Blog Archiv

Unbeantwortete Fragen im schwulen Raum

Gedanken zum Tod des Journalisten und Autors Martin Reichert

Genügt es, wenn ein Mensch, ein Freund, ein Kollege stirbt, einen Nachruf zu formulieren und dann zurückzukehren in den Alltag? Aus Anlass des Todes von Martin Reichert hat unser Autor einen weiteren Nachruf verfasst. Denn es gibt noch viel zu sagen über Martin Reichert und seine Texte.

10. Juli 2023 | Von Jan Feddersen

In seiner Zeitung ist zu lesen, wie sehr seine Community, vor allem die in der taz, um ihn trauert: Martin Reichert hat sich Ende Mai 2023 in Berlin selbst aus dem Leben genommen. Nichts spricht dafür, buchstäblich kein Detail, dass er, aller Dystopie in seinem Kopf zum Trotz, dies nicht absichtsvoll ins Werk gesetzt hätte, sodass er auf keinen Fall beim Akt, der ihn in ein Nichts bringen sollte, zu leiden haben würde.

Er hinterlässt seinen Mann B., der verzweifelt das nicht zu Verstehende zu begreifen sucht. B. spielt, immer am Rand des eigenen Zusammenbruchs, die Musik der beiden, melancholische und immer auch dramatische Tonspuren, Annie Lennox hängt mir im Ohr, Adele auch, Lieder vom Balkan, Tina Turner natürlich: „Simply the Best“!

In der Fülle der Nachrufe und Erinnerungsschnipsel, in der taz wie auch bei seinem neuen Arbeitgeber, dem Spiegel, bei dem er im Februar 2023 im Kulturressort zu arbeiten begann, in kondolierenden Einträgen bei Facebook oder Twitter, ist selbstverständlich vom schwulen Mann Martin die Rede, er war ja nicht in the closet, im Gegenteil. Er hat für so gut wie alle Foren, Magazine und Onlineplattformen unserer Kreise geschrieben, 2018 gekrönt mit dem vielleicht bestrecherchierten Geschichte von Aids in Deutschland.

„Die Kapsel“ heißt das beim Suhrkamp-Verlag veröffentlichte Buch, eine so ergreifende wie gründliche Historie der schlimmsten – und über viele Jahre homophob aufgeladene – Epidemien, die die schwule Community seit den frühen Achtziger Jahren heimsuchen konnte.

„Gedöns mit Orientierung“

Ich habe Martin 2001 kennengelernt, als Redakteur der Wochenendbeilage der taz, dem damaligen taz.mag. Der junge Kollege, der mit einzelnen Texten, verfasst noch aus der Position des Studenten, zum journalistischen Ertrag der Zeitung beitrug, wollte in den Journalismus, oder wie er sagte: „Ich weiß ja sonst nicht, was ich mit meinem Studienabschluss machen soll.“ Geschichte und Kulturwissenschaften waren seine Fächer – aber Martin hätte auch ohne akademische Qualifikation den gleichen, höchst erfolgreichen, ja furiosen Weg ins Mediengewerbe geschafft und ihn dort bewältigen können.

Seine Spezialität als Journalist, „Gedöns mit Orientierung“, wie er mit seiner üblich süffisant-heiteren Art meinte, baute er aus: Er guckte nicht in die Nachrichtenagenturen und die politischen Fakten, sondern in die Welt schlechthin. Er konnte noch aus dem Umstand, dass junge Leute Umhängetaschen mit sich führen, sich einen Reim machen, später sogar ein erfolgreiches Buch: „Wenn ich mal groß bin: Das Lebensabschnittsbuch für die Generation Umhängetasche“.

Nachruf von Arno Frank auf Martin Reichert bei Spiegel Online | Screenshot: IQN

Was in den oft tränengesättigten, trauernden, wahrhaft wie noch unter Schock verfassten Texten nach seinem Tod allerdings unterging, war die schwule Welt, in der er lebte, die homosexuelle Perspektive, quasi das innere Motorbrummen des Martin Reichert selbst: Was trieb ihn im Innersten, diesen liebenswürdigen, hilfsbereiten und allzeit zugewandten Mann?

Das nämlich exakt waren Fragen, die sein hinter der öffentlichen Kulisse Befindliches betrafen – und mit Antworten zu diesen Fragen geizte er beinah umfassend. Sein Mann B. sagte, als noch alles auf dem Weg zum Besseren schien, besser: scheinen sollte, denn die psychische Krise dauerte schon einige Wochen: Sein Martin, der habe Angst. Furcht vor dem Versagen, dem Nicht-zu-Genügen, der persönlichen Zukunft und auch der Gegenwart schon – schlechthin.

taz2 und die Details des Alltags

Als wir uns kennenlernten, vor zwei Jahrzehnten, waren in der taz gerade redaktionelle Verhältnisse am Wachsen, die es ihm überhaupt ermöglichten, als Journalist zu arbeiten. taz2, die Gesellschaftsseiten jenseits des offiziell politischen Teils der Zeitung, waren die, wie manche bösartig bemerkten, „Spielplätze“ für solche, die politisch nix in der Birne haben. Nichts wäre falscher, denn in den Details des Alltags, des Gesellschaftlichen liegen Wahrheiten zum Politischen, die die oft hartlaibigen Politikberichterstattungen – die er freilich auch zu beherrschen lernte – ergänzten, mindestens dies.

In diesen Teilen unserer Publizistik schrieb er, in taz2 wie im taz.mag – kleinere Texte von stupender Kundigkeit, ja Brillanz, etwa auch in seiner Kolumne „Landmänner“, die aus heutiger Sicht wie ein Alarmanzeiger für die kommenden Ströme des Rechtspopulismus (auch) notierten, vordergründig aber lediglich oft lustig zu lesende Histörchen aus der Welt in den ländlichen Vorlandschaften Berlins schilderten, denn dort lebte er mit seinem ersten Mann.

Wir, in den ersten Jahren unserer Freundschaft in der Redaktion, bildeten einen „schwulen Raum“ in der Redaktion. Nicht, dass die linksalternative Tageszeitung taz auch ein homophob gewirktes Blatt gewesen wäre, das nur passager, womöglich aus Acht- und Achtungslosigkeit, aber in vielen Jahren waren selbst politisch hochbrisante Themen wie der Kampf für die Ehe für alle oder die Cancellung der Reste des Schandparagraphen 175 eher beiläufig wahrgenommen worden ), wenn überhaupt.

„Ehe?“, bemerkte eine frühere, durchaus feministisch orientierte Chefredakteurin einst, was für’n Unfug – wir Heteros wollen nicht mehr heiraten, und ihr wollt das unbedingt. Wir pflegten natürlich darauf zu erwidern, dass Heteros die Hässlichkeit antihomosexueller Haltungen nicht zu empfinden vermögen – aber sie konnte sich ja auf Kolleg*innen berufen, ebenfalls schwul oder lesbisch, die aus ideologischen, jedenfalls nicht politischen Gründen den Kampf für die Gleichstellung im Personenstandsrecht böse verkannten. (Und inzwischen, worüber wir sarkastisch lachten, selbst verheiratet sind, meist.)

Manchmal jedoch traf ihn eine Kritik böse, und er zeigte dies nicht. Er hatte vor vielen Jahren in Wien den schwulen Performer Hermes Phettberg interviewt, ein später in der Zeitung ergreifendes Dokument des Versuchs, einem schwulen Leben Auskünfte der Würde und Selbstwürdigung zu entlocken. Und was sagte ein heterosexueller Kollege in der Blattkritik vor großem Redaktionsforum, nachdem er das Interview in seiner Tonalität in die Tonne getreten hatte, durchaus auf Beifall des Kollegiats spekulierend, mit um Einverständnis heischendem Tremolo: „So etwas möchte ich nie mehr in der Zeitung lesen!“ 

Diese gewisse Aufgehobenheit

Martin Reichert und mir war dieser „schwule Raum“, durchaus mit Bezug auf die von uns verehrte politische Theoretikerin Hannah Arendt, sehr bewusst. Arendt hatte vor Jahrzehnten, darauf wies ihr Schüler, der schwule Begründer der Zeitschrift Stonewall, Michael Denneny hin, darauf beharrt, dass Jüd*innen in einem eigenen Raum lebten, leben müssen, darauf angewiesen, dass untereinander, in ihrer stigmatisierten Crowd, der politische Diskurs lebt, denn es geht ja immer (für sie zuallererst und zuletzt) ums Ganze: Wie überlebt man, missachtet und bisweilen brutal verfolgt, diese Atmosphäre der Unfreundlichkeiten und Entwertungen?

Lebte er noch, würden wir über den Text von Blake Smith diskutieren: Wie Hannah Arendts Ideen vom Zionismus half, den amerikanische gay identity zu beflügeln, also die Unruhen von „Stonewall“, die Unermüdlichkeit des Kampfs um öffentliche, sichtbare gesellschaftliche Teilhabe, ohne sich zu assimilieren, sich anzupassen, auf unsere Verhältnisse: schwul zu bleiben, nicht nur homosexuell.

Schwuler Raum, das meint eben diese gewisse Aufgehobenheit in einem ansonsten fremden Gefüge. Man konnte, nun ja, „schwul“ reden – rasch, smart, mit Wortwahlen, die durchaus bitchy sein konnten und nur im Zweifesfall sehr kalt und sehr bösartig. Über eine Kollegin, mittlerweile in den höheren Vierzigern, problematisch im Charakter (für uns, klar), sagte er mal: „Es ist erstaunlich, wie sehr es stimmt, dass die Persönlichkeitsentwicklung bei manchen mit der Pubertät ans Ende gekommen ist.“ Und lachten darüber!

Im Übrigen: Ich wusste, dass Martin mir immer loyal gegenüber sein würde – keine Selbstverständlichkeit, wie ich bei anderen (auch: schwulen, lesbischen) Kolleg*innen im Laufe der Jahre feststellen musste: Die Hand, die gab, im Gegenzug verratend und preisgebend zugunsten nickelig kleiner Vorteile – und ich ihm sowieso. Wir waren schwul, um mit Hannah Arendt, die dies für ihr Jüdisches so beantwortete: Ja, gucken Sie mich an – man sieht es doch. So wie uns das Schwule.

In diesem Raum konnten wir, was wir öffentlich nie taten, streiten. Immerhin. Wer mal in einer Gruppe als einziger Homo gearbeitet hat, wird wissen, was wir als Privileg hatten: einen schwulen Raum. Nicht allein sich fühlen. Doch different sein können. Und einig zugleich. Und verschieden in manchen Auffassungen. Und spontan einvernehmlich in der Wahrnehmung von Phänomen: Ist doch Quatsch, oder? – Ja, ist es. Ich lästerte gelegentlich: Sei nicht immer so versöhnlich!, Warum neigen gerade Schwule dazu, den offenkundigen Diss von Heteros (und Homos, oh ja) freundlich abzumoderieren?

Er traute den Liberalisierungen nicht

Ist es wirklich gut, dieser Hedonismus der schwulen Szene?, Dieser Sex an allen Ecken – und wofür steht eigentlich dieses dauernde Ungenügen mit der eben kennengelernten Person im Darkroom? Und stimmt nicht, was der schweizerische Psychoanalytiker Paul Parin 1985 in der Zeitschrift „Psyche“ als Beobachtung notierte: Dass Juden und Homosexuelle eint, so stellte er bei jüdischen Patienten und auch homosexuellen Patienten parallel fest, dass sie mit dem Gefühl lebten, nie festen Boden unter den Füßen zu haben, stets drohe Instabilität, immer ängstige, die Welt verschlinge einen, Flucht zwecklos? Er stimmte zu mit den Worten: „Geht es uns nicht auch so?“

Er traute, anders als ich, den Liberalisierungen, die queere Menschen in den vergangenen Jahrzehnten erkämpften, nicht. Manchmal stimmte er zwar zu, dass vieles errungen worden sei, Anerkennung, aber am Ende fürchtete er, fast mit jeder Phase seines Körpers, einen, wie er sagte „Backlash“ – eine Zeit, in der es wieder zwingend werde, sich klein zu machen, untertänig und versteckend.

Martin hätte niemals die schwule Szene, zumal die Metropole wie in Berlin nicht, für ihre umfassende Rauschwunsch-Anfälligkeit kritisiert. Einmal merkte ich an, als er schrieb, die Schwulen hätten sich 1969, als der Paragraph 175 in seiner Nazifassung ins Gewöhnlich-Homophobe, aber immerhin nicht mehr Strafbare für Volljährige reformiert wurde, das Recht erkämpft, Sex zu haben, dass das nicht stimmt. Homosexuelles Begehren wurde unter allen staatlichen und gesellschaftlichen Umständen gelebt worden – sonst wäre es ja etwa im Nationalsozialismus oder in den Nachkriegsjahren den Polizeien nicht gelungen, so viele unserer Vorfahren zu ‚erwischen‘, ihrer für ein Strafverfahren habhaft zu haben. Was die allermeisten Homosexuellen gleich welchen Geschlechts wollten, sei ganz klar: In Ruhe gelassen, nicht behelligt werden – ihre Art der Normalität ermöglicht bekommen. Er erwiderte, das sei ein karges Reformprogramm, und ich wiederum: Das ist ein höherer Berg, als wir, die wir eine bessere Welt wollen, uns vorzustellen vermögen. Aber das nur nebenbei vom Diskurs im „schwulen Raum“ …

Schwuler Selbsthass unnötig

So oder so: Er wollte, so stand es für ihn zur Wahl, nicht schreiben, dass die Exzesse, die hochfrequente Sexualisierung problematisch sein könnte – denn das hätten auch die Konservativen, die Homohasser gelesen und dies als Beweis für ihre Aversionen genommen. Und er hätte auch nie, viel zu nah womöglich an ihm selbst dran, über das geschrieben, worüber die schwule Szene in all ihren Nischen nie spricht: Einsamkeit, konkrete, im Einzelfall des Tages – oder auch genereller, dieses Gefühl, allein zu sein, nicht umgeben von Behütung und Aufgehobenheit. War es das, was für ihn selbst ein Tabu war, ja, sein musste: Das Gefühl von Weltverlorenheit?

Er war lieber als unermüdlicher Familienaufsteller unterwegs, weniger in den Mainstreamschuppen der Szene, bei den Coolen, wenn er es nicht zuhause aushielt und das Leben draußen viel spannender fand – und Leute kennenlernte, die durch ihn ein kleines, aber wichtiges Stück wärmer, aufgetauter wurden: Martin konnte ihnen vermitteln, dass schwuler Selbsthass nicht nur nicht lohnt, sondern ganz unnötig ist. Seine Mission – tragischerweise muss man schreiben: – war die Vermittlung, auch: die Familienaufstellung, immer mit dem Hinweis versehen, die andere Seite zu beachten. Was er suchte, war Heimat, ein Aufgehobensein, ein sicherer Grund auf der Welt. Das alles suchte er, indem er ging, immer eine Spur im Unruhigen, im eiligen Schritt, im Move stets fast forward.

Sein Herz hatten immer die Unfertigen, die (mit sich) Ringenden, die Verzweifelten, die er hinter lächelndsten Mienen erkannte, die ein Charles-Aznavour-haftes „Et pourtant“ anstimmen würden – und hier besonders die muslimischen, arabischen, türkisch oder jugoslawisch geprägten jungen Männer.

Felix-Rexhausen-Preis

Er war null abonniert auf Jugendlichkeit, sein erotisches Sprühen galt den Welpen, für die die Welt noch wenig Antworten, aber viele Fragen offenhielt. Kein Zufall, dass er sich in den schwulen Undergrounds des Irak im Nachkrieg aufhielt und dort, hoffentlich, Zuversicht stiftete – oder in Beirut, wo er über das (nicht gerade fromme) Nachtleben berichtete, er mittendrin, anteilnehmender Reporter. Später, 2006, erhielt er für eine Geschichte „Adieu Habibi“ den Felix-Rexhausen-Preis zuerkannt, zurecht. Das war zu der Zeit, als wir öfters über Israel – von ihm wie von mir geliebtes, faszinierendes Land – sprachen: Die Jüd*innen haben sich in diesem ihren Land einen Safe Space geschaffen, immer bedroht, militärisch hochgerüstet bewacht … Warum sollten es dies nicht für Schwule gelten? Für Lesben, für trans Menschen?

Eine Art Israel des Regenbogens, und dabei fiel uns, glamourverliebt, wie er auch war, natürlich ein: Monte Carlo! Minutenlang phantasierten wir, wie dieses Monaco aussähe, wäre es eine Art queeres Israel. Martin sagte bei dieser Gelegenheit: „Mit der Zeit könnte es eng werden, aber dann nehmen wir Nizza dazu.“ Ich darauf: „Okay, aber San Remo wäre auch noch schön.“ Woraufhin wir auf Youtube italienische Schlager suchten, in San Remo vorgetragen, beim Festival im Frühjahr dort, gern die Sängerin Mina mit ihrem melancholischen „Se telefonando“.

Was mir nur schemenhaft klarer wurde über all unsere Jahre der Freundschaft – mit allen Hochs und Tiefs – war, woher seine Energie rührte. Lag es daran, dass er mit seinem Schwulsein eigentlich extrem haderte? Dass er, Jahrgang 1973, sein Coming-out später als andere begann, zunächst ja in Heteroverhältnissen lebend, weil es für ihn ein Horror war, in Wittlich an der Lieser (Moselland!, nicht an der Mosel) womöglich der Aussätzige zu sein? Lag es an den elterlichen, väterlichen und mütterlichen Wünschen, in ihm, den Sohn mit besten akademischen Zukunftsaussichten, den ersten in der Familie, nur den heterosexuell Orientierten sehen zu wollen? Dass, typisch, ein schwuler Sohn ein Versager, ein Verräter an den Eltern ist?

Er bemerkte einmal, und meine Erfahrung sagte mir das Gleiche: Es sei normal, ja, typisch, dass Schwule über ihre Coming-outs reden können, aber so gut wie niemals über die drei bis fünf Jahren davor, wenn alles niederdrückt vor ungewisser Seelenzukunft, wenn das, wie Sigmund Freud gesagt hätte, das „Triebschicksal“ eine unhintergehbare Wahrheit ausmacht, dies aber nicht beherzt und mit Liebesfähigkeit beantwortet werden kann, zunächst?

Berlin, sein Asylort

Hannah Arendt berichtete im berühmten TV-Gespräch mit Günter Gaus über ihre antisemitischen Umstände als Kind, sinngemäss: Sie habe sich nicht geschämt, Jüdin zu sein – die Scham kroch auch nicht in sie hinein ob der damals üblichen antisemitischen Haltungen. Ihre Mutter habe jedoch von ihr verlangt, sich gegen Gleichaltrige in Konflikten auch durchzusetzen, nur bei Lehrern sei ihre Mutter eingeschritten, ihre Tochter schützend. Der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker bemerkte zu dieser ikonischen Stelle des Gesprächs Hannah Arendts: Die Jüdin konnte psychisch die antisemitischen Attacken aushalten, weil sie im Elternhaus behütet war – der schwule Heranwachsende aber kann sich auf diesen elterlichen Schutz prinzipieller Art nicht verlassen: Der schwule Mann vor dem Coming-out weiß, dass er – oder sie, im lesbischen Fall – auf der Welt ganz allein ist, wenn schon die Eltern nicht an der Seite stehen. Allein ist – und sehr oft, ja meist bleibt.

Nachruf auf Martin Reichert von Jan Feddersen bei taz.de | Screenshot: IQN

Er war, so versuche ich es zu begreifen, in Berlin, seinem Asylort, auf der Suche nach Heimat. Und fand sie persönlich und sehr konkret in seinem ihn liebenden Mann B., den er vor einigen Jahren, beinah ohne jede Wahrscheinlichkeit, das Berliner Szeneleben ermöglicht kaum Momente des Verweilens und Innehaltens, kennenlernte, ja, der quasi wie ein Glück ins Leben geweht wurde. Beide lernten die Segnungen eines ruhigeren Lebens kennen, ja, sie bauten sich in Berlin, später in B’s Heimat Slowenien, dort in Koper an der Adria, Nester, ihre gemeinsamen Orte. Wie Martin mir vor Jahren, gerade hatte er seinen Liebsten ‚erkannt‘ erzählte: „Er brachte mir geschnittenes Obst ans Krankenbett. Geschnittenes Obst!!“ Und ich lachte vor Glück ein wenig mit ihm mit. Es war, so zitierte er das Lied leicht anträllernd, als sänge ihm Dahlia Lavi ein „Willst du mit mir geh’n?“

Nun denke ich an nichts anderes als an ihn. Hätten wir uns nicht endlich mal wieder treffen sollen? Hätten wir nicht nur en passent miteinander sprechen sollen, sondern, ganz unüblich in der Metropole wie Berlin, mal in einen Open-Space-Modus schalten sollen, nicht nur im „Ich muss gleich los“-Umstand? Lese ich die weinenden Nachrufe, könnte ich ihm, absurd, ich weiss, diese vorlesen, würde ich ihn fragen: Warum bist Du nie wütend geworden? Weshalb sind die Zumutungen, denen Du Dich öfters ausgesetzt sahst, nicht ein einziges Mal als solche zurückgewiesen worden? Was hindert Dich, mal so richtig aus der Haut zu fahren?

Alle Nachrufe, alle letzten Worte auf ihn sind von warmer Herzlichkeit, von Trauer umrahmt. Aber darf man sagen, dass Martin, so typisch für ihn, für alle ein Herz hatte, dass er sie beinah fürsorglich zu therapieren suchte – auch, um von sich nichts preiszugeben, von seinen Ängsten? Kannte man ihn wirklich? Mich beschleichen Zweifel: Was hast du uns nicht zeigen wollen, Martin?

Er konnte nicht mehr

Er war, vielleicht, auch eine „Kapsel“, so gut verschlossen, wie die Traumen von Aidsüberlebenden, die von Horror (sein Text zum 2. Coming-out von Conchita Wurst) befallen waren, weil sie als Aidsinfizierte öffentlichen Nachstellungen ausgesetzt waren – eventuell in dem Horror auch gespiegelt, dass sie selbst Aids, heute keine schöne, aber managebare Infektionskrankheit, die nicht mehr tödlich wirkt binnen kürzestem, als Strafe fürs Schwulsein empfanden?

Wütend werde ich, weil ich Martin übelnehme, sich in unserem „schwulen Raum“ meinen, ja, unseren Fragen nicht mehr zu stellen. Er konnte aber nicht mehr, ich muss das akzeptieren. Ist möglich, so ertappe mich ich bei meinen ewigen Grübeleien über ihn, die nur Mutmassungen sein können, dass die Entschlossenheit, mit der er seinem Leben ein Ende setzte, auch die wütendste Geste war, zu der er je fähig war – leider, tragischerweise gegen sich selbst?

Ich habe keine Mahnungen zu formulieren, Martins Tod macht keinen Sinn, schon gar keinen allgemein gültigen. Doch wäre es nicht lohnend, die Feier des Hedonistischen mal in ihren Epen zwischen den Zeilen zu lesen? Könnte es nicht Gewinn bringen, mal fundierter denn je die liberalen Zeiten und ihre fatalen Voraussetzungen, Elternhäuser, die schwule oder lesbische oder trans Kinder eher nicht so mögen, unter die Lupe zu nehmen? Und langweilt die zeitgenössische Forschung zu Schwulem und Lesbischem auch deshalb, weil diese partout nicht an die entscheidende Konstellation in ‚queeren‘ Leben heranwill: in die der Familien, den Gehegen, in denen wir groß wurden, in denen uns beigebracht wurde, bis in die letzte Zelle, dass Schwules oder Lesbisches nicht erwünscht ist?

Ist queere Forschung, so mutmaßte Martin mal, nicht im Mainstream ein hochsubventioniertes Ablenkungsmanöver, um sich den naheliegenden Fragen nicht zu widmen: Die Genese tief wurzelnder Homophobie in unseren Familien, wo die Unerwünschtheit unserer Liebesfähigkeit und unseres Begehrens fein mit rötesten Linien markiert ist?

Er liebte, er wurde wiedergeliebt, aber das reichte nicht für ein Leben, das ihm noch sehr gut möglich gewesen wäre. Stehen wir seinem Witwer, seinem Liebsten B. bei. Er ist nun verzweifelter, als es Martin je gewollt haben kann. |


Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sollten Sie von Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Bei der Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner, auch anonym. Rufnummern: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.


Titelbild: Unsplash/Yannis Papanastasopoulos


Selbstbestimmungsgesetz: Wird der Bademeister zum Gutachter?

Die Ampel-Koalition hat ihren Entwurf zum neuen Selbstbestimmungsgesetz vorgelegt. Seither ist offener Streit über den Inhalt entbrannt. Doch was steht da eigentlich wirklich drin und was hat es zu bedeuten? Für Queer Nations hat sich Till Randolf Amelung, Autor im Jahrbuch Sexualitäten, den Entwurf genauer angeschaut. Darf der Bademeister zukünftig wirklich in die Hose gucken? Einige Antworten auf häufige Fragen.



Von Till Randolf Amelung

Queer Nations, 05.05.2023 | Nun ist er also doch noch gekommen – der Entwurf für das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz, mit dem das in die Jahre gekommene Transsexuellengesetz (TSG) abgelöst werden soll. Nachdem bereits mehrere Termine nicht gehalten werden konnten und der Unmut in der queeren Community immer lauter wurde, gaben Familienministerin Paus (B’90/GRÜNE) und Justizminister Buschmann (FDP) am letzten April-Freitag den Entwurf an die Presse. Die Inhalte des Entwurfs haben sich im Grundsatz von den im vergangenen Juli präsentierten Eckpunkten entfernt.

Kern der anvisierten Reform ist die Streichung jedweder Nachweispflichten, der reine, unhinterfragte Sprechakt im Standesamt soll künftig für die Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags genügen. Im Gegensatz dazu setzt das TSG bis heute zwei unabhängige Sachverständigengutachten voraus.

 

Klagen gegen Begutachtung erfolglos

Während bereits mehrere Bestimmungen im TSG durch das Bundesverfassungsgericht außer Kraft gesetzt wurden, zuletzt 2011 der Nachweis von Fortpflanzungsunfähigkeit und weitmöglicher operativer Angleichung, waren Klagen gegen die Gutachten bislang erfolglos. Zum Preis der Begutachtung ermöglichte das TSG rechtlich eine sehr weitreichende Gleichstellung. Mit dem Selbstbestimmungsgesetz soll diese Vorgabe nun ersatzlos entfallen.

Seit der Bekanntgabe dieser Reformpläne gibt es daran insbesondere von Radikalfeministinnen scharfe Kritik, die geplante Regelung ermögliche Missbrauch und schaffe Konflikte in Bereichen, die nach dem biologischen Geschlecht getrennt sind. Zum Jahreswechsel 2022/23 ließ Buschmann erstmals in einem Interview verlauten, dass die Arbeit an einem Gesetzesentwurf noch andauere, da man es privaten Betreibern weiterhin ermöglichen wolle, in bestimmten Situationen über das Hausrecht auf das biologische Geschlecht abzustellen, wie zum Beispiel in einer Frauen-Sauna. Familienministerin Paus verkündete hingegen, das Selbstbestimmungsgesetz solle noch vor der Sommerpause verabschiedet werden.

Während ein Veröffentlichungstermin für einen Entwurf immer wieder verschoben wurde, ließen sich Differenzen zwischen den beiden Häusern nicht mehr übersehen und wurden in den letztlich doch veröffentlichten Entwurf hineingeschrieben. Mindestens eines der beiden beteiligten Ministerien ist von der reinen Sprechakt-Lehre offenbar abgerückt.

 

Begutachtungskompetenz für den Bademeister?

So soll dem Entwurf zufolge zwar volljährigen Menschen grundsätzlich eine Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags ermöglicht werden – ohne Nachweis, ob man tatsächlich zu dem Personenkreis gehört, für den das Gesetz gedacht ist –, aber es wurden Ausnahmen formuliert.

Im Spannungs- und Kriegsfall soll das Gesetz bei biologisch männlichen Personen nicht zur Anwendung kommen, um zu verhindern, dass sich wehrfähige Männer dem Heldentod fürs Vaterland entziehen. Bei Quotenregelungen für die Besetzung von Vorständen soll der Geschlechtseintrag bindend sein, der zum Zeitpunkt der Besetzung in der Geburtsurkunde aktuell ist. Der Hausrechtverweis bei strittigen Zugangsforderungen zu Frauenräumen ist ebenfalls hineingeschrieben worden. Somit würde sich künftig die Begutachtungskompetenz von Psychologen und Sexualmedizinern hin zu Bademeistern und Kreiswehrersatzämtern verlagern. Diskriminierungen sind dabei ebenfalls nicht auszuschließen.

 

Missbrauch als Einzelfälle abgetan

Der Entwurf wollte zwei Pferde gleichzeitig reiten: Transaktivisten die geforderte Reform geben und Sicherheitsbedenken von Frauen begegnen. Regelungen zur Änderung von Vornamen und Geschlechtseintrag für Transpersonen ohne Nachweispflicht gelten seit den Yogyakarta-Prinzipien von 2007 als Goldstandard. Verweis auf Missbrauchsrisiken mit Fallbeispielen werden als Einzelfälle abgetan. Vor einigen Jahren gab Menschenrechtsexperte Robert Wintemute, der 2007 ebenfalls in Yogyakarta an den Prinzipien mitwirkte, gegenüber einem radikalfeministischen Blog zu, dass mögliche Konflikte mit Rechten von Frauen damals überhaupt keine Rolle spielten.

Welchen Sprengstoff schwierige bis missbräuchliche Fälle gerade in sensiblen Bereichen bergen können, musste unlängst die zurückgetretene schottische Ministerin Nicola Sturgeon erfahren, als sie auch über den Fall Isla Bryson stolperte. Bryson wurde wegen sexueller Gewaltdelikte zu einer Haftstrafe verurteilt und wollte mutmaßlich mit einem Coming out als Trans der Unterbringung im Männerstrafvollzug zu entgehen. Auch die Grünen waren auf der kommunalen Ebene mit einem Parteimitglied konfrontiert, welches sich zur Frau erklärte, offenbar um gegen die geschlechterpolitischen Regelungen der Partei zu agitieren. Der Fall landete vor dem Bundesschiedsgericht der Grünen, welches entschied, dass die Äußerung über die Geschlechtszugehörigkeit Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit voraussetze. Wie und durch wen das festgestellt werden soll, blieb offen.

 

Uneinsichtigkeit der Aktivisten gefährdet Offenheit

Ein Verfahren zur Änderung des Geschlechtseintrags ganz ohne Nachweis haben zu wollen, ist vermessen, vergleicht man es mit anderen Regelungen. Für den Erhalt eines Schwerbehinderten-Status‘ muss ebenfalls nachgewiesen werden, ob man die Kriterien erfüllt. Auch die Annahme einer anderen Staatsbürgerschaft ist mit Auflagen verbunden. Staat und Gesellschaft haben ein berechtigtes Interesse daran, das Gemeinwohl zu schützen und den gesellschaftlichen Frieden zu wahren. Dazu gehört auch die Sicherstellung, dass nur dazu berechtigte Personenkreise eine Regelung nutzen.

Bisher war die Gesellschaft offen für Regelungen, die es Transpersonen nicht unzumutbar schwer machen, aber zugleich eben nicht naiv gegenüber Missbrauch sind. Durch die verkorkste Umgangsweise der Politik und die Uneinsichtigkeit der Aktivisten könnte aber auch diese Offenheit schwinden. Das wäre ein gewaltiger Rückschritt, den doch eigentlich niemand wollen kann.

Ebenso sollte anerkannt werden, dass das biologische Geschlecht für die meisten Menschen nach wie vor eine relevante Tatsache ist, die nicht durch reine Sprechakte obsolet wird. Hier gilt es einerseits, bisherige Gesetze zu überprüfen, wo bislang das biologische Geschlecht zugrunde liegt, inwieweit das weiterhin erforderlich ist und dies andernfalls zu ändern. Andererseits wird nicht alles per Gesetz regelbar sein, sondern von allen Beteiligten Empathie, Toleranz und gegenseitige Rücksichtnahme erfordern – auch seitens der Aktivisten. Wer als Teil der Gesellschaft anerkannt werden will, darf nicht nur um den eigenen Bauchnabel kreisen. |


Till Randolf Amelung ist freier Autor mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen. Texte von ihm erschienen in wissenschaftlichen Sammelbänden, darunter das Jahrbuch Sexualitäten 2021 (Politische Hybris. Wie der Transaktivismus seine Erfolge zu verspielen droht) und 2022 (Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar? Ein Zwischenruf für die Berücksichtigung psychodynamischer Ansätze). In Medien wie der Jungle World, ZEIT Online, dem Schweizer Monat und der Siegessäule veröffentlichte er ebenfalls. 2020 erschien im Querverlag sein Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik; 2022 sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.

Till Randolf Amelung auf Twitter: https://twitter.com/TillRandolf


Titelbild: Unsplash/Kenny Eliason






Queer.de und das Scheitern von E2H: Provinziell geht in Berlin immer

Ein Beitrag der Online-Illustrierten Queer.de versucht das Scheitern des Berliner Projekts Queeres Kulturhaus E2H zu beleuchten. Dazu einige Klarstellungen des IQN-Vorstands und E2H-Ideengebers Jan Feddersen.


Foto:Unsplash/Mark König


08.03.22 | Von JAN FEDDERSEN

Bei der Kölner Online-Illustrierten Queer.de wurde Ende 2021 der Text des Berliner Szeneautors Dirk Ludigs veröffentlicht, der sich mit der Geschichte des von uns, der Initiative Queer Nations, ins Leben gerufenen Projekts eines „Queeren Kulturhaus“ (E2H) in Berlin befasst – und vorgibt, die Gründe zu benennen, die zum Scheitern des E2H führten.

Vorangegangen war diesem Text ein Facebook-Posting des Autors dieser Zeilen, der den im späten Herbst 2021 veröffentlichten neuen Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und Linkspartei für die Stadt Berlin charakterisierte. Dass nämlich in diesem Werk  jeder Hinweis auf weitere Planungen zu einem E2H oder gar zu einem „Queeren Archivhaus“ fehlt.

Queerpublizistisches Novum

Tatsächlich nahm dies offenbar Ludigs zum Anlass, über das rot-grün-rot-verblichene Projekt berichten zu wollen: In der queeren Publizistik war dies insofern ein Novum, als weder das Berliner Anzeigenblatt Siegessäule noch andere Medien über E2H auf eine Weise zu reagieren wussten, die wenigsten die angesichts der ausgelobten finanziellen Mittel für E2H objektive Relevanz des Queeren Kulturhauses respektieren: Mit einer Startbudgetierung allein für ein Haus von schätzungsweise 20 Millionen Euro (Stand Ende 2020) war das E2H, in Euro gemessen, der gewichtigste queere Plan der Hauptstadt (und darüber hinaus), wesentlich befördert durch die Senatsbehörde für Kultur und Europa mit Bürgermeister Klaus Lederer (Linkspartei) an der Spitze.

Herausgekommen ist mit Ludigs Text ist ein halbgares bis allenfalls semi-wahres Sammelsurium zum und über das E2H und die Initiative Queer Nations. Man kann Ludigs, der im Rahmen seiner Recherchearbeit den Autor dieser Zeilen immerhin per Mailkorrespondenz anhörte, allerdings zugute halten, dass er Ton und Stil der Online-Illustrierten Queer.de durchaus perfekt getroffen hat. Wer sich mit der Genese der Geschichte des E2H detaillierter auseinandersetzen mag, ziehe das Jahrbuch Sexualitäten 2021 zurate, wo die früheren Vorstandsmitglieder des Queeren-Kulturhaus-Projekts, Peter Obstfelder und der Autor dieser Zeilen, ausführlich mit einer Fülle von Belegen notiert haben (PDF), was die Sache namens E2H war.

Indes, es lohnt sich einige der im Ludigs-Text neu hinzugekommenen Behauptungen genauer zu betrachten:

Zur Sprache kam im Text das alte taz-Haus an der Rudi-Dutschke-Straße 23 und dessen bevorzugte Wahl als mögliches Gebäude für ein Queeres Kulturhaus. Klarzustellen ist hierzu, dass bei einem Kolloqium im Berliner Abgeordnetenhaus mit überwältigender Mehrheit der Projektbeteiligten damals (Lesbenarchiv Spinnboden, Magnus Hirschfeld Gesellschaft, Feministischen Archiv FFBIZ, die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, die Arbeitsstelle für die Kulturgeschichte der Sexualitäten an der Humboldt Universität in Berlin u.a.) entschieden wurde, sich auf das taz Haus als künftigem Standort für ein Queeres Kulturhaus zu verständigen. Die Geschäftsführung sowie die Genossenschaft der taz erklärten sich im Gegenzug bereit, trotz anderer Mietinteressenten an der taz-Immobilie, diese dem queeren Projekt zur Verfügung stellen zu wollen: An jener Abstimmung hat mit Absicht der Autor dieser Zeilen, der auch Mitarbeiter der taz ist, nicht teilgenommen.

Den Leser*innen nicht berichtet

Schlichtweg falsch ist zudem die Behauptung, dass den queeren Archiven keine Zeit eingeräumt wurde, so Ralf Dose von der Magnus Hirschfeld Gesellschaft, im Rahmen der E2H-Förderung durch den Kultursenat etwas zum Ausstellungswesen beizutragen. Tatsächlich oblag es dem E2H-Vorstand, ausweislich der Projektförderung, ein Programm für ein E2H zu entfalten, als existiere ein Queeres Kulturhaus bereits – die queeren Archive hingegen wollten wesentliche Teile der Senatsfördersumme für eigene, nicht ans E2H-Projekt gebundene Pläne. Dies wiederum war gemäß der erlassenen Förderbescheide strikt unzulässig.

Den Leser*innen nicht berichtet wurde im Queer.de-Text, dass die queeren Archive wie auch die Vertreter der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld sich im Koordinationskreis des E2H entweder Arbeitszeit nahmen oder Förderung durch staatliche Stellen beantragten und bewilligt bekamen, um überhaupt an den Koordinierungstreffen teilnehmen zu wollen – mit welchen (anderen) inhaltlichen Begründungen auch immer. Kurz gesagt: Während die ehrenamtlichen Kräfte im Projekt bis zum Ende ihre private Zeit für das E2H aufbrachten, auch und gerade die Vorstandsmitglieder Christiane Härdel, Lily Kreuzer und der Autor dieser Zeilen, ließen sich die sowieso schon alimentierten Beteiligten quasi jede Minute Arbeit am Queeren Kulturhaus bezahlen – nur um das Projekt dann scheitern zu lassen.

Unerwähnt blieb bedauerlicherweise auch – nicht mangels Phantasie, dies wurde Dirk Ludigs ausführlich geschildert –, dass das Queere Kulturhaus, wiederum unterfüttert durch die geldgebende Kulturbehörde, nicht als „Queerer Leuchtturm“ zur Subventionierung ohnehin schlecht strukturierter Archive und Vereine gedacht war, sondern als hauptstädtische Immobilie, die über die aktivistischen Kerne hinaus queere Menschen (und ihre Freund*innen) zu erreichen hatte und zu interessieren suchte. Ein Queeres Kulturhaus – nicht als Futtertrog der ohnehin Subventionsgierigen (oder, je nach Lesart, -bedürftigen), sondern als metropoles Stadtmöbel, das sich über die queeren Szenen der Berliner Provinz hinaus zu profilieren weiß.

Provinziell Gesinntes

Neben diesen Ergänzungen des Faktischen sei eine Stilkritik erlaubt: Insgesamt verblüfft der Text durch sein – in Ermangelung passenderer Begrifflichkeiten – „szeneastisches Gewölk“. Also durch die Unfähigkeit, queeres (mithin: schwules, lesbisches, trans) Leben jenseits der Bubble der kultur-polit-sozialtherapeutischen Szene vorzustellen. In der Tat klingt das Ganze dann wie eine missgünstig formulierte Abrechung im zänkischen Stil – als Bilanz von Querelen innerhalb der aktivistischen Szene(n). Es handelt sich mithin um eine sogenannte Recherche mit queeristischen Politaktivist*innenblüten, beifallheischend im Ton, hämisch im Klang: Provinziell Gesinntes geht offenbar (nicht nur) in Berlin immer.

Die Initiative Queer Nations, die sich 2005 gründete, um, partei- und NGO-fern, das zu ermöglichen, was 2011 die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld werden konnte, muss akzeptieren, dass es für ein Queeres Kulturhaus in Berlin in der aktivistischen Szene keine oder kaum Gewogenheit gab: Man wollte lieber weiter im eigenen Saft vor sich hin gären. Die Chance, sich eine stabile Existenz mit einem 20 Millionen Euro geförderten Projekt zu sichern und, fast wie nebenbei, noch zentraler Bestandteil eines weltweit einzigartigen Kulturorts zu werden, ist vertan. Wahrscheinlich für lange Zeit. Ich als Erster – bedauere das zutiefst. Was ist aus der nicht-heterosexuellen Bewegung Berlins bloß geworden?

Jan Feddersen ist Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations. Trotz des hier beschriebenen Unglücks halten er und die anderen Mitglieder des Vorstands der Initiative Queer Nations ausdrücklich weiterhin an der Idee eines queeren Kultur- und Denkortes für Berlin fest.

Besagten Aufsatz über das Scheitern des E2H aus dem jahrbuch Sexualitäten 2021 können Sie hier kostenlos als PDF herunterladen.


Petition: Deutscher Bundestag soll homosexuellen NS-Opfern gedenken

Am 27. Januar 2022 gedenkt der Deutsche Bundestag den Opfern des Nationalsozialismus und einmal mehr wird es keine gesonderte Würdigung für die homosexuellen NS-Opfer geben. Zeit für eine Petition für eine Gedenkstunde im Bundestag an homosexuelle Opfer des Nationalsozialismus.


Ein Gastbeitrag von Lutz van Dijk

Seit dem 15. Januar 2018 bemühen wir uns gemeinsam darum, dass in der jährlichen Gedenkstunde im Bundestag an die Opfer des Nationalsozialismus, die seit 1996 besteht, auch einmal an sexuelle Minderheiten erinnert wird. Dem wurde bislang nicht entsprochen.

Unmittelbar nach ihrer Amtseinführung erneuerten wir unser Anliegen gegenüber der neuen Bundestagspräsidentin Bärbel Bas in einem Schreiben vom 28. Oktober 2021, das gemeinsam von Henny Engels (Bundesvorstand des LSVD – Lesben- und Schwulenverband Deutschlands) und mir unterzeichnet wurde (siehe PDF hier).

Wir argumentierten für den 27. Januar 2022, da sich dann „zum 150. Mal das Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches [jährt] und damit auch die reichsweite Einführung des § 175 RStGB, der männliche Homosexualität unter Strafe stellte und in einigen deutschen Ländern bereits bestehende liberalere Gesetzgebungen (beispielsweise in Bayern) unwirksam machte.“

Konzeption der Gedenkstunde 2023

Bundestagspräsidentin Bas antwortete am 21. November (zugestellt gestern, am 29. November, siehe unten), dass „die Gedenkstunde des kommenden Jahres… im Kontext des 80. Jahrestages der verbrecherischen Wannsee-Konferenz stehen (wird)…“ und: „In Kürze wird sich das Präsidium des 20. Deutschen Bundestages mit der Konzeption der Gedenkstunde des Jahres 2023 befassen und hierbei insbesondere den Vorschlag einbeziehen, die als Homosexuelle verfolgten und ermordeten Menschen in den Mittelpunkt der Gedenkstunde zu stellen.“ (siehe LSVD-PM hier).

Wir werden alles tun, um Bundestagspräsidentin Bas und alle Mitglieder ihres Präsidiums darin zu unterstützen, am 27. Januar 2023, der gleichzeitig jedes Jahr die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz 1945 markiert, tatsächlich sexuelle Minderheiten „in den Mittelpunkt zu stellen“, die damals und in vielen Ländern der Welt bis heute mit Folter, Haft und sogar der Todesstrafe verfolgt werden

Erfreulich ist, dass es in der Gedenkstätte Auschwitz selbst (offiziell: dem „Staatlichen Museum Auschwitz“) am 7.-8. Juli diesen Jahres die erste internationale online Konferenz gab, in der auch ausdrücklich über sexuelle Minderheiten als Opfer in Auschwitz gesprochen wurde. Im September diesen Jahres erschien im Warschauer Neriton Verlag die polnische Ausgabe de Buches „Erinnern in Auschwitz – auch an sexuelle Minderheiten“.

Als eines von verschiedenen Vorhaben werden Henny Engels und ich am Montag, dem 24. Januar 2022, ab 19 Uhr, im taz Queer Talk auf Fragen von Jan Feddersen antworten.

Lutz van Dijk, Historiker und Schriftsteller, früher Mitarbeiter des Anne Frank Hauses in Amsterdam, arbeitet heute vor allem mit polnischen Historiker:innen zusammen – im Kontext eines Erinnerns an sexuelle Minderheiten in Auschwitz. Er lebt und arbeitet überwiegend in Kapstadt und berichtet auch aus Südafrika für die taz.


E2H – Projekt ohne Zukunft | IQN Bekanntmachung

Nachdem sich die Initiative Queer Nations e.V. im Herbst 2020 bereits aus dem E2H-Projekt zurückzog, hat nun auch IQN-Vorstand, E2H-Ideengeber und -Projektantreiber, Jan Feddersen seine Vorstandstätigkeit und Mitgliedschaft im Verein des Queeren Kulturhauses formell aufgegeben. Einige Gedanken zu den Beweggründen für diesen Entschluss und wie IQN die Arbeit trotzdem mit voller Kraft fortsetzen wird.


Weiterlesen


Neue Energie trotz Pandemie | IQN Bekanntmachung

Wie geht mensch als ehrenamtlich arbeitender Verein mit einer Pandemie und ihren Zumutungen um? Wir haben uns dafür entschieden, das Beste daraus zu machen. Mit neuen Köpfen, neuem Jahrbuch und einem neuen Vortragsformat kontern wir Corona und tanken frische Kraft für 2021. Was genau wir treiben und warum, erklärt der IQN-Vorstand in dieser Bekanntmachung.


Pandemie, Lockdown, Lockdown (light) – We are still alive! Wir hoffen sehr, dass Ihr und Sie auch so gut durch die Zeiten kommen, wie das derzeit nur eben möglich ist: gesund und im Kreis der gesunden Lieben; hoffnungsvoll, auch wenn gewiss die eine oder der andere beruflich und seelisch zu kämpfen haben wird. Erinnern wir uns daran: Ausdauer und Unverzagtheit gehören für die meisten von uns zu den Eigenschaften, die das Leben uns gelehrt hat. Wie Gloria Gaynor schon vor vierzig Jahren wusste: „As long as I know how to love, I know I’ll stay alive; I’ve got all my life to live and I’ve got all my love to give; and I’ll survive – I will survive!”

Wir mussten ja in diesem Jahr so gut wie alle öffentliche Aktivität einstellen, wie überall in der öffentlichen Sphäre war die Corona-Pandemie der Grund. Vor allem also gab es keine Queer Lectures. Immerhin konnten wir, einige von Ihnen und Euch waren dabei, am 17. Juli im Projektraum 120 an der Potsdamer Straße in Berlin unsere Release-Party zum aktuellen „Jahrbuch Sexualitäten“  begehen – entsprechend aller Corona-Auflagen natürlich: maskiert, aber präsent; mit Abstand, aber auch mit Wärme.

Neben Seyran Ates und Ralf König waren noch viele andere Autor:innen und Laudator:innen zum neuen Jahrbuch zugegen: Es war etwas distanter als in den vorigen Jahren, gleichwohl ein herzlicher Abend, der von unserem Jahrbuch-Mitherausgeber Rainer Nicolaysen moderiert wurde.

Neue Köpfe, neue Energien

Unmittelbar vor der Release-Party hielten wir unsere jährliche Mitgliederversammlung ab. Unsere beiden Vorstandsmitglieder Christiane Härdel und Benno Gammerl haben sich nach langjähriger Tätigkeit entschieden, aus dem Vorstand auszuscheiden. Ihnen gilt unser herzlicher Dank für ihren Einsatz: für Unterstützung und Kritik, für aktive Präsenz und nicht zuletzt für die vielen Tätigkeiten, die in diesem Zusammenhang anfallen und die meist keiner sieht! Bei den Vorstandwahlen wurde Jan Feddersen als Vorstand bestätigt, Schatzmeister Manuel Schubert wurde erst im Frühjahr in sein Amt berufen und stand deshalb nicht zur Abstimmung. Neu gewählt wurden derweil der Journalist Markus Bernhardt und der Theologe und Autor Clemens Schneider. Wir freuen uns auf und über das Engagement der Neuen!

Gleichfalls erweitert werden konnte der Herausgeber:innenkreis unseres „Jahrbuch Sexualitäten“. Die an der Bielefelder Universität wirkende Erziehungswissenschaftlerin Melanie Babenhauserheide wird den Kreis im bereits laufenden Redaktionsprozess ergänzen. Benno Gammerl verantwortet noch die Ausgabe des kommenden Jahres mit, danach scheidet er aus beruflichen Gründen aus dieser Runde aus.

Ihm folgt nach die in Berlin lebende Historikerin Vera Kallenberg – im Herausgeberkreis bleiben Rainer Nicolaysen (Universität Hamburg), Benedikt Wolf (Universität Bielefeld) und Jan Feddersen, Redakteur der taz in Berlin. Wir freuen uns sehr auf die Zusammenarbeit aller „Jahrbuch“-Herausgeber:innen, erstmals vom kommenden Jahr an mit zwei weiblichen Mitgliedern.

IQN lebt

Das bereits im Redaktionsprozess befindliche Jahrbuch 2021 wird wie stets Texte enthalten, die die öffentlich gehaltenen Queer Lectures publizieren – sowie etliche Beiträge aus den Rubriken „Miniaturen“ und „Rezensionen“, zudem ein großes Gespräch, hier mit einer britischen Kritikerin queertheoretischer Denkansätze. Der Essay des Bandes wird zum Thema Corona verfasst: darüber, was Pandemisches, etwa auch im Hinblick auf die Aids-Historie, mit Sexuellem zu tun hat.

Das sind alles gute Nachrichten: Unsere Initiative lebt. Indes müssen wir auch mitteilen, dass wir uns einstweilen aus dem von uns mitinitiierten und mit viel konkreter Unterstützung beförderten Projekt des „Queeren Kulturhaus“ (E2H) zurückgezogen haben.

In unserem Schreiben an den Vorstand von E2H heißt es: „Wie die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld möchten auch wir uns als IQN e.V. bis auf weiteres vom E2H-Projekt zurückziehen. Wir beobachten generell ausschließende oder gar feindselige Grundhaltungen gegenüber anderen Gruppen, Einschätzungen und Meinungen. Offener kontroverser Diskurs: ja, Diskriminierung: nein. Wir erinnern daran, dass ein Queeres Kulturhaus nur dann Sinn macht, wenn in diesem beispielsweise auch Trans- und Inter-Initiativen und -Gruppen und deren Kulturen ihren Platz finden können.“ Wir informieren Sie & Euch weiter über die Entwicklungen dieses Projekts.

Aus Queer Lecture wird Queer Talk im Stream

Freuen können wir uns indes über die kommenden Queer Lectures im corona-tauglichen digitalen Format als Queer Talks im Stream. Am 13.11.2020, 19 Uhr, spricht der Psychologe Aaron Lahl über die „Sexualutopische Psychoanalyse“ am Beispiel Herbert Marcuses. Am Mittwoch, 19.11.2020, ebenfalls um 19 Uhr, laden wir ein zum Vortrag von Monty Ott, Gründungsvorsitzender der queer-jüdischen Initiative Keshet Deutschland e.V., zur Problematik des Intersektionalitätskonzepts im Hinblick auf den „blinden Fleck“ Antisemitismus: „Kein Platz für Jüd:innen?“. Erinnert sei an dieser Stelle an die Premiere unseres digitalen und corona-tauglichen Diskurs-Formats im September 2020:  Til Randolf Amelung sprach im ersten Queer Talk über: „Trans* – Aspekte einer Lebensform“. Dieser Talk ist weiterhin und kostenlos auf unserer Seite abrufbar.

Am 17. Dezember sind wir transatlantisch unterwegs mit der Ökonomin Deirde (bis 1995 Donald) McCloskey zum Thema „The Right to Be Queer?  Liberal Ruminations“. Wir freuen uns über all diese Queer Lecturer – ehren Sie, ehrt Ihr sie mit Präsenz vor Ihren und Euren Screens. Übrigens, auch bei den Queer Talks kooperieren wir freundschaftlich mit dem Verlag der Berliner Tageszeitung taz.

Für das kommende Jahr planen wir aktuell 15 Queer Lectures, digital und hoffentlich auch wieder öffentlich in einem Vortragsraum. Erwähnen möchten wir noch, dass unsere Queer Lectures in technischer Kooperation mit den taz Talks stattfinden; sie werden allesamt auf unserer Website auch nach den Live-Vorträgen aufbewahrt – Auftakt für unser audiovisuelles Archiv.

Unsere Initiative Queer Nations lebt von der Organisation von Wissen und vom Wissenwollen – wir engagieren uns mehr denn je.

Bleiben Sie, bleibt vor allem dies – gesund und aufrecht!

Für den Vorstand
Jan Feddersen, Clemens Schneider, Markus Bernhardt und Manuel Schubert

Berlin, 13.11.2020


Vorläufiger Rückzug aus dem E2H-Projekt | IQN Bekanntmachung

Mit Datum vom 13. Oktober 2020 hat die Initiative Queer Nations e.V. dem projektverantwortlichen Verein Freund*innen des Elberskirchen-Hirschfeld-Hauses – Queeres Kulturhaus e.V. den vorläufigen Rückzug von IQN aus dem E2H-Projekt zur Kenntnis gebracht. Der Text der Bekanntmachung im Wortlaut.


Als initiatorische Institution des Projekts für ein Queeres Kulturhaus, politisch schon vor fünf Jahren als Queerer Leuchtturm für Berlin durch den damaligen rot-schwarzen Senat markiert, sehen wir mit großer Sorge die aktuelle Entwicklung dieses aktuell so genannten Elberskirchen-Hirschfeld-Hauses.

Die Initiative Queer Nations e.V. wurde 2005 aus der Taufe gehoben, um jenseits parteipolitischer Wünsche und Profilierungsstrategien weltanschaulich unabhängige Projekte zu ermöglichen. Wir hatten wesentlich Anteil daran, die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld ins Leben zu rufen. Danach war sie federführend beteiligt, in Berlins Mitte ein der Öffentlichkeit zugängliches und bewusst weltanschaulich offen gehaltenes Queeres Kulturhaus zu initiieren. Darüber hinaus ermöglicht sie seit anderthalb Jahrzehnten den wissenschaftlichen – akademisch wie volxkulturell – Dialog zwischen allen Strömungen in den LGBTTIQ*-Szenen (nicht nur) in Berlin. Dokumentiert wird dies durch inzwischen 100 Queer Lectures und die Herausgabe des „Jahrbuch Sexualitäten“ (Wallstein-Verlag), das inzwischen in fünfter Ausgabe erschienen ist.

Wir haben stets insofern unsere Unabhängigkeit betont, als wir etwa in unseren Queer Lectures keiner ideellen oder diskursiven Richtung in der LGBTTIQ*-Community den Vorzug gaben oder je geben wollten. Im Gegenteil: Wir möchten den respektvollen und fairen Diskurs befördern, um miteinander eine gemeinsame Sprechfähigkeit zu erlangen. Gerade als queere Menschen sind wir überzeugt, dass Vielfalt – auch der Argumente und Überzeugungen – einen Wert in sich hat und geschützt und befördert werden muss.

Ausschließende oder gar feindselige Grundhaltungen

Dies scheint uns auch deshalb in jüngerer Zeit umso dringlicher geraten, als rechtspopulistische, teils homophobe, oft auch transphobe Stimmen in unserer Gesellschaft wieder stärker Raum beanspruchen und leider auch gewinnen. Als queere Personen können wir ein Beispiel setzen in einem Umfeld, das indes auf Diskursverengung zielt und seine gesellschaftszersetzende Kraft dadurch gewinnt, dass es Gegensätze ausspielt statt sich um eine Kultur der Toleranz und des Respekts zu bemühen. Diversität ist unser Charisma.

Die Initiative Queer Nations e.V. bedauerte sehr den Rückzug der queeren Archive – Magnus Hirschfeld Gesellschaft, Lesbenarchiv Spinnboden, das feministische Archiv FFBIZ sowie das Lili Elbe Archiv – aus unserem Projekt vom Queeren Kulturhaus.

Wie die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld möchten auch wir uns als IQN e.V. bis auf weiteres vom E2H-Projekt zurückziehen. Wir beobachten generell ausschließende oder gar feindselige Grundhaltungen gegenüber anderen Gruppen. Offener kontroverser Diskurs: ja, Diskriminierung: nein. Wir erinnern daran, dass ein Queeres Kulturhaus nur dann Sinn macht, wenn in diesem beispielsweise auch Trans- und Inter-Initiativen und -Gruppen und deren Kulturen ihren Platz finden können.

Eine Kultur von Sicht- und Sagbarkeit

Wir wünschen uns im Queeren Kulturhaus eine inklusive und offensive Willkommenskultur. Wer „anders als die anderen“ ist, soll hier ein Zuhause finden. Dazu gehört auch, weitere Bereiche queerer Lebensrealität zu integrieren, historisch wie aktuell und perspektivisch – oder wenigstens perspektivisch zu denken. Sensibel zu bleiben für Anliegen, die sich noch nicht laut artikulieren konnten, ist ein zentraler Bestandteil queerer Verantwortung.

Zu diesen Themen gehören zum Beispiel Geschichte und Gegenwart der People Of Colour (nicht nur) in Deutschland sowie der Menschen, die als sogenannte „Gastarbeiter:innen“ nach Deutschland (und andere Länder Mittel-, West- und Nordeuropas) kamen und deren LGBTTIQ*-Erfahrungen bislang kaum berücksichtigt werden; denen Erzähl-Räume ebenso fehlen wie Zuhörer:innen von allen Seiten: So verstehen wir eine Kultur von Sicht- und Sagbarkeit.

Als queere Menschen teilen wir die Erfahrung, unsichtbar bleiben zu sollen. Darum ist es uns als Initiative Queer Nations e.V. ein besonderes Anliegen, nicht einzelnen Teilgruppen der queeren Community besondere Sichtbarkeit zu ermöglichen, und seien sie geschichtlich noch so sehr begründet. Es gilt dazu beizutragen, alle Sexualitäten und Identitäten sichtbar und hörbar zu machen – seien sie im queeren Spektrum nun schwul, lesbisch, trans oder inter.

Dass es noch nicht zu spät ist, möchten wir glauben – bitten zunächst aber darum, dass unser Logo wie auch unser Name bis auf weiteres von der Website des E2H entfernt wird. Eine Rückkehr ins E2H-Projekt wünschen wir uns, indes nur mit den genannten queeren Archiven und der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld.

Vorstand der IQN e.V. – Clemens Schneider, Manuel Schubert, Markus Bernhardt und Jan Feddersen

Berlin, 13.10.2020


COVID-19 und die Auswirkungen auf die LSBTIQ*-Community | Appell


Appell der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld an Staat und Gesellschaft


Das Coronavirus diskriminiert nicht, trifft jedoch auf diskriminierende gesellschaftliche Strukturen. Deswegen sind marginalisierte Gruppen besonders stark betroffen, unter diesen die LSBTIQ*-Community. Gemäß dem Ziel der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (BMH), einer gesellschaftlichen Diskriminierung von lesbischen, schwulen, bi-sexuellen, trans- und intergeschlechtlichen sowie queeren Personen (Abkürzung: LSBTIQ*) in Deutschland entgegen-zuwirken, möchten der Vorstand und der wissenschaftliche Beirat der BMH auf drei Probleme hinweisen, Besorgnis zum Ausdruck bringen und zu Lösungsansätzen beitragen:

Erstens hat sich der medizinische Fokus in den letzten Monaten auf die Bekämpfung der Pandemie verlegt. Andere wichtige medizinisch notwendige Versorgungsleistungen (allgemeine Gesundheitsvorsorge; Behandlung chronischer (Infektions-)Erkrankungen; operative Eingriffe; Hormonbehandlungen; psychotherapeutische Versorgung) sind dem-gegenüber oftmals aufgeschoben worden. Davon sind LSBTIQ*-Personen überproportional negativ betroffen.

Zweitens hat häusliche Gewalt durch Ausgangssperren und eingeschränkte soziale Kontakte außerhalb des eigenen Haushalts zugenommen. In Familien, in denen bereits vor der Pandemie besondere Spannungen bestanden (etwa in Familien, in denen LSBTIQ*-Personen wegen ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität nicht akzeptiert werden), besteht ein erhöhtes Risiko häuslicher Gewalt. Dies betrifft insbesondere minder jährige LSBTIQ*-Personen, die bei ihren Eltern leben. Im Lockdown wurde zudem vielen LSBTIQ*-Personen die Verweigerung der staatlichen Anerken-nung ihrer Partnerschafts- und Familienmodelle wieder schmerzhaft bewusst, besonders wenn sie nicht in einem Haushalt zusammenleben.

Drittens ist die Inanspruchnahme staatlicher Leistungen seit Monaten nur eingeschränkt möglich. Dies betrifft zum einen den individuellen Zugang zu allgemeinen und speziellen Hilfs- und Förderprogrammen für die LSBTIQ*-Community sowie den Zugang zu Verwaltung und Justiz (etwa in Verfahren zu Personenstandsänderungen oder Aufnahme von Pflege- und Adoptivkindern). Zum anderen ist die institutionelle Absicherung von Community-Struk-turen gefährdet, deren Angebote zeitweise nicht durchgeführt werden konnten und/oder deren weitere Förderung pandemiebedingt in Frage steht.

Vorstand und Fachbeirat der Stiftung erinnern an die grund- und menschenrechtlichen Verpflichtungen der Bundes-republik, insbesondere an das Recht auf (physische und psychische) Gesundheit sowie an die Diskriminierungs- verbote. Der Staat muss die garantierten Grund- und Menschenrechte nicht nur selbst in seinen Handlungen achten, sondern auch positiv schützen und fördern.

Staatliche Akteure in Bund, Ländern und Kommunen, zivilgesellschaftliche Akteure und Unternehmen müssen bei der Bekämpfung der Pandemie die besondere Situation der LSBTIQ*-Community berücksichtigen und die beson-deren negativen Effekte der Coronapandemie auf die LSBTIQ*-Community stärker erforschen und ihnen entgegen-wirken. Es gibt vielfältige Ideen, wie die Situation verbessert werden kann. Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld appelliert an staatliche und nichtstaatliche Akteure, mit der LSBTIQ*-Community zu diesen Zwecken einen nachhal-tigen öffentlichen Dialog zu führen. Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld bietet an, diesen Dialog zu bündeln und in eine konkrete Machbarkeit z. B. in Form eines bundesweiten Aktionsplans zu überführen.

Die Initiative Queer Nations e.V. unterstützt diesen Appell ausdrücklich.


Sie finden diesen Appell auch hier als PDF zum Download.