zwangsläufigkeit eingeordnet und präsentiert sehen. Entsprechend lässt sich das Interview mit der Transaktivista Mari Günter verstehen, die für den Bundesverband Trans* solche Grundsätze seit Jahren erfolgreich in sozialpädagogischer und psychotherapeutischer Praxis platziert.

Die Kritiken zur Doku in den Medien waren einhellig positiv. Der transaffirmative Umgang mit Küblböcks Biografie wurde nirgends in Frage gestellt. Liest man dieses Filmportrait wie einen Abschiedsfilm, rührt er zu Tränen: Er war offenbar ein freundlicher Mann, der sich nie genug fühlte. Und ich bekenne, ihn gern kennengelernt zu haben. Am 9. September, als er Passagier auf einem Kreuzfahrtschiff nach Nordamerika war, verlor sich seine Spur, als Todesort gibt Wikipedia die Labrador-See an. Sein toter Körper wurde nie gefunden.

In einem Telefonat sagt er dem Angerufenen, wir hören den Mitschnitt: „Hallo, ich bin’s, der Dani, also die Lana eigentlich …“ Ist damit alles klar? Nichts ist am Ende dieser gefälligen Dokumentation wirklich in Sachen Küblböck klar. Fast alle Fragen – offen.


Jan Feddersen ist Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Liebich und die Folgen für das Selbstbestimmungsgesetz

Rechtsextremistin Marla-Svenja Liebich hat die Diskussion um das Selbstbestimmungsgesetz wieder entfacht. Trotzdem sich Liebich einer Haftstrafe durch Untertauchen entzogen hat, kehrt keine Ruhe ein. Was die Fürsprecher des Gesetzes nicht wahrhaben wollen: Der Fall entspricht exakt dem Grundgedanken des Gesetzes.

Menschen auf einer Demo für Transrechte in Schottland. Mehrerre Personen halten Schilder mit Slogans hoch. Symbolbild für Artikel: Liebich und die Folgen für das Selbstbestimmungsgesetz
Eine Demo in Schottland 2023 und mehrere Schilder mit dem Slogan „Trans Rights Now“: Das Prinzip der reinen Sprechakttransition gilt im internationalen Menschenrechtsdiskurs als Goldstandard (Foto von Thiago Rocha auf Unsplash).

7. September 2025 | Jan Feddersen

Die Entscheidung, sozusagen, ist vertagt: Marla-Svenja Liebich hat sich dem Haftantritt in der JVA Chemnitz durch Flucht entzogen, die deutschen Behörden wissen nicht, wie sie ihrer habhaft werden können. Mehrere Hundert verurteilte Rechtsextremisten haben sich der Verbüßung ihrer Haftstrafen entzogen und sind untergetaucht, Liebich ist nun eine dieser Personen.

Ihr Fall ist jedoch spezieller als andere, denn Liebich hat in den vergangenen Monaten Furore gemacht, weil sie sich trotz biologischer Männlichkeit als Frau identifizierte und in ein Frauengefängnis inhaftiert werden wollte. Wahrscheinlich exakt dafür wurde eine Änderung des Geschlechtseintrags von „männlich“ zu „weiblich“ vorgenommen. Das ist nach dem aktuell geltenden Selbstbestimmungesetz ohne Nachweise über die Plausibilität dieses Änderungsbegehren möglich. Und daraus folgt nun: Liebich hat in jeder Hinsicht rechtlich als Frau wahrgenommen zu werden.

Rechtsextrem und trans?

Öffentlich führte das zu erheblicher Resonanz: Wie kann das sein, dass ein bekennend queerfeindlicher Rechtsextremist sich als Frau identifiziert? Ist das ein Dilemma, weil das wesentlich dem queeren und grünen Identitätsaktivismus zu verdankende Gesetz einem Menschen nützlich wäre, der gemäß seiner rechtsextremistischen Gesinnung Queerem lieber ein Ende setzen würde? Dazu erklärte der an der Hochschule Merseburg lehrende Sozialwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß im MDR:

Das Selbstbestimmungsgesetz habe sich insofern bewährt, als „auch eine Person, die eher dem rechtsextremen Spektrum zugeordnet wird und auch entsprechend verurteilt ist, eben davon Gebrauch macht, sich ‚Marla-Svenja Liebich‘ nennt und sich selbst als Frau bezeichnet und verortet. Aus meiner Sicht gilt es dann nach dem Selbstbestimmungsgesetz, dem wiederum Rechnung zu tragen, wie bei anderen Personen auch.“

Selbstbestimmung ohne Nachfragen

Und er hat völlig recht: Liebich, ob man diese Person nun, wie manche Medien, mit ihrem vormals männlichen Namen oder eben entsprechend der als weiblich amtlich dokumentierten Identität anspricht, hat das Selbstbestimmungsgesetz im Wortsinn mit Leben erfüllt. Die Gründe für die möglicherweise nur vordergründig neue Identitätskonfiguration dürfen nicht erfragt werden. Das Selbstbestimmungsgesetz hat ja gerade zum Ziel, die Beweggründe einer Person für eine andere Geschlechtsidentität nicht zu hinter- oder befragen. Transaktivistas behaupteten immer wieder, solche Befragungen seien traumatisierend und demütigend.

Das wirft in der Tat auf das Gesetz selbst ein mieses Licht: Ist das Selbstbestimmungsgesetz juristischer Sondermüll, seine Etablierung durch die vormalige Ampel-Regierung (und besonders durch die Grünen und die FDP) nur modischen Umständen der Zeit geschuldet? Oder war das immer im Spiel dieser durch das Gesetz eingeräumten Lebensmöglichkeiten? Spekuliert wird ja, dass sich Liebich bessere Haftumstände in einem Frauengefängnis verspricht. Oder dass diese Person durch die Aktion das Gesetz selbst der Lächerlichkeit preisgeben wollte? Wir wissen es nicht, Liebich selbst gab hierzu keine Auskunft.

Queere Aktivisten verteidigen Gesetz

Die realexistierende LGBTI*-Szene verteidigt das Gesetz – einige kommentieren nun jedoch, der Fall Liebich dürfe nicht das Selbstbestimmungesetz zur Disposition stellen. Bodo Niendel, vormals Experte in der Linkspartei-Bundestagsfraktion für Queeres, schreibt im nd:

„Das Hochjazzen der Causa Liebich und der Versuch der Union, das SBGG wieder zu kippen, will Mehrheiten in der Mitte und weiter rechts gewinnen. Minderheiten sollen Menschenrechte verwehrt und der Neoliberalismus weiter forciert werden.“

Das ist hübsch und für die Linkspartei weltanschaulich klassisch formuliert und zugleich am Problem vorbeigemogelt: Werden inhaftierte Frauen nicht durch medizinisch-pharmakologisch untransitionierte Personen (also: körperliche Männer) gerade in geschlossenen Räumen wie einem Gefängnis potenziell in Gefahr gebracht? Oder sollte man der Aktivistin Nora Eckert beipflichten, die auf queer.de befindet:

„Wie durchschaubar das schäbige Manöver ist, einen Einzelfall zur Krise des Rechtsstaats hochzustilisieren und einen Neonazi als Kronzeugen aufzurufen, um Minderheitenrechte in Frage zu stellen und lächerlich zu machen“.

Eckert weiter:

„Das SBGG muss sicher gemacht werden gegen jene, die es mit unlauteren Absichten in Misskredit bringen wollen.“

Doch das ist am Problem vorbeiargumentiert: Zu sagen, dass das Gesetz nur für nichtbinäre, Trans- und Interpersonen gelte, ist lächerlich. Das Gesetz definiert eben nicht, was unter „Nichtbinär“, „Trans“ oder „Inter“ zu verstehen wäre.

Mit anderen Worten: Das Gesetz, das sich vor dessen Beschlussfassung im Bundestag keiner Rechtsfolgenprüfung unterziehen musste, gilt auch für Personen wie Marla-Svenja Liebich. Ohne Prüfung. Nur durch Sprechakt. Dass Bundesinnenminister Alexander Dobrindt nun eine Kartei mit den Deadnames von seit 2024 sprechakttransitionierten Personen anlegen lassen möchte: Das ist die Folge eines Gesetzes, das juristisch einfach schlecht gemacht ist und der Reform nötiger denn je bedarf, und zwar gründlich.


Jan Feddersen ist Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.


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Das Selbstbestimmungsgesetz: Ein Desaster mit Ansage

Der Fall von Marla-Svenja Liebich konfrontiert wie kein anderer die Öffentlichkeit mit den Schwachstellen des Selbstbestimmungsgesetzes. Sogar dem Transaktivismus sonst zugeneigte Medien berichten in der Folge kritischer. Für Frauen ist es ein Desaster, dass erst Liebich die Aufmerksamkeit für die Risiken der selbstbestimmten Geschlechtsidentität brachte.

Blick in den Zellentrakt eines Gefängnisses in Berlin, Symboldbild für Artikel "Das Selbstbestimmungsgesetz: Ein Desaster mit Ansage"
Blick in den Zellentrakt einer Haftanstalt in Berlin. In Deutschland gilt in Sachen Geschlecht das Trennungsgebot bei der Haftunterbringung (Foto von Matthew Ansley auf Unsplash).

1. September 2025 | Till Randolf Amelung

Marla-Svenja Liebich, eine rechtsextremistische Person aus Sachsen-Anhalt, machte in den vergangenen Monaten Schlagzeilen, weil sie ihren Personenstand und ihren Vornamen mithilfe des Selbstbestimmungsgesetzes ändern ließ und seither allen Anwaltspost zukommen lässt, die behaupten, sie sei nicht schon immer eine Frau gewesen. Und noch wichtiger: Liebich wurde inzwischen rechtskräftig zu 18 Monaten Haft verurteilt und wurde zum Antritt der Haft in die Frauen-JVA nach Chemnitz vorgeladen. In den Medien diskutierte man nun, ob Liebich trotz nicht vollzogener medizinischer Angleichung an den weiblichen Geschlechtseintrag in das Frauengefängnis aufgenommen werden muss oder was es sonst noch für Optionen geben würde. Inzwischen steht fest, dass wir vorerst nicht erfahren werden, zu welchem Ergebnis man gekommen wäre, da Liebich kurzerhand untergetaucht ist.

Warnungen vor Risiken im Selbstbestimmungsgesetz

Das Selbstbestimmungsgesetz ermöglicht es seit November 2024 allen erwachsenen BürgerInnen in Deutschland, ohne Plausibilitätsnachweis den Vornamen und Geschlechtseintrag zu ändern. Es war eines der Lieblingsprojekte der Ampel-Koalition unter dem ehemaligen sozialdemokratischen Kanzler Olaf Scholz. Bereits vor der Verabschiedung im Bundestag gab es viele Warnungen, dass eine voraussetzungslose Personenstandsänderung für Probleme sorgen wird. Insbesondere, dass es dann schwieriger wird, biologische Männer mit einer solchen Personenstandsänderung aus Frauenräumen zu verweisen.

CDU/CSU haben das Selbstbestimmungsgesetz von Anfang an abgelehnt, auch mit Verweis auf die Sicherheitslücken. Die aktuelle Liebich-Farce war also absehbar. Daher kommt nun von Innenminister Dobrindt (CSU) der Vorstoß, dass man diese Lücken im Gesetz schließt und nicht mehr bis zur im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD vereinbarten Evaluation des Selbstbestimmungsgesetzes abwartet.

Seine Parteikollegin Susanne Hierl hat das Selbstbestimmungsgesetz bereits in der vorherigen Legistlaturperiode kritisch begleitet:

„Der Fall Liebich zeigt eindrücklich, wozu die Möglichkeit einer voraussetzungslosen Änderung des Geschlechtseintrags führt. Unsere Bedenken waren begründet – selbst beim offensichtlichen Missbrauch des Gesetzes kann die Änderung des Geschlechtseintrags nicht verhindert werden. Dieses Gesetz wird dem Schutz vulnerabler Gruppen und auch den wirklich Betroffenen nicht gerecht. Für mich ist klar: Das Selbstbestimmungsgesetz ist so nicht tragbar. Spätestens nach der vereinbarten Evaluierung muss ernsthaft über eine Neuregelung gesprochen werden.“

Doch die SPD hat bereits klargestellt, dass es mit ihr keine Änderungen am Selbstbestimmungsgesetz geben werde, wie deren rechtspolitische Sprecherin Carmen Weggemann gegenüber dem ZDF sagte. Falko Droßmann, der queerpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, sagte gegenüber dem Spiegel: „Pauschale Verschärfungen oder ein Rückdrehen des Gesetzes lehne ich klar ab“.

Zustimmung sinkt

Dabei zeigen Ergebnisse einer von der Zeit beauftragten Umfrage, dass die Zustimmung zum Selbstbestimmungsgesetz in der Bevölkerung schwindet:

„Das Recht, das eigene Geschlecht beim Standesamt ändern zu lassen, wird zunehmend skeptischer gesehen. Diese Möglichkeit sieht das von der Ampelregierung verabschiedete Selbstbestimmungsgesetz vor. Die GLES-Forscher befragten dazu erstmals im Oktober 2022 die Bevölkerung: Damals fanden sie eine knappe Mehrheit, die diesem Vorhaben ganz oder eher zustimmte. Inzwischen bewertet es nur noch ein Drittel der Befragten positiv. Etwa vierzig Prozent lehnen das Gesetz inzwischen ab.“

Womöglich wären die Ergebnisse schon 2022 anders ausgefallen, hätten die Medien damals in Sachen Selbstbestimmungsgesetz ihren Job richtig gemacht und differenziert über das neue Gesetz aufgeklärt. Die Ergebnisse der Zeit-Umfrage passen aber in ein Muster, was bereits in anderen Ländern beobachtet wurde: Sobald in der Bevölkerung besser verstanden wird, welche Konsequenzen transaktivistische Forderungen haben können, desto eher sinkt die Zustimmung.

Volker Beck, ehemaliger Bundestagsabgeordneter für die Grünen, äußerte sich daher jetzt selbstkritisch im Kurznachrichtendienst X:

„Erste Entwürfe dieses Gesetzes stammen zwar von mir. Ich habe aber schon in der letzten Wahlperiode geraten: ‚Wir müssen aufpassen, dass wir die Gesellschaft mitnehmen. Mit dem Kopf durch die Wand lässt sich Respekt für Trans* nicht durchsetzen.'“

Biologische Männer als Sicherheitsrisiko

Wahrscheinlich atmen gerade einige in deutschen Behörden und in den Parteien erleichtert auf, dass Liebich sich offenbar entschlossen hat, die Möglichkeiten mit einem Personenstandswechsel in Haft nicht weiter juristisch auszuloten, sondern unterzutauchen. Für Frauen ist es ein Schlag ins Gesicht, dass es erst eine rechtsextremistische Person brauchte, um die dem Transaktivismus mehrheitlich wohlgesonnenen Medien aufzuscheuchen und den Scheinwerfer auf die Schwachstellen des Selbstbestimmungsgesetzes zu richten.

Die Insassinnen der JVA Chemnitz haben bereits 2023 leidvolle Erfahrungen mit dem Vorrang einer Geschlechtsidentität vor biologisch-körperlichen Tatsachen machen müssen: Dort wurde ein biologischer Mann aufgrund einer geäußerten Transidentität in die Frauen-JVA verlegt, obwohl keine körperliche Angleichung vollzogen wurde. Dieser Häftling soll weibliche Mithäftlinge und Wachpersonal sexuell belästigt und bedroht haben. Auch soll er im Flur seinen Penis entblößt und masturbiert haben. Erst, nachdem die Insassinnen sich an die Medien gewandt haben, wurde dieser Mann in ein Männergefängnis verlegt.

Ein anderer Fall ist der von Henrico Hilton G., der 2024 in einem Potsdamer Asylheim einen Wachmann erstochen hatte und sich „Cleopatra“ nannte. Trotzdem keine Änderung des Geschlechtseintrags und auch keine medizinische Angleichung stattgefunden hatte, wurde er zunächst monatelang in einem brandenburgischen Frauengefängnis untergebracht. Wie die Welt berichtete, soll er dort weibliche Häftlinge schikaniert und Morddrohungen gegen sie ausgesprochen haben. Ebenso soll G. alle mit Lärm am Tag und in der Nacht über die Heizungsrohre und durch Schlagen gegen die Zellenwände terrorisiert haben. Hinzu seien regelmäßig abwertende, vulgäre und rassistische Beleidigungen von G. ausgesprochen worden. Auch hier wurde dem Spuk schließlich durch die Überführung in eine Männer-JVA ein Ende bereitet, wo er eigentlich von Beginn an hätte untergebracht werden müssen.

Korrektur dringend nötig

Inge Bell, Unternehmerin und Frauenrechtlerin, äußerte sich auf Facebook:

„Der Fall Liebich ist kein kurioser Einzelfall, er ist ein Menetekel. Er zeigt, wie leichtfertig die Ampel-Regierung ein ideologisches Projekt durchgedrückt hat: Ohne Rechtsfolgenabschätzung, ohne Blick auf Sicherheit, ohne Rücksicht auf Frauenrechte.“

Die SPD wäre gut beraten, sich endlich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen und Verantwortung für den auch von ihnen begangenen schwerwiegenden Fehler namens Selbstbestimmungsgesetz zu übernehmen. Anstatt zu blockieren, sollte man sich mit der Union zusammensetzen und ein neues Gesetz erarbeiten, was das Selbstbestimmungsgesetz ablöst. Denn: Die nächsten kontroversen und zugleich vermeidbaren Fälle lassen sicher nicht lange auf sich warten.

Wenn man aus dieser Farce etwas lernen sollte, dann dass auch Forderungen von vulnerablen Minderheiten sorgfältig zu prüfen sind. Ebenso muss man standhaft gegenüber moralischen Erpressungen sein, wenn Forderungen einen deutlichen Haken für andere haben.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Folsom und Schwestern der Perpetuellen Indulgenz: Hommage an zwei Institutionen schwuler Kultur

Am heutigen Sonntag endet das Folsom Europe Straßenfest in Berlin – das Hochamt für die Fetischcommunity. Auch die Schwestern vom Orden der Perpetuellen Indulgenz, die seit der Aidskrise für karikative Projekte in der Community sammeln waren wieder dabei. In einer sehr persönlichen Rede hat der Schauspieler Gustav Peter Wöhler berichtet, welche Bedeutung Folsom und die Schwestern für ihn als schwuler Mann haben.

Porträtfoto von Gustav Peter Wöhler (Fotografin: Jeanne Degraa), Symbolfoto für Text "Folsom und Schwestern der Perpetuellen Indulgenz: Hommage an zwei Institutionen schwuler Kultur"
Gustav Peter Wöhler (Foto: Jeanne Degraa).

Redaktionelle Vorbemerkung: Dieser Text dokumentiert die Rede von Gustav Peter Wöhler, die er bei der Release-Party des Jahrbuch Sexualitäten 2025 am 18. Juli in der taz Kantine gehalten hat. Darin würdigt er als Erstleser die Essays „Ist der Ledermann noch zeitgemäß?“ von Denis Watson und „Schluss mit der Schuld!“ von Schwester Daphne Sara Maria Sanguina Mater d`Or.

31. August 2025 | Gustav Peter Wöhler

Wenn du eine Community sichtbar machen willst, musst du ihr eine Bühne geben.

Alain Rappsilber, Box Magazin Nr. 325, September 2020

Als mein schwules Erwachen 1978 begann, waren Lederkerle für mich das Non plus Ultra ! Ich wollte so einem Mann gehören, ein devoter Meisterschüler meines Herrn werden. Aufgewachsen in dörflicher Ödnis, wo der Bauer in der Nachbarschaft mit seinen Gummistiefeln schon Erektionen hervorrief, kam ich dann 1982 nach Hamburg. Hier liefen die Leder-und Fetischkerle mutig und selbstbewusst durch die Lange Reihe oder die Talstrasse. Ein El Dorado.

Doch habe ich es bis heute nicht einlösen können, mich mit Leder oder Gummi einzukleiden. Da war zuviel Angst und Scham, trotz meines offensiven Auftretens als Schwuler. Ein Lederschwuler war noch einmal ’ne Ecke höher angesiedelt , jedenfalls für mich. Und mein damaliger Regisseur Peter Zadek schrie seine Kostümbildnerin an, als sie es wagte mich in einem Shakespeare Stück, in eine enge Lederchaps zu zwängen: „Ich will auf dieser Bühne keine faschistischen Klamotten sehen!“

Ich las dann Eppendorfers: „Der Ledermann spricht mit Hubert Fichte“. Beide durfte ich noch in Hamburg zu ihren Lebzeiten kennenlernen. Der Ledermann ist ein Kerl, ein Mannsbild ein weicher und sensibler Mensch.

Nicht nur kinky Straßenparty

Und Folsom Street Fair oder Folsom Europe ist nicht bloß eine kinky Straßenparty für Fetisch Fans und ihre Voyeure, die sich anschließend darüber aufregen, dass ihre Fantasien nicht eingelöst wurden bzw. dass ja auch kleine Kinder zusehen mussten und ihre Eltern jetzt damit löchern, auch so eine schöne Hunde-oder Pferdemaske zu Weihnachten auf dem Gabentisch vorzufinden.

Es ist ein Fest, um das Leben zu feiern, das Leben, das vielen queeren Menschen durch die HIV und AIDS Jahre genommen wurde. An diese Menschen zu erinnern und der Prävention unter die Arme zu greifen, wurde die „Folsom Street Fair“ 1984 in San Francisco ins Leben gerufen. Patrick Toner, einer der Mitbegründer sagte es in seinen Worten:

„Es war ein Statement: Wir sind hier, wir sind laut und wir lassen uns nicht auslöschen, weder durch eine Krankheit noch durch die Politik.“

Dass es vor allem Leder und Fetisch Schwule waren, die sie gegründet haben lag wohl auch an der traurigen Situation, dass aus diesen Kreisen, die wohl häufigsten HIV- und Aidsfälle und -tode beklagt werden mussten.

Folsom Europe wurde 2004 erstmals in Schöneberg veranstaltet. Es hat sich im Lauf der Jahre zu einem vielfältigen Schauplatz unterschiedlichster Gruppen und Fetische entwickelt und zeigt die Bandbreite und Lust sexueller Identitäten auf, ohne dabei die politischen und sozialen Aspekte, die damit zusammenhängen, unter den Tisch zu kehren. Ich danke Denis Watson sehr für seinen Beitrag im Jahrbuch Sexualitäten 2025. Ich habe vieles neu erfahren. Viele Klischees wurden aufgeklärt und entwirrt

Cover Jahrbuch Sexualitäten 2025

Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von Jan Feddersen, Marion Hulverscheidt und Rainer Nicolaysen.

Mit Beiträgen von: Kerstin Söderblom, Dinçer Güçyeter, Zaal Andronikashvili, Manuela Torelli, Chantalle El Helou, Till Randolf Amelung, Ioannis Dimopulos, Julia Kaiser, Denis Watson, Schwester Daphne Sara Maria Sanguina Mater dʼOr OSPI, Karl-Heinz Steinle, Norbert Finzsch, Aaron Gebler, Werner Renz, Clemens Schneider, Vojin Saša Vukadinović  und Alexander Zinn. 232 S., gebunden mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-8353-5917-8, 34,00 Euro.

Perpetuelle Indulgenz und schwules Selbstbewusstsein

Ebensolchen Dank spreche ich Schwester Daphne Sara Maria Sanguina Mater d’Or vom Orden der Schwestern der Perpetuellen Indulgenz für ihren Beitrag in diesem Jahrbuch aus.

Auf keinem Folsom, auf keinem CSD, auf so gut wie allen schwulen Festivitäten und queeren Demonstrationen trifft man sie an und sie geben mir jedes Mal das Gefühl, am richtigen Ort zu sein. Ihre Art mit den Menschen das Fest der Liebe, des schwulen Selbstbewusstseins, der Würde und des politischen Zusammenhalts zu feiern, zu leben, zu lieben, packt mich jedes Mal an der Wurzel meiner eigenen Empathie.

Perpetuelle Indulgenz: dauerhafte Gnade, Güte, Nachsicht, Nächstenliebe. Diese Nonnen bezeichnen sich auf ihrer Website als aktivistisch, spirituell und ein bisschen verrückt. Sie wollen uns die „Schuld“ nehmen, uns mit Ihrer Liebe und Verbundenheit, das Recht auf Lust und Freude an der schwulen, queeren Sexualität wiedergeben oder den ersten Schritt dazu, zu wagen.

Und sie erinnern uns mit jeder Geste und mit jeder Erscheinung daran, all die Bedürftigen und Kranken nicht zu vergessen und die vielen Freunde, PartnerInnen, LiebhaberInnen, die an AIDS sterben mussten, zu ehren und sie durch unsere Liebe und Gedanken unter uns zu wissen. Gegründet wurde der Orden 1979 in San Francisco und wurde schnell zu einem Bestandteil der Folsom Street Fair. Mittlerweile hat sich der Orden über die ganze Welt verbreitet.

Ihre farbenfrohe Erscheinung ist bis heute überall auf der Welt bei schwulen Festen und Demos nicht mehr wegzudenken. Ihre weiß geschminkten Gesichter symbolisieren den Tod und die bunten bis schrillen Ornate, die sie tragen, und die in jedem Land, in dem ihr Orden existiert, anders ausfallen, das Leben und die Freude und Lust. Ihre Spiritualität zeugt von allumfassender Liebe und Verständnis.

Selbstverständlich wird auf all diesen Events fleißig die Kollekte gesammelt, die 100 Prozent an die bedürftigen Stellen weitergeleitet wird. Die Schwestern der Perpetuellen Indulgenz sind anerkanntes Mitglied der Deutschen Aidshilfe e.V. und des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Landesverband Berlin e.V.

Wer jetzt auf den Gedanken kommt, eine dieser Nonnen zu werden, sollte schnellstens dieses Buch kaufen und Schwester Daphnes Beitrag lesen oder ins Gespräch mit Schwester Daphne Sara Maria Sanguina Mater d`Or kommen. Es wird ein harter, entbehrungsreicher Weg, um in diesen Orden einzutreten. Prüfungen und Exerzitien wechseln einander ab, doch wer durchhält wird von Liebe und Glückseligkeit durchströmt und bekommt auf jedem CSD-Truck den besten Platz. Umsonst!


Gustav Peter Wöhler ist ein deutscher Schauspieler, Sänger und Hörspielsprecher. Als Theaterschauspieler hat er mit Regisseuren wie Claus Peymann und Peter Zadek zusammengearbeitet. Im Fernsehen ist er vor allem durch Krimiserien bekannt geworden. 2013 erhielt er den Deutschen Hörbuchpreis als Bester Interpret. Mit seinem Mann Albert Wiederspiel lebt er in Berlin. Im Februar 2021 nahm er an der Initiative #actout im SZ-Magazin mit 184 anderen queeren SchauspielerInnen teil.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Folsom Europe 2025: Mehr als nackte Kerle in Leder

Warum Folsom Europe alle angeht, und wieso queeres Leben ohne Fetisch unvollständig erzählt wäre. Ein Gastbeitrag.

Drei Bersucher des Folsom Berlin 2024. Symbolbild für Artikel Folsom Europe 2025: Mehr als nackte Kerle in Leder
Besucher des Folsom Europe (Foto: Heinrich von Schimmer).

27. August 2025 | Denis Watson

Ja, Ich gebe es zu, wenn man „Folsom Europe“ hört, denken viele sofort an halbnackte Männer in Leder und Latex, mit Hundemasken auf der Straße. Berlin im Ausnahmezustand quasi, Sodom und Gomorrha auf der Fuggerstraße. Klingt spektakulär, ist aber nur die halbe Wahrheit.

Denn was hier im Spätsommer jedes Jahr in der Fuggerstraße stattfindet, ist viel mehr als eine schrille Freakshow für Voyeur*innen. Es ist ein internationales Treffen einer Community, die sonst oft im Schatten steht: Menschen, die Sexualität nicht nur im Schlafzimmer, sondern auch als Ausdruck von Identität, Nähe und Solidarität verstehen. Kink, Fetisch, BDSM, dass sind Begriffe, die viele mit Pornoklischees verbinden, sind für uns Teil eines gelebten queeren Spektrums.

Und genau darum geht es: Queeres Leben ist vielfältig und Fetisch gehört halt auch dazu. Wer von queerer Sichtbarkeit spricht, sollte neben den Regenbogenfahnen uund Prideparaden auch diejenigen, die sich in Leder, Gummi oder Uniformen zuhause fühlen nicht vergessen. Denn auch wir fordern nichts anderes ein als alle anderen: das Recht, offen zu leben, wie wir sind.

Folsom Europe ist dabei mehr als nur ein Straßenfest. Es ist eine Plattform für Sichtbarkeit. Jedes Jahr kommen Tausende aus aller Welt nach Berlin. Sie bringen ihre Geschichten mit, ihre Kulturen, ihre Lust und finden hier einen Safe Space, an dem sie nicht schief angeschaut werden, sondern Schulter an Schulter feiern können. Die Botschaft: Du bist nicht allein.

Und weil es nicht nur ums Feiern geht, sammeln wir jedes Jahr Spenden an den Eingängen. Hunderttausende Euro sind so über die Jahre zusammengekommen. Geld, das in Gewaltprävention, Aidshilfe, Aufklärungskampagnen fließt. Das mag weniger sexy klingen als ein Lederharnisch, ist aber mindestens genauso wichtig.

Ja, wir sind laut, manchmal provokant und natürlich immer gut poliert. Aber vor allem sind wir eine Community, die füreinander da ist. Die Bilder von Männern in Harnesses, von Pups in Hundemasken oder von Paaren in Latex sind schön fürs Auge, aber die Substanz liegt darunter: Zusammenhalt, Solidarität, Sichtbarkeit.

Warum also sollte Folsom Europe alle angehen? Weil es zeigt, dass Freiheit nicht verhandelbar ist. Dass queeres Leben immer mehr ist als das, was man auf den ersten Blick sieht. Und dass unsere Gesellschaft genau davon profitiert, wenn auch jene sichtbar werden, die sonst am Rand stehen.

Fetisch ist nicht der Gegensatz zu Politik – er ist politisch. Er erinnert daran, dass Körper, Lust und Lebensformen nicht der Norm gehorchen müssen, um wertvoll zu sein. Und er lädt alle ein, sich darauf einzulassen. Vielleicht mit Verwunderung, vielleicht mit einem Schmunzeln, aber hoffentlich immer mit Respekt.

Folsom Europe ist, um es mit einem Augenzwinkern zu sagen: The sexiest social. Aber es ist eben auch ein politisches Statement. Und das geht uns alle an.


Denis Watson, geb. 1987, Grafiker und Vorstand des Folsom Europe e. V., eines der größten europäischen Fetisch-Events mit starkem Fokus auf queere Community-Arbeit; er engagiert sich aktiv für die Sichtbarkeit und Vernetzung queerer Subkulturen, insbesondere im Bereich Fetisch und Puppy Play; seine Arbeit umfasst Grafikdesign, PR und die Entwicklung von Merchandising-Strategien, zudem beschäftigt er sich mit der Darstellung queerer Ästhetik in visuellen Medien.


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SEGM und EPATH: Zwei medizinische Konferenzen zu Trans

Im September finden im Abstand von nur einer Woche zwei medizinische Fachkonferenzen statt: eine trans-affirmativ orientierte in Hamburg und eine mit kritischer Haltung gegenüber dem affirmativen Modell in Berlin. Es ist eine vertane Chance, den fachlichen Diskurs in einer gemeinsamen Veranstaltung zu suchen und somit der Verantwortung insbesondere gegenüber Minderjährigen gerecht zu werden.

Aufnahme vom Brandenburger Tor in Berlin, Symbolbild für Artikel "SEGM und EPATH: Zwei medizinische Konferenzen zu Trans"
Berlin: SEGM wird in der Bundeshauptstadt eine Konferenz abhalten (Foto: Claudio Schwarz).

24. August 2025 | Till Randolf Amelung

Nicht nur politisch, auch in medizinischer Hinsicht gibt es im Themenfeld „Trans“ Kontroversen. Besonders wenn es um die Frage geht, ob bereits Kinder und Jugendliche in einer vom biologischen Geschlecht abweichenden Geschlechtsidentität bestätigt werden sollen, auch mit Hilfe von Medikamenten wie Pubertätsblocker. Im September werden in Deutschland gleich zwei Fachkonferenzen stattfinden, die sich mit diesen aktuellen stritten Fragen beschäftigen wollen: Vom 4. bis 6. September veranstaltet die European Professional Association for Transgender Health (EPATH) in Hamburg eine Konferenz. Nur eine Woche später lädt die Society for Evidence-Based Gender Medicine (SEGM) nach Berlin ein.

Proteste gegen SEGM-Veranstaltung

Doch der Umgang mit diesen beiden Veranstaltungen unterscheidet sich erheblich: Gegen die Konferenz der SEGM wird zu Protest aufgerufen. Die Deutsche  Gesellschaft für Trans*- und Inter*geschlechtlichkeit e.V. (dgti) schrieb gar am 10. Juni in einer Pressemeldung:

„Vor der Teilnahme an dieser Tagung wird an dieser Stelle ausdrücklich gewarnt, weil diese Veranstaltung aufgrund begründeten Verdachts gegen die Gesundheitsversorgung geschlechtsdiverser Menschen gerichtet ist.“

Auf Instagram postete ein Bündnis namens „Transfeinde stressen“ am 22. August:

„Wir lassen nicht zu, dass in Berlin transfeindliche Hetze als seriöse Wissenschaft verkauft wird. Wir treten ein für eine Gesundheitsversorgung, die auf den Bedürfnissen, Rechten und der Selbstbestimmung von trans Menschen basiert und nicht auf Ideologie und Falschinformation.“

Ein Blick in das sehr dichte Konferenzprogramm zeigt, weshalb Transaktivistas so auf die SEGM-Veranstaltung reagieren. Der Fokus dieser Konferenz liegt auf dem Feld „Geschlechtsdysphorie bei Minderjährigen“ und thematisiert wesentliche Aspekte, die in den vergangenen Jahren für Kontroversen gesorgt haben. Insbesondere versammeln sich dort Personen, die das von Transaktivistas promotete gender-affirmative Modell bei Kindern und Jugendlichen kritisieren. Mit „gender-affirmativ“ ist gemeint, die geäußerte Geschlechtsidentität ohne Umwege zu bestätigen und so früh wie möglich mit Pubertätsblockern sowie gegengeschlechtlichen Hormonen in die körperliche Entwicklung einzugreifen.

Schwache Evidenz

Doch die medizinische Evidenz für diesen Ansatz ist schwach, was bedeutet, dass langfristige Risiken für die mit Pubertätsblockern Behandelten unbekannt sind und daher nicht ausgeschlossen werden können. Besonders eindrücklich belegte dies der Cass-Report aus Großbritannien, weitere Paper aus anderen Ländern stützen den Befund. Vorliegende Berichte legen auch nahe, dass bei dem affirmativen Ansatz Kinder und Jugendliche durchs Raster rutschen, die andere Unterstützung für ihre Probleme mit dem Geschlecht benötigen, aber keine medikamentösen Eingriffe in die biologische Entwicklung.

Es ist bekannt, dass gerade Mädchen und Jungen mit einer krisenhaften homosexuellen Entwicklung Geschlechtsdysphorie empfinden können. Ebenso sind Mädchen generell anfälliger für Pubertätskrisen mit geschlechtsdysphorischen Empfinden. Weitere Risikogruppen sind Minderjährige mit Autismus sowie Belastungen durch schwerwiegende frühe Traumatisierungen, insbesondere durch sexuelle Gewalt.

Für Transaktivistas und ihre Verbündeten im medizinischen Feld gilt jedoch, dass in allen Fällen die Affirmation der Geschlechtsidentität Vorrang haben soll. Eine ausführliche psychiatrische Differentialdiagnostik und ein Erforschen anderer Lösungsmöglichkeiten wird als „transfeindlich“ abgekanzelt. Dies wird von anderen medizinischen und psychotherapeutischen Fachleuten zunehmend in Zweifel gezogen, auch vor dem Hintergrund, dass es in den vergangenen zehn Jahren einen spürbaren Anstieg an Behandlungssuchenden gab, der bislang nicht plausibel erklärt werden kann.  Außerdem gibt es zunehmend Berichte über junge Menschen, die sich im Nachhinein durch irreversible Eingriffe einer Transition geschädigt fühlen, da ihnen vorher keine alternativen Wege aufgezeigt wurden.

Nur gender-affirmativ?

Im Programm der SEGM-Konferenz werden all die strittigen Fragen aufgegriffen und zur Diskussion gestellt. Niemand der gelisteten Referenten will eine Gesundheitsversorgung für „geschlechtsdiverse Menschen“ abschaffen. Gleichwohl aber wird in Frage gestellt, ob es nur „affirmation only“ geben darf – und das ist nicht nur legitim, sondern angesichts der Irreversibilität medizinischer Transitionsmaßnahmen und der besonderen Schutzbedürftigkeit von Minderjährigen auch notwendig.

Im Gegensatz dazu wirkt das Programm der EPATH-Konferenz so, als würden kritische Perspektiven auf das affirmative Modell keine faire Würdigung erhalten. Hier treten, soweit auf der Website des Veranstalters ersichtlich, nur VerteidigerInnen dieses Ansatzes auf. Auch der Psychiater Georg Romer und seine Schweizer Fachkollegin Dagmar Pauli werden dort sprechen, beide verantworten maßgeblich die umstrittene deutsche S2k-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnose und Behandlung“.

Wie schwer sich Romer mit Kritik am von ihm vertretenen affirmativen Ansatz zu tun scheint, offenbarte sich 2024 auf der Jahreskonferenz der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP). Dort war eine Diskussionsveranstaltung im Programm geplant, bei der neben Romer auch zwei Kritiker am affirmativen Modell, Florian Zepf und Veit Rössner, sprechen sollten. Jedoch waren die Bedingungen kurzfristig so gestaltet worden, dass Zepf und Rössner keinen gleichberechtigten Raum bekamen, ihre Kritik vorzutragen und zogen daher ihre Teilnahme wieder zurück.

Politische Wertschätzung für trans-affirmative Konferenz

Interessant ist zudem, wie unterschiedlich die Aufmerksamkeit der Politik ist, die den Konferenzen zuteilwird: Die trans-affirmative EPATH-Konferenz wird von der Hamburger Wissenschaftssenatorin Maryam Blumenthal (Bündnis 90/ Die Grünen) mit einem Grußwort beehrt, was freilich zur Linie ihrer Partei passt. Auf der SEGM-Konferenz wird sich offenbar kein politischer Vertreter sehen lassen. Dafür wird diese Konferenz aber von der International Association of Child and Adolescent Psychiatry and Allied Professions (IACAPAP), der internationalen medizinischen Fachorganisation der Kinder- und Jugendpsychiater, empfohlen. Auf der Website der EPATH-Konferenz sieht man hingegen kein Logo einer medizinischen Fachgesellschaft bei den Unterstützern.

Nun werden im kommenden Monat also zwei inhaltlich gegensätzliche Konferenzen stattfinden. Dabei wäre es notwendig, diese unterschiedlichen Perspektiven in einer gemeinsamen Konferenz zu diskutieren, um die bestmöglichen Behandlungsansätze für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie zu entwickeln.

Wohin das Beharren auf Ideologie, anstatt auf ethischer Verantwortung und medizinischer Evidenz führen kann, ist eindrucksvoll am Beispiel der USA zu sehen. Dort haben Trumps MAGA-Republikaner das Thema erfolgreich besetzen können und reihenweise gesetzliche Verbote für Behandlungen nach dem affirmativen Modell bei Minderjährigen erlassen. Zuletzt bestätigte der Supreme Court, dass solche Verbote nicht gegen die Verfassung verstoßen.

Gesetzliche Verbote sind die Blutgrätsche, die ein Staat einsetzen muss, wenn die Fähigkeiten zur Korrektur in einem wissenschaftlich-medizinischen Feld nicht mehr vorhanden sind. Die deutschen Transaktivistas und ihre Allies wären also gut beraten, nicht gegen die SEGM-Konferenz zu protestieren, sondern das Gespräch mit den dortigen Fachleuten zu suchen und sich zu fragen, ob man mit „affirmation only“ wirklich allen hilft.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Cancel Culture: Wie verletzte Gefühle Meinungskorridore zusperren

Der Vorwurf von Transfeindlichkeit kann wie nichts anderes dafür sorgen, dass man Mechanismen der Cancel Culture am eigenen Leib erfährt – bis hin zur Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz. An einem Fall zeigt sich, wie hochgradig manipulativ Aktivistas diesen Vorwurf einsetzen – und damit nicht nur Personen, sondern auch einer demokratischen Debattenkultur schaden.

Symbolbild für Cancel Culture: Wie verletzte Gefühle Meinungskorridore zusperren
Cancel Culture: Kein Durchkommen für eine demokratische Debattenkultur (Foto von Othman Alghanmi auf Unsplash).

20. August 2025 | Till Randolf Amelung

Ein kleiner Fall zeigt eindrucksvoll, wie Cancel Culture funktioniert: Die Kommunikationsberaterin Sigi Lieb wurde vom Berufsverband Vielfalt und Karriere e.V. (früher: Völklinger Kreis) für einen Workshop zum Thema „Gendern für Profis“ gebucht. Doch wenige Tage nach dem Start der Werbung für diese Veranstaltung, wurde diese vom Bundesvorstand des Verbands wieder abgesagt. Wie Lieb auf der Plattform LinkedIn in einem öffentlichen Beitrag schreibt, seien an die Adresse der Veranstalter Beschwerden gerichtet worden, sie wäre transfeindlich. Kurios: Dabei wäre es in der Veranstaltung um Fragen der praktischen Umsetzung von geschlechtersensibler Sprache und nicht um das Thema „Trans“ gegangen.

Cancel Culture zerstört wirtschaftliche Existenzen*

Lieb traf die darauf folgende Absage  unvorbereitet, und sie machte ihrer Frustration Luft:

„Seit Erscheinen meines Buches ‚Alle(s) Gender‘ im März 2023 gibt es eine radikalisierte Minderheit, die gegen mich hetzt, mobbt, hinter meinem Rücken Auftraggeberinnen kontaktiert und versucht, meine wirtschaftliche Existenz zu zerstören. Ich dachte, der Völklinger Kreis sei stabil und zeige Rückgrat. Tut er nicht, sondern knickt ein, fragt mich nicht einmal, sondern sagt ab. Danke für nichts. Diese Art von Hetze ist nicht nur eine psychische Tortur, sondern auch eine körperliche Erfahrung. Ich habe kaum geschlafen und mich viel übergeben. Die wirtschaftliche Bedrohung brauche ich nicht zu erklären.“

Frank Sarfeld, ein Mitglied des Bundesvorstands des VK, reagierte auf Liebs Öffentlichmachen der Veranstaltungsabsage ebenfalls auf LinkedIn und bestätigte darin, dass jene an den Vorstand herangetragenen Bedenken den Ausschlag für die Ausladung Liebs gaben:

„Die für den 8. September geplante Veranstaltung ‚#Gendern für Profis‘ war die Initiative einiger Mitglieder unseres Verbands. Kurz nach Veröffentlichung der Einladung erreichten uns zahlreiche Rückmeldungen mit Bedenken zur Person der Referentin, insbesondere im Hinblick auf ihre Positionen zu #trans* Themen. Nach Abwägung aller Aspekte kam der Vorstand des VK zu dem Schluss, dass unter diesen Umständen der offene und unbefangene Austausch, den wir bei unseren Veranstaltungen anstreben, nicht gewährleistet gewesen wäre. Wir nehmen die geäußerten Bedenken ernst und bedauern gleichzeitig den Unmut der Referentin. Angesichts des Zeitplans war die Absage die einzig sachgerechte Entscheidung.“

Unkonkrete Vorwürfe

Die Bedenken wurden jedoch nicht weiter konkretisiert – auch nicht gegenüber der Referentin selbst, wie diese sagte. In einem Hintergrundgespräch von IQN mit einem Vertreter des VK wurden ebenfalls keine Details offenbart. Lieb macht das fassungslos, da sie sich nach eigener Darstellung immer darum bemühe, Transpersonen nicht zu misgendern (d.h. nicht mit abgelegten Namen und Anrede zu adressieren) sowie sich seit Jahren für geschlechtergerechte Sprache einsetze – trotz Anfeindungen aus dem politisch rechten Spektrum.

Aus anderen Cancel-Fällen ist bekannt, dass es selten detaillierte Begründungen braucht, um von Veranstaltern zu verlangen, dass eine bestimmte Person nicht auftreten/engagiert/gebucht werden darf. Unter dem LinkedIn-Beitrag von VK-Vorstandsmitglied Sarfeld wird dies dankenswerterweise von anderen Mitgliedern der Plattform in den Kommentaren vorgeführt. Ein Mann, der auch Mitglied im VK ist, schrieb:

„Wir stehen für Respekt, Vielfalt und Miteinander – und dafür, dass sich alle bei unseren Veranstaltungen sicher und willkommen fühlen können.“

Lieb wiederum ging in die Offensive und kommentierte darunter ihre Vermutung, weshalb ihr „Transfeindlichkeit“ vorgeworfen wird:

„Ich bin der Meinung, wir müssen über Interessenskonflikte zwischen Frauenrechten, Homosexuellenrechten und Transrechten offen reden und dürfen diese Debatte nicht rechten Medien überlassen. Es gibt Teile [der Transaktivistas, Anm. d. A.], die fordern ‚No Debate‘. Aus dieser Ecke kommt, soweit ich das beobachte, die Verleumndung [sic!] und der Hass gegen mich und gegen alle, die es wagen, offen debattieren zu wollen.“

Wie bestellt, kommentierte dort auch eine Transfrau und richtete sich an Lieb:

„Dann lesen Sie sich mal durch, mit welchen unsinnigen Argumenten Sie gegen das Selbstbestimmungsgesetz öffentlich agitiert haben. Glauben Sie, dass die Art und Weise, in Sie das dort verbreiten, dem Thema angemessen ist?“

Lieb reagierte darauf:

„Bitte nennen Sie mir konkret, welches Argument Sie warum kritisieren. Dann können wir uns in Sachargumenten und in Respekt austauschen.“

Doch die Transfrau schlug Liebs Angebot aus:

„Ich werde als gelernte Politikwissenschaftlerin und Jursitin [sic!], die selbst zum gesellschaftlichen Spektrum der trans Gender gehört, sicher keine Diskussion mit Ihnen über dieses Thema führen, weil ich mich durch Ihre Haltung in meiner Würde verletzt fühle.“

Verletzte Würde als Manipulationstaktik

Mit Verweis auf (vorgeblich) verletzter Würde oder eine (behauptete) herausragende Vulnerabilität (Verletzlichkeit) lässt sich vor allem beim Thema „Trans“ jede Sachdebatte abwürgen. Wer nicht zu hundert Prozent die Positionen und Forderungen transaktivistischer Akteure und Verbände bejaht, wird von diesen bekämpft. Doch was wird im Fall Sigi Liebs eigentlich bekämpft?

In ihrem Blogbeitrag zum Inkrafttreten des Selbstbestimmungsgesetz erläutert sie, welche Kritikpunkte es am Gesetz gibt. Insbesondere der Verzicht auf jedweden Nachweis über die Motivation für eine Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags öffnet Tür und Tor für Personen, denen es offensichtlich um andere Gründe als um einen Einklang zwischen Identität und Ausweisdokumenten geht. Besonders gefährdet sind davon Frauen, weshalb einige von ihnen vehement gegen das Selbstbestimmungsgesetz kämpfen.

Seit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes gibt es Berichte über fragwürdige Fälle und Schlupflöcher. Zuletzt machte der Fall von Marla-Svenja Liebich Schlagzeilen, da bei der Person aus der rechtsextremistischen Szene von Halle erhebliche Zweifel bestehen, ob die Inanspruchnahme des Selbstbestimmungsgesetzes tatsächlich auf einen Konflikt mit dem Geschlecht beruhte oder nur eine drohende Inhaftierung vermieden werden sollte. Nun wurde bekannt, dass Liebich in ein Frauengefängnis soll – trotz nicht vollzogener körperlicher Angleichungsschritte an das weibliche Geschlecht.

Auch die Schlupflöcher, die sich durch das Selbstbestimmungsgesetz auftun, sind interessant. Eine auf Steuerrecht spezialisierte Anwaltskanzlei informiert offen über die Möglichkeit, mittels einer Änderung des Geschlechtseintrags Steuern einzusparen:

„Die voraussetzungslose Änderung des Geschlechtseintrags aufgrund der neuen Rechtslage nach dem SBGG kann vor einer Schenkung oder Veräußerung gegen Leibrente zu steuerlichen Vorteilen führen.“

Eine vorherige, sorgfältige Rechtsfolgenabschätzung war jedoch von den Verfechtern des Selbstbestimmungsgesetzes unerwünscht – auch hier wurden gern verletzte Würden und Gefühle ins Feld geführt. Wie lange kann man noch auf diese Weise manipulativ notwendige Debatten abwürgen?

*Redaktioneller Hinweis: Uns erreichte telefonisch die Klarstellung eines Vertreters des VK,  dass sie der Referentin ein Ausfallhonorar zahlen werden und sich von Vorwürfen einer Existenzgefährdung distanzieren. Wir weisen darauf hin, dass es in der beanstandeten Passage um ein Muster geht, was über diesen einzelnen Fall hinausreicht. Das Zitat Sigi Liebs beinhaltet ja bereits, dass es weitere Fälle gab. In der Summe hat es sehr wohl Auswirkungen auf die wirtschaftliche Existenz.  Daher bleiben wir bei unserer Darstellung.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Ralf König – der schwule Szene-Chronist feierte seinen 65. Geburtstag

Der für seine Knollennasen berühmte Comiczeichner Ralf König ist am 8. August 65 Jahre alt geworden.  Seit den 1980er Jahren begleitet er die queere Szene als Chronist durch alle Wirren und wird heute von einer großen Fangemeinschaft geschätzt. Doch auch er machte bereits Bekanntschaft mit aktivistischem Tugendfuror, worüber er im Jahrbuch Sexualitäten 2020 berichtete.

Ralf Königs Karikatur mit dem Titel "Zwietracht den Unzüchtigen!" zeigt eine Gruppe queerer Personen, die sich streiten und beleidigen, Symbolbild für "Ralf König – der schwule Szene-Chronist feierte seinen 65. Geburtstag".
Ein echter Ralf König aus dem Jahrbuch Sexualitäten 2020: Zwietracht den Unzüchtigen! (Foto: Ralf König).

17. August 2025 | Redaktion

Mit etwas Verspätung gratuliert auch die IQN Ralf König zum 65. Geburtstag! Niemand hat so treffend und so humorvoll die queere Szene in Comics festgehalten, wie er. Sein Humor, mit dem er pointiert und mit liebevoller Verbundenheit die Dinge beim Namen nennt, zeigt er auch in seinem Essay „Brüsseler Spitzen“ für das Jahrbuch Sexualitäten 2020, wo er über den queerfeministischen Furor gegen ein Wandgemälde in Brüssel berichtet. Anlässlich seines Geburtstages stellen wir diesen Essay kostenfrei als PDF zur Verfügung.

Diskriminierendes Wandgemälde

2019 wurden in Brüssel Vorwürfe gegen ein zu diesem Zeitpunkt bereits vier Jahre existierendem Wandgemälde von Ralf König erhoben, auf dem ein Tableau an Menschen im berühmten Knollennasenlook vertreten war, was die Vielfalt der queeren Szene zeigen sollte. Vier Jahre nach der Einweihung wurde das Bild von Aktivistas mit den Worten „RACISM“ und „TRANSPHOBIA“ besprüht. Die Darstellungen einiger der Figuren sei rassistisch und transphob – bemängelt wurden dicke rote Lippen bei einer schwarzen Frau und das Aussehen einer männlichen Figur in Frauenkleidung. Deshalb solle der Künstler das Gemälde überarbeiten.

Allerdings wurde in der Berichterstattung deutlich, dass sich die queerfeministischen Aktivistas nicht mit Königs Bildsprache auseinandergesetzt haben. Dicke rote Lippen sollen geschminkte Lippen symbolisieren und der Mann im Kleid mit Perücke ist eher als Tunte oder Dragqueen zu lesen, anstatt als Transfrau. Das stellte auch Ralf König in einer Antwort an die Brüsseler Aktivistas klar. Doch es half nichts, von ihren Interpretationen wollten die Aktivistas nicht abrücken.

Verbissene Interpretationen

Im Essay kommentierte König diese verbissene Interpretation:

„Es ist also verwirrend. Plötzlich bin ich als Zeichner transphob. Rassistisch gar, zusätzlich zu dicken- und frauenfeindlich. Letzterer Vorwurf begleitet mich schon seit den frühen Anfängen, obwohl auch meine schwulen Männchen wenig würdevoll testosteronbesoffen durch die Geschichten irrlichtern und meine Heterokerle oft grunzende Idioten sind. Zum Glück sind gut die Hälfte meiner Leser Leserinnen, die das nicht so verkniffen sehen und mitlachen.“

Ralf Königs Gedanken sind über den konkreten Anlass hinaus auch heute noch lesenswert, denn Interpretationskonflikte um Kunstwerke gibt es immer wieder. Erst im Mai dieses Jahres wurde beispielsweise aus dem Foyer eines Bundesamts in Berlin eine nackte Frauenstatue, eine Nachbildung der in Florenz ausgestellten „Venus Medici“ entfernt. Die Gleichstellungsbeauftragte hatte Sorge, diese Figur könnte als anstößig und sexistisch wahrgenommen werden.

Widersprüchliche Anforderungen

Auch darüber, wie sich Begrifflichkeiten wandeln und Anforderungen von Tugendwächternden widersprüchlich sein können, räsoniert König:

„Diese Anekdote und meine Verwirrung darüber beschrieb ich wiederum in meiner Kolumne, die ich quartalsmäßig für die Berliner »Siegessäule« schreibe, benutzte dabei unbedarft meinen vertrauten alten, weißen Wortschatz und bekam den Text vom Redakteur mit Bitte um Korrektur zurück. Ich weiß noch, wie ich mit Olaf, meinem Freund, vor dieser E-Mail saß und wir versuchten zu verstehen, worum es geht. Wir wussten bis dahin tatsächlich nichts von Begriffen wie »Cis-Mann« und »PoC«! Ich fürchte sogar, Wörter wie »Ausländer« oder »farbig« benutzt zu haben, mea culpa! Aber auch von meinen Kölner Freunden wusste kaum jemand, was ein »Cis-Mann« sein soll. Warum der Begriff »farbig« nicht geht, »People of Color« aber okay ist, will mir nicht einleuchten.“

Festhalten lässt sich diese von ihm formulierte Erkenntnis:

„Ebenjenes Motiv meines Brüsseler Wandbildes wurde übrigens zum Welt-Aids-Tag 2019 in Paris für eine HIV-PrEP-Aufklärungskampagne auf Taschen und Rucksäcke gedruckt und fotogen von Schwulen, Lesben, Drags, Schwarzen und François Sagat in die Kamera gehalten. Offenbar gibt es in der Szene keineswegs Einigkeit in der Frage, was PC ist und was nicht. Aber es gibt Diskussionsstoff, und niemand hat Anspruch auf alleingültige Wahrheiten. Und das ist gut so.“

Und damit auch von uns: Alles Gute nachträglich zum Geburtstag, lieber Ralf König!

Hinweis: Eine Weiterverbreitung ist nur mit Angabe der jeweiligen Quelle, also der entsprechenden Jahrbuch-Ausgabe, zulässig. Ebenso ist eine Verwendung für kommerzielle Zwecke ohne Genehmigung untersagt.


Jahrbuch Sexualitäten 2020

Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von: Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen und Benedikt Wolf.

Mit Beiträgen von Seyran Ateş, Dinos Christianopoulos, Adrian Daub, Stefan Donath, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Christiane Härdel, Patrick Henze, Manfred Herzer-Wigglesworth, Marion Hulverscheidt, Marco Kammholz, Roman Klarfeld, Ralf König, Anike Krämer, Adrian Lehne, Rainer Nicolaysen, Dierk Saathoff, Karsten Schubert, Vojin Saša Vukadinović und Benedikt Wolf.

262 S., 7 z.T. farb. Abb., geb., Schutzumschlag, 15 x 22,3 cm, ISBN 978-3-8353-3786-2

Preis: € 34,90 (D) / € 35,90 (A)


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.