Kategorie: Allgemein

Glücksversprechen in der Warteschleife

Das Selbstbestimmungsgesetz ist ins Stocken geraten – wieder einmal. Im Transaktivismus wächst die Sorge, dass das Gesetz noch auf den letzten Metern scheitern könnte. Zu offensichtlich sind die ungelösten Probleme um dieses Gesetz, auf die gerade die CDU/CSU hinweist.


Abgerissene Kalenderblätter liegen unordentlich auf einem Tisch

Foto von Claudio Schwarz auf Unsplash


21. Februar 2024 | Till Randolf Amelung

Das Selbstbestimmungsgesetz, eines von mehreren Projekten im Fortschrittsversprechen der Ampel-Regierung, läuft nicht nach Plan. Eigentlich hätte es noch vor dem Jahreswechsel 2023/24 in zweiter und dritter Lesung durch den Bundestag gebracht werden sollen. Als dies nicht passierte, wurden Wartende auf Januar vertröstet und schließlich auf Februar. Nun bleibt ungewiss, wann die Regierungskoalition aus SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP einen Anlauf wagen will. Passiert es noch im März? Oder erst kurz vor der parlamentarischen Sommerpause? Oder gar nicht mehr vor den Bundestagswahlen 2025?

 

Wachsender Pessimismus

Im Transaktivismus wächst die Sorge, dass das ersehnte Gesetz doch noch scheitern könnte. Besonders deutlich wird dies in einem Kommentar von Nora Eckert, Vorständin von TransInterQueer e.V., auf dem Online-Portal queer.de. Darin schreibt Eckert, dass sie wachsenden Pessimismus wahrnehme. Zugleich beschwört sie Gleichgesinnte, nicht aufzugeben: „Dass uns und der Ampelregierung die Zeit davonläuft, ist nicht zu bestreiten. Aber vor der Zeit und auf den letzten Metern etwas verloren geben, was wir dringend brauchen, das wäre fatal.“

Diese Ungewissheit, wie es mit dem Selbstbestimmungsgesetz weitergeht, liegt offenbar an interner Uneinigkeit innerhalb der Bundesregierung. Nach Einschätzung von politischen Korrespondenten verschiedener Medien im Bundestag gebe es innerhalb der regierenden Parteien zwei Lager. Die einen glauben, es wäre an der Zeit, die mutmaßlich nicht über die nächste Bundestagswahl im Herbst 2025 hinaus amtierende Regierung durchstarten zu lassen. Dieses Lager möchte bis dahin so viel an Reformen verabschieden, wie noch möglich ist. Dazu gehören auch die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen (Streichung des § 218) sowie das Gesetz zu „Verantwortungsgemeinschaften“. Die anderen sind dagegen und wollen bis zur Bundestagswahl von diesen Vorhaben nichts mehr umsetzen, weil alle Reformvorhaben nur der AfD und der Union Wahlkampfmunition liefern würden.

Die Nervosität unter Transaktivist_innen ist also berechtigt. Was Nora Eckert in ihrem Kommentar auch beschreibt, ist, dass der Entwurf für ein Selbstbestimmungsgesetz vielen Transaktivist_innen und ihren Verbündeten ohnehin nicht weit genug geht. Eckerts Sicht steht paradigmatisch dafür, wenn sie schreibt „dass etliche Paragrafen sich allein Missbrauchsängsten und Misstrauen“ verdanken. Darin sieht sie erhebliches „Diskriminierungspotential für diejenigen, denen das Gesetz das Leben eigentlich erleichtern soll und sie de facto dadurch nur behindert.“ Als Hindernis sehen Aktivist_innen wie Eckert jede Regelung, die eine rechtsverbindliche Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags allein auf Basis der Selbstaussage in irgendeiner Form einschränken könnten. „Selbstbestimmung“, so heißt es in ihrem Text, „ist ein elementares Freiheitsrecht“.

Zum Ende hin appelliert Eckert noch an die CDU/CSU, dass konservativ sein „ja wohl nicht die Anerkennung von Freiheitsrechten“ ausschließe. Um direkt im Anschluss vorzuwerfen, dass eine kritische Haltung zum Selbstbestimmungsgesetz das Geschäft der AfD betreibe.

 

92 Fragen der Opposition

Die Unionsparteien wiederum haben ihrer Ablehnung gegenüber diesem Selbstbestimmungsgesetz mehrfach Ausdruck verliehen. Kurz vor den Weihnachtsfeiertagen stellte die CDU/CSU-Fraktion in einer Kleinen Anfrage im Bundestag an die Regierung 92 Fragen zu diesem Gesetzesvorhaben und wies schon im Gewitter der Fragezeichensätze auf die vielen Lücken, Widersprüche und unklaren Rechtsfolgen des avisierten Gesetzes hin. So zum Beispiel in Frage Nr. 57: „Sieht die Bundesregierung einen Widerspruch darin, den Geschlechtseintrag vom persönlichen Empfinden abhängig zu machen und rechtliche Folgewirkungen daran anzuknüpfen, obwohl viele rechtliche Regelungen, z.B. die in § 8 SBGG-E, an das biologische Geschlecht anknüpfen?“

Die Antwort der Bundesregierung, die durch den Queerbeauftragten Sven Lehmann (Bündnis90/Die Grünen) erfolgte, bleibt eine Klärung der Frage hier schuldig – auch dies exemplarisch: „Die rechtliche Anerkennung der Geschlechtsidentität einer Person hat aus Sicht der Bundesregierung mit Blick auf den grundrechtlichen Schutz, der aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 GG) folgt, eine hohe Bedeutung. § 8 SBGG-E stellt jedoch klar, dass physische Gegebenheiten im Zusammenhang mit der Fortpflanzung unabhängig vom personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrag berücksichtigt werden.“ Ebenso lapidar wurden von der Bundesregierung Fragen behandelt, die sich speziell auf höhere Schutzinteressen von Kindern und Jugendlichen bezogen. So beantwortete Lehmann Fragen nach Gründen für den Verzicht auf verpflichtende Beratungen oder Gutachten für diese Gruppe wie folgt: „Unter den eingegangenen fachmedizinischen Stellungnahmen besteht weitgehend Konsens, keine verpflichtende Beratung oder Begutachtung von Kindern und Jugendlichen zu fordern, bevor diese ihren Geschlechtseintrag ändern dürfen.“ Ignoriert wird dabei, dass die Evidenzbasis für einen gender-affirmativen Ansatz bei Minderjährigen zunehmend als „schwach“ kritisiert wird. „Gender-affirmativ“ bedeutet, die Selbstaussage über die Geschlechtsidentität möglichst unhinterfragt zu bestätigen sowie eine frühzeitige Transition in sozialer, medizinischer, aber auch rechtlicher Hinsicht zu ermöglichen. Eine ausführlichere Exploration möglicher Hintergründe, die andere Ursachen für das Leiden unter dem körperlichen Geschlecht nahelegen würden, wird gerade von Transaktivist_innen als Angriff auf die geschlechtliche Selbstbestimmung verstanden.

 

Kritik am gender-affirmativen Ansatz

Unter den eingegangenen fachlichen Stellungnahmen zum Selbstbestimmungsgesetz gab es auch welche, die auf die Risiken dieses Ansatzes hingewiesen haben, zum Beispiel die des Erziehungswissenschaftlers und Psychoanalytikers Bernd Ahrbeck. Lehmann scheint diese offenbar auszublenden. Im Ausland steht ein gender-affirmativer Ansatz bei Minderjährigen hingegen längst in der Kritik. Andere Länder, vornehmlich in Europa, sind davon bereits abgerückt, nachdem sie die Evidenzbasis prüfen ließen. Die Bundestagsabgeordnete Susanne Hierl (CSU) legte deshalb im Januar 2024 nach und reichte schriftlich die Frage ein, wie die Bundesregierung die Entwicklungen beispielsweise um die britische Tavistockklinik, deren Gender Identity Developement  Service (GIDS) nach einem vernichtenden Untersuchungsbericht in der bisherigen Form abgewickelt wurde, und die wachsenden Zweifel an der Evidenzbasis des „Dutch Protocols“ bewerte. Das „Dutch Protocol“, welches an der Universitätsklinik Amsterdam entwickelt wurde, ist die Grundlage für den gender-affirmativen Ansatz, insbesondere mit der Gabe von sogenannten Pubertätsblockern und der anschließenden Einleitung der gewünschten Pubertät durch gegengeschlechtliche Hormone. Zuletzt hat die konservative Premierministerin der kanadischen Provinz Alberta, Danielle Smith, verkündet, in ihrer Provinz der in Kanada insgesamt sehr weit verbreiteten gender-affirmativen Praxis bei Minderjährigen Grenzen setzen zu wollen. Ab Herbst 2024 sollen in Alberta zum Beispiel Jugendliche unter 15 Jahren keine Pubertätsblocker mehr bekommen dürfen und geschlechtsangleichende chirurgische Eingriffe bei unter 17-jährigen sollen verboten werden.

Der Queerbeauftragte Lehmann entgegnete auf die Frage Hierls lapidar, dass die Bundesregierung „derlei Vorgänge im Ausland“ nicht beurteile und verwies darauf, dass das Selbstbestimmungsgesetz keine medizinischen Behandlungen regele. Damit verschließt die Bundesregierung die Augen davor, dass hinter dem gender-affirmativen Ansatz verschiedene Maßnahmen stehen, bei denen es keinen Sinn ergibt, sie isoliert voneinander zu betrachten. Wer eine rechtswirksame Änderung des Geschlechtseintrags wünscht, beschäftigt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bereits mit medizinischen und sozialen Transitionsschritten. Entsprechend unzufrieden mit den Antworten äußerte sich die Abgeordnete Hierl gegenüber dem Münchener „Merkur“, dass Lehmann alle berechtigten Zweifel ignoriere und stur seine Ideologie vertrete.

 

Konfliktpotenzial mit Ansage: eine Klassenfahrt

Dabei ist längst auch jenseits medizinischer Behandlungen absehbar, dass es zu Konflikten kommt, wenn wir keinen gemeinsamen Referenzrahmen, also Verständnis von Geschlecht haben. Ebenso, wenn wir Kindern und Jugendlichen die gleiche Entscheidungsfähigkeit zuerkennen wie Erwachsenen. Auf X war neulich anonymisiert zu lesen, wie eine Lehrerin daran scheiterte, eine Klassenfahrt durchführen zu können: Zwei 16-jährige biologisch männliche Jugendliche in der Klasse hätten sich erst kürzlich zu Mädchen erklärt. Nun bestünden sie darauf, als Mädchen behandelt und gemeinsam mit ihren Klassenkameradinnen im Zimmer untergebracht zu werden und auch mit ihnen die Gemeinschaftsduschen zu nutzen. Kompromissvorschläge, wie separate Duschzeiten und ein Zweibettzimmer für die beiden Jugendlichen seien von diesen abgelehnt worden. Sie seien schließlich Mädchen, so heißt es auf X. Daraufhin hätten mehrere muslimische Eltern ihre Töchter von der Klassenfahrt wieder abgemeldet. Auch andere Mädchen hätten nicht mehr mitgewollt. Die Schule habe die betreffende Lehrerin mit der Situation allein gelassen, sodass diese die Fahrt schließlich absagte. Soweit die Geschichte auf X. Nachfragen mit der Bitte um Verifizierung blieben bisher unbeantwortet.

In der Konstellation und Darstellung aber sind diese Schilderungen exemplarisch für die Konflikte, die sich daraus ergeben, wenn die Aussage über das eigene Geschlecht ausschließlich der Selbstbestimmung überlassen wird. Selbstbestimmung kann überdies nicht als einseitig gewährtes Prinzip funktionieren, ohne den gesellschaftlichen Frieden zu gefährden. Im Hinblick auf mehrheitlich eher konservativere Muslime wird sich so manches queeraktivistische Vielfalts-Wimmelbild als romantische Phantasie entpuppen, welche mit der Realität wenig zu tun hat. Ein Bekannter schrieb mir neulich zudem, dass einige türkische Familien in seinem Umfeld nun auch die Debatten um das Selbstbestimmungsgesetz mitbekämen und dies für verrückt hielten.

 

Selbstbestimmungsgesetz als Urnengift?

Möglicherweise bemerken es auch zunehmend mehr Abgeordnete der Ampel-Koalition, dass Geschlecht als etwas rein Selbstbestimmtes gegenüber vielen Wähler_innen stark erklärungsbedürftig ist. Vielleicht sogar, dass unter diesen Abgeordneten selbst enthusiastische Zustimmung abhandengekommen ist oder ihnen erst jetzt zu Bewusstsein dringt, welche Dimensionen dieses Vorhaben hat. Die konfliktgeladene Stimmung in der Ampel-Koalition sowie bereits im Herbst dieses Jahres anstehende Landtagswahlen könnten die Bereitschaft, Risiken mit gewagten Reformprojekten einzugehen, negativ beeinflussen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Reform wie das Selbstbestimmungsgesetz in der derzeitigen gesellschaftspolitischen Atmosphäre für SPD, Grüne und FDP zum Urnengift wird, ist hoch.

Doch wer stellt sich nun hin und macht dies transparent? Das Eingeständnis des Scheiterns beim Selbstbestimmungsgesetz scheint unumgänglich, damit anschließend Wege gefunden werden können, das Transsexuellengesetz zu reformieren. Radikale Ideolog_innen müssen nun abtreten und an Realos übergeben, wenn nach dieser Hängepartie überhaupt noch etwas herauskommen soll. Moralische Erpressung und jegliche Kritik als „AfD-nah“ zu beschmieren, sind dabei allerdings kontraproduktiv.

 


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations. Texte von ihm, insbesondere zu politischen, transaktivistischen Zielen sind auch im Jahrbuch Sexualitäten 2021 (Politische Hybris. Wie der Transaktivismus seine Erfolge zu verspielen droht) und 2022 (Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar? Ein Zwischenruf für die Berücksichtigung psychodynamischer Ansätze) erschienen. Zum Selbstbestimmungsgesetz äußerte er sich in diesem Blog bereits: Wird der Bademeister zum Gutachter? und Der Gesetzesentwurf, mit dem kaum jemand glücklich ist.

Transparenzhinweis: Zum Selbstbestimmungsgesetz wurde er im Familienausschuss des Bundestages als Sachverständiger auf Einladung der CDU/CSU angehört. Ein Auszug wurde hier veröffentlicht.


 


Schwul an die Wäsche gehen | Meine Sonnenallee – Notizen Nr. 42

IQN-Vorstand Jan Feddersen berichtet auf Facebook regelmäßig vom Leben in der Neuköllner Sonnenallee. Exklusiv für unseren Blog geht es in der 42. Folge nun über gelebte (und ungelebte) schwule Sexualität unter arabischen Männern.



19. Februar 2024 | Jan Feddersen

Freund B. möchte noch länger in der Fuldastraße wohnen bleiben, fast direkt über der vor Jahren abgebrannten Metzgerei, die inzwischen wieder den Laden geöffnet hat. Allerdings nur zur Hälfte, aus Gründen, die niemand kennt. Man munkelte um den Brand dieses definitiv nicht halalen Geschäfts. „Die einen“, sagt B., „raunten etwas von verweigerten Schutzgeldzahlungen, die anderen hielten sich entfernt von solchen verleumderischen Gerüchten.“ So oder so: B. hat es fein in seinem Mietshaus. Einige Arme in den Wohnungen, sie hoffen, wie so viele, auf ihre alten Mietverträge und außerdem auf genügend Kraft, es auch im hohen Alter noch im fahrstuhllosen Treppenhaus bis nach oben zu schaffen. Der gar nicht mal junge Mann wird sehr gemocht: Er ist von freundlichem Wesen, grüßt die Nachbarn, manchmal trägt er auch schwere Einkaufstaschen nach oben. Dass er schwul ist, wurde ihm selbst vor sehr vielen Jahren nicht übel genommen. Es heißt, wie eine Bekannte aus dem Nachbarhaus mir mal versicherte: „Ach, der B., der bringt immer so verschiedene Herren nach Hause mit – der kann sich wohl nicht für den Richtigen entscheiden.“ Beziehungsweise: „Der B., der hat ja viele Nachhilfeschüler.“

 

Schwules Leben unter muslimischen Männern

Nein, der kann sich weder für einen Schüler noch für eine Bekanntschaft – gängige Vokabel unter nicht mehr so jungen Ureinwohnern für Bratkartoffelverhältnisse, falls jemand dieses Wort noch kennt – entscheiden. Und so fragte ich ihn: „Sag mal, B., über meine Sonnenallee will ich nur Gutes schreiben, die Leute dort haben es nicht einfach, viel Rufschädigung ist im Spiel, denn sie können ja nichts für die vielen bonsaigroßen Demos, die an ihnen weitgehend vorbeiparadieren. Also: Wie steht’s ums schwule Leben unter unseren muslimischen Bürgern?“
Kneipen gibt es ja nicht, die meisten haben kein Geld, um ins nahe SchwuZ im Rollbergkiez einzukehren. Und so wie einige es im Tiergarten hielten, Flüchtlinge viele, die sich auf dem botanisch umrankten Strich n Euro verdienten: Das ist ja alles nicht von dieser Alltagswelt.

 

Eine Millisekunde zu lang

„Tja“, sagt B. mit seinen letzten Resten an bosnischem Akzent, sein Deutsch ist tadellos, aber er hat immer einen leichten Nachhall in der Sprache, der mich an Bata Illic erinnert. Zieht an seiner vierten Zigarette auf dem Stuhl vor dem „Le Brot“ und sagt: „Ich hörte vom wunderschönen Stadtbad Neukölln, da in den Duschen der Herren … .“ Aber da, so B., ziehe es ihn nicht hin, er mag den ganzen Aufwand nicht, hingehen, Eintritt bezahlen, umziehen und so weiter und so fort. Lieber habe er den spontanen Augenkontakt, dieser um eine Millisekunde zu lange Blick zwischen zweien … Ein Blick, der nicht checkend Aggression prüft, sondern, nun ja, Interesse. Und dann sehe man eben weiter.

„Wie“, insistiere ich, „siehst du weiter?“ „Na, entweder begleitet man sich beim Schaufenstergucken, ob der andere das ernst gemeint habe – und wenn es denn es dann safe sei, dass dieser akkurat winzig zu lang-interessierte Blick in einem anbahnenden Sinne gemeint sei, dann … .“ Tja, dann gehe man nach oben, treffe sich. Er wolle mir in einer Woche mehr erzählen, weil er ersichtlich mit den echten Details nicht einverstanden ist. Besser: Die genaueren Umstände doch ziemlich undeutlich geblieben sind.

 

Coming-Out total verboten

B. hat jetzt seine fünfte Zigarette geraucht, den dritten Kaffee intus und verrät nur noch dies: „Wenn zehn arabische Männer zusammenstehen, kann es sein, dass die alle mal was miteinander hatten – aber sie würden es sich niemals anmerken lassen.“ Ja, B. nun fasziniert von seiner eigenen Beobachtung: „Dass sie es sogar vergessen haben könnten. Wie jeder mal unerzählbare Begebenheit vergisst.“

Wahr ist jedenfalls, dass es unter arabischen Bürgern jede Menge schwule Exemplare geben muss. Wie überall und in allen Gruppen. Aber sie tauchen nicht in den wenigen noch verbliebenen schwulen Kneipen im Nollendorfkiez auf, sie mischen sich nicht in die üblichen Homomittelschichtsevents ein. Sie sind einfach, wie alle auch, erotisch interessiert. Als modernes Coming-Out und Going Public aber, ist genau das unter eben eingewanderten Bürgern ganz und gar total verboten: eine erotische No-Go-Area. Bei Strafe des Familienausschlusses – und diesen will, ja, darf niemand riskieren. Also ist es diskret, und das wird es gewiss auch bleiben.

B. fragt: „Noch nicht zufrieden mit der Aufklärungsstunde?“ Herzlichen Dank, nein. „Bald erzähle ich dir mehr“, verspricht er, „du wirst dich wundern.“


Jan Feddersen lebt in Berlin-Neukölln, seine bisher erschienenen Notizen „Meine Sonnenallee“ kann man auf Facebook finden. Außerdem ist er Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.



Biologie als Provokation

Die Anzahl der Geschlechter wird zum Mittel für Fankurven in Fußballstadien, mit dem sich Statements gegen den Deutschen Fußballbund setzen lassen.  Welche Folgen hat diese Polarisierung für die Akzeptanz von trans- und intergeschlechtlichen Menschen?


Foto von Tobias Rehbein auf Unsplash


11. Februar 2024 | Till Randolf Amelung

18.000 Euro – so viel kostete den Fußball-Bundesligisten Bayer 04 Leverkusen ein Banner der eigenen Ultras, laut einem Urteil des Sportgerichts des Deutschen Fußballbunds (DFB). Das beanstandete Banner wurde im vergangenen November bei der Partie gegen den SV Werder Bremen gezeigt. Zu lesen war folgendes: „Der Zitronenmann sagt: es gibt viele Musikrichtungen, aber nur 2 Geschlechter.“ Dieses Banner der Leverkusener Fans war eine Botschaft an die des SV Werder. Laut dem Magazin „Der Spiegel“ haben die Bremer Fans den Ruf, besonders links/progressiv/woke zu sein, im Gegensatz zu den Bayer-Anhängern. In einer Choreografie im Spiel gegen den SC Freiburg im Februar 2023 bezeichneten sich die Leverkusener Fans als „Raverkusen“. Die Werder-Fans griffen dies während der Partie Bremen gegen Leverkusen mit einem Spruchband mit der Aufschrift „Bierkönig ≠ Technoclub“ auf. Daher vermutet der „Spiegel“-Artikel, dass sich „Es gibt viele Musikrichtungen“ auf diese Vorgeschichte bezieht, jedoch „aber nur 2 Geschlechter“ die Gesinnung der Bremer Fans verspotten will. Die Aktion der Leverkusen-Ultras sorgte für Entrüstung, da sie als feindlich gegenüber trans- und intergeschlechtlichen Menschen eingeordnet wurde. Der DFB selbst formuliert seinen Anspruch wie folgt: „Kein Mensch darf auf Grund des Geschlechts benachteiligt oder ausgegrenzt werden. Frauen, Männer, Trans* und intergeschlechtliche Menschen sollen auch im Fußball gleichberechtigt teilhaben können.“ Ende Januar 2024 urteilte daher das DFB-Sportgericht, dass dieses Banner „diskriminierend im Sinne des § 9 Nr. 2 Abs. 1, Nr. 3 DFB-Rechts- und Verfahrensordnung in Bezug auf die geschlechtliche bzw. sexuelle Identität“ gewesen sei.

Mit diesem Urteil ging die Auseinandersetzung jedoch erst richtig los und es wird sichtbar, wie sehr Geschlecht zu einem Schauplatz des Kulturkampfes geworden ist. Eine Woche nach dem Urteil kommentierten die Fans vom Drittligisten Dynamo Dresden dieses während des Spiels gegen den FC Ingolstadt mit einem Banner mit der Aufschrift: „Es gibt nur einen lächerlichen DFB… und zwei Geschlechter!“ Fotos davon gingen auf Elon Musks Kurznachrichtendienst X viral, mittlerweile hat der DFB auch Ermittlungen gegen die Fans von Dynamo eingeleitet. Inzwischen wurde bekannt, dass auch im Regionalligaspiel zwischen Energie Cottbus und Viktoria Berlin von den Cottbusser Fans ein Banner mit „Es gibt nur 2 Geschlechter… beide verachten den DFB“ präsentiert wurde. Es ist abzuwarten, ob sich bei den kommenden Fußballspielen in allen deutschen Ligen noch weitere Fangruppen sich mit ihren Spruchbändern auf die Kontroverse um die Anzahl der Geschlechter und den DFB beziehen werden.
 

Die „One Love“-Doppelmoral

Die Ultra-Szene sieht sich mit ihrer Gegenkultur als Bewahrer einer ursprünglichen, weil anti-kommerziellen Authentizität des Fußballs. Seit Jahren schon, positionieren sich viele Ultra-Gruppen deshalb kritisch und teils mit martialischen Aktionen gegen den DFB. Zudem bleibt diesen Fans nicht verborgen, dass der DFB selbst daran scheitert, den ausgegebenen Parolen von Vielfaltsbewusstsein gerecht zu werden. Bis heute gibt es keine schwulen Coming outs von aktiven männlichen Fußballern in den höheren Ligen. Ein PR-Desaster der besonderen Art war zudem die „One Love“-Kapitänsbinde bei der WM 2022 in Katar. Im Wüstenstaat stehen homosexuelle Handlungen unter Strafe, sogar die Todesstrafe ist möglich. Dieser Austragungsort war gerade in der deutschen Bevölkerung höchst unpopulär, die Menschenrechtssituation war einer von mehreren Gründen. Da der DFB sich zuvor öffentlichkeitswirksam für Vielfalt im Fußball ausgesprochen hatte, waren nun die Erwartungen hoch, dass es ein Zeichen gegen die Homosexuellenfeindlichkeit der WM-Gastgeber geben sollte. Doch als die FIFA dieses Zeichen verbot und den Teams mit Konsequenzen wie gelben Karten drohte, knickte der DFB trotz vorheriger gegenteiliger Ankündigungen ein und ließ den damaligen Mannschaftsführer Manuel Neuer nicht mit der „One Love“-Binde auflaufen. Dabei war dieses Symbol ohnehin schon „entschwult“, denn es zeigte nicht die bekannte Farbgebung, wie damals taz-Redakteur und IQN-Vorstand Jan Feddersen feststellte.
 

Banales Schulwissen als Subversion

Dieser DFB nun, geht mit Furor gegen Fußballfans vor und skandalisiert eine Aussage, bei der viele Menschen wohl nicht nachvollziehen können, warum sie so umstritten sein soll. Diese Vorfälle um provokante Fanbanner richten ein Schlaglicht darauf, wie es um die Akzeptanz queeraktivistischer Bemühungen bestellt ist, biologische Fakten aus ideologischen Absichten heraus umzudeuten. Die Anzahl der möglichen Geschlechter beim Homo Sapiens ist zu einer umstrittenen Frage geworden, sogar bei der Frage, wie viele biologischen Geschlechter es denn nun gibt. Die einen beharren auf zwei, die anderen sehen auch das biologische Geschlecht als ein Spektrum, in dem es eine Vielzahl von Geschlechtern gäbe. Kern der biologischen Definition des Geschlechts ist jedoch die Gametenart, die produziert wird: kleine, bewegliche Spermien kennzeichnen das männliche Geschlecht, die Eizellen das weibliche. In den vergangenen 20 Jahren wuchs das Bewusstsein, dass es eine Vielfalt als physiologischer und anatomischer Erscheinungsformen gibt, darunter auch Intergeschlechtlichkeit. Ebenso, dass es Menschen gibt, die tiefgreifend unter ihrem Geschlechtskörper leiden und eine Geschlechtsangleichung anstreben. Ohnehin gesellschaftlich bekannt war, dass es eine Bandbreite an kulturellen Ausdrucksformen und Identitätsverständnissen gibt.
 

Ideologie vs. Fakten

Im queeren Aktivismus war man jedoch der Überzeugung, dass die bisherige Definition des biologischen Geschlechts weiterhin dazu beitrage, trans- und intergeschlechtliche Menschen als Abweichung und nicht wie eigentlich gewünscht als Normvariante zu begreifen. Daher suchte man neue Begründungsmöglichkeiten, die dem gewünschten Selbstbild besser Rechnung tragen könnten. Diese Begründungsmöglichkeiten wurden in aktivistischen Kreisen und akademisch vor allem über geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen verbreitet, um dann später in staatlich geförderten Informationsmaterialien für Akzeptanz von Vielfalt zu landen. Einen umfassenden Paradigmenwechsel hat es in der Biologie hingegen jedoch wohl so nicht gegeben. Um die aktivistische Neudefinition zu verteidigen, werden in Deutschland meistens der Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß und der Beitrag „Sex redefined“ der Wissenschaftsjournalistin Claire Ainsworth angeführt, wobei von letzterer bekannt ist, dass sie gegen Fehlinterpretationen Stellung bezogen hat.

Claire Ainsworth am 21. Juli 2017 auf X

Auf X kommentierte der Wiener Biologie-Professor Martin Fieder unter einem Beitrag des WELT-Journalisten Arndt Diringer zu der Geschlechterkontroverse: „Ich dachte lange der Unsinn ist nur Zeitgeist der schon von alleine verschwinden wird. Tut er aber nicht, wird nur immer schlimmer. War naiv, jetzt ist es an der Zeit sich als Biologe/ Naturwissenschaftler entschieden zu wehren, bevor wir an den unis in ein neues Mittelalter abgleiten.“ Auch andere Wissenschaftler, wie Jerry A. Coyne und Luana S. Maroja beklagen, dass ihr wissenschaftliches Feld, die Biologie, durch Ideologie vergiftet werde.
 

Gesellschaftliche Folgen

Auf dieser Grundlage nun, bestraft der DFB Fußballklubs dafür, dass deren Fans Banner mit Aussagen hochhalten, die lediglich banalen Schulstoff in Biologie wiedergeben. Man will so gegen Diskriminierung von trans- und intergeschlechtlichen Menschen vorgehen, aber man leistet dieser damit erst recht Vorschub. Denn trans- und intergeschlechtliche Menschen werden auf diese Weise mit Unwissenschaftlichkeit verknüpft und damit erhöht sich die Gefahr von Ablehnung gegen sie erst recht. Das Vorgehen des DFB polarisiert unnötig und gießt Öl in ein Feuer, dessen Flammen gar nicht erst hätten so hochschlagen müssen. Man hätte das Banner der Leverkusener Fans auch einfach ignorieren können. So aber, droht das Geschlechterthema zu einem Vehikel zu werden, mit dem man „gegen die da oben“ protestieren kann.
 


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations.


Detransition und andere queere Tabuthemen

Menschen, die ihre Transition bereuen oder nicht stabile Transidentitäten sind im queeren Aktivismus unbeliebte Themen. Ein sachlicher Austausch über die komplexe Gemengelage Themenfeld „Trans“ ist geradezu unerwünscht. Doch international werden Stimmen lauter, die Sprechverbote aufbrechen wollen.


Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. (Foto von Keren Fedida auf Unsplash)


6. Januar 2024 | Till Randolf Amelung

Mit ihrem neuen Jugendroman „Einfach nur Noni“ greift die Autorin Karen-Susan Fessel ein heißes Thema auf: Detransitionen, also Rückgängigmachen und Abbrüche von Geschlechtsangleichungen. Fessel begleitet die 16-jährige Noni in der ländlichen Idylle Brandenburgs durch Höhen und Tiefen auf der Suche nach der eigenen Identität. Noni ist sich sicher, kein Mädchen zu sein. Über Internetrecherchen findet die Romanheldin eine Gruppe für Transjugendliche, in der sie sich zum ersten Mal verstanden fühlt. Schließlich outet sich Noni gegenüber den Eltern als Transjunge und bekommt Unterstützung für ihre Neuidentifikation, später auch durch eine Psychiaterin – und hält schließlich das heiß ersehnte Rezept für Testosterongel in der Hand. Doch so sicher sich Noni zuerst noch war, taucht plötzlich die Frage auf, ob eine Geschlechtsangleichung zum Mann der richtige Weg für sie ist. Vollendet wird Nonis Gefühlschaos, als sie Mirna kennenlernt und sich beide ineinander verlieben.

Karen-Susan Fessel; Einfach nur Noni, Berlin: Querverlag 2023. ISBN: 978-3-89656-332-3, 232 Seiten, broschiert, 18 Euro

Mittlerweile, an dieser Stelle ihrer Geschichte, nimmt Noni das Testosterongel nicht mehr regelmäßig und bricht die Einnahme schließlich ganz ab. Mit Hilfe der neuen Freundschaften aus der Transjugendgruppe und der lokalen queeren Community findet Noni schließlich den Mut, aus ihren massiven Zweifeln Konsequenzen zu ziehen und die Transition zumindest vorerst abzubrechen.

 

Kontroversen rund um Trans

Fessel thematisiert also aktuelle Kontroversen rundum Transitionen im Jugendalter, indem sie umstrittene Begriffe wie ROGD (Rapid Onset Gender Dysphoria), eine plötzliche Transidentität ohne vorherige Anzeichen, und die zahlenmäßige Zunahme unter biologisch weiblichen Teenagern erwähnt. Ebenso fließt in den Roman ein, dass viele Lesben und Schwule retrospektiv von geschlechtsdysphorischen Empfindungen während der Pubertät berichten. Ein im heteronormativen Umfeld entwickeltes Gefühl von „nicht richtig“ sein äußert sich oftmals in Geschlechtsdysphorie.  Auch Studien zeigen, dass sich diese Geschlechtsdysphorie bei vielen, sich selbst noch nicht als homosexuell begreifenden, Teenagern in der weiteren Entwicklung häufig wieder auflöst und worauf ein schwules bzw. lesbisches Coming out folgt.

„Einfach nur Noni“ zeigt einen Idealfall, wie man sich den Umgang mit einem jungen Menschen auf der Suche nach der eigenen Identität wünschen möchte. Doch die Realität sieht bisweilen anders aus. Gerade Detransitionier*innen stellen transaktivistische Narrative vom inneren Wissen um sich selbst und damit den trans-affirmativen Behandlungsansatz in Frage. „Gender-affirmativ“ heißt, die Selbstwahrnehmung der Patient*innen unhinterfragt in den Mittelpunkt zu stellen und ihnen auch ohne psychologische Diagnostik möglichst ungehinderten Zugang zu medizinischen Behandlungen im Rahmen einer Geschlechtsangleichung zu gewähren. Bei Minderjährigen ist das oftmals auch mit einem Einsatz von Medikamenten wie sogenannten Pubertätsblockern und mit anschließender Gabe von Östrogen- oder Testosteronpräparaten verbunden.

 

Fehlender Diskurs als Risiko

In den letzten Jahren meldeten sich immer mehr Frauen und Männer, die eine Geschlechtsangleichung vollzogen haben, aber diesen Schritt nach einigen Jahren zu bereuen begannen. Bislang fehlt es an einem offenen und sachlichen Diskurs über diese Fälle – sowohl im queeren Transaktivismus, der Politik als auch in der Fachwelt. Dies hat negative Auswirkungen auf die Patient*innensicherheit und es werden Stimmen lauter, die den fehlenden Diskurs einfordern.

Die britische Journalistin Hannah Barnes berichtet in ihrem 2023 erschienenen Buch „Time to think. The Inside Story of the Collapse of the Tavistock’s Gender Service for Children“ über die Entwicklungen, die in Großbritannien zur Neustrukturierung der Versorgung für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie führten. Über viele Jahre war der Gender Identity Developement Service (GIDS) landesweit die einzige Anlaufstelle für geschlechtsdysphorische Minderjährige im staatlichen Gesundheitssystem, dem NHS. Doch Ende 2020 kam es zu einem weltweit beachteten Gerichtsurteil gegen den GIDS. Die damals 22-jährige Britin Keira Bell klagte, weil sie im Alter von 15 Jahren dort wegen Geschlechtsdysphorie Hilfe suchte und sich im Nachhinein zu schnell auf einen medizinischen Weg mit Pubertätsblockern, Testosteron und einer Mastektomie gesetzt sah. Später bereute sie diese Entscheidung und ließ vor Gericht feststellen, dass die gender-affirmative Behandlung noch zu experimentell ist und Minderjährige gar nicht oder nur eingeschränkt in der Lage seien, deren langfristigen Folgen einschätzen zu können. So wurde Bell zu einem prominenten Gesicht, insbesondere für biologische Frauen, die zunächst eine Angleichung an das männliche Geschlecht vollzogen, dies aber später wieder rückgängig machen wollten. Der NHS beauftragte schließlich eine unabhängige Untersuchung durch die Pädiaterin Hilary Cass, deren Ergebnisse letztlich die Neustrukturierung der Versorgung und ein Abrücken vom gender-affirmativen Ansatz zur Folge hatten.

Keira Bell am Tag der Urteilsverkündung, (Screenshot von Sky News auf YouTube am 01.12.2020)

Für ihr Buch führte Barnes auch intensive Gespräche mit ehemaligen Psychotherapeut*innen und Ärzt*innen des GIDS. Diese berichteten unter anderen, dass differenzierte Fallbesprechungen nicht möglich gewesen seien, ebenso wenig eine Abwägung, ob der Geschlechtsdysphorie vielleicht nicht Transsexualität, sondern eine andere Ursache zugrunde liegen könnte. Auch über Detransitionen konnte offenbar gemäß den Aussagen einiger ehemaliger Behandler*innen intern nicht fachlich angemessen gesprochen werden. So sagte zum Beispiel Anastassis Spiliadis, ein ehemals im GIDS tätiger Arzt, gegenüber Barnes, dass Diskussionen über Detransitionen nicht erwünscht gewesen seien. Begriffe wie dieser sollten gar nicht erst verwendet werden. Auch die Frage zu stellen, wie viele der jungen Patient*innen sich doch wieder umentscheiden, war nicht gewollt. Die Leitung des GIDS habe Sorge gehabt, als „transphob“ zu gelten, wenn öffentlich bekannt würde, dass solche Fragestellungen thematisiert würden.

Seine Theorien fanden im GIDS wohl zu wenig Beachtung: Statue von Sigmund Freud, im Hintergrund das Hauptgebäude der Tavistockklinik, (Foto Iridescenti auf Wikipedia)

Der GIDS der Tavistock-Klinik ist bei dem Umgang mit dem Thema „Detransition“ oder auch der mehrfach festgestellten unzureichenden medizinischen Evidenz für den gender-affirmativen Ansatz leider keine unrühmliche Ausnahme. Unlängst beschwerten sich in der Schweiz Ärzte über eine national wichtige medizinische Fachzeitschrift, weil diese Zeitschrift kritische Leserbriefe zu zwei Artikeln nicht abdrucken wollte, die zu unkritisch den gender-affirmativen Ansatz bei Minderjährigen behandeln würden.

Trans als Kulturkampf

Solche Kritik gibt es auch in den USA, wo sich zum Beispiel Psychotherapeutinnen wie Erica Anderson oder Laura Edwards-Leeper gegen die Ablehnung von sorgfältiger psychologischer Diagnostik und Begleitung aussprechen. In den USA sind Fragen um Detransitionen und der richtige Umgang mit Geschlechtsdysphorie bei Minderjährigen ein Schlachtfeld des politischen Kulturkampfs geworden. Gegenüber der Los Angeles Times sagte Anderson im April 2022: “Die Menschen auf der rechte Seite … und auf der linken sehen sich selbst nicht als extrem. Aber diejenigen von uns, die alle Nuancen sehen, die können sehen, dass es ein falscher Gegensatz ist: alles ohne eine Methode passieren lassen oder niemanden durchlassen. Beides ist falsch.“

Elf Detransitionierer*innen in den USA suchen nun die Klärung vor Gericht. Möglicherweise wird dort über die Zukunft des gender-affirmativen Ansatzes entschieden. Bereits jetzt haben eventuell drohende Schadensersatzforderungen Auswirkungen auf Anbieter von geschlechtsangleichenden Behandlungen. Kleinere Kliniken haben erhebliche Schwierigkeiten, die inzwischen drastisch gestiegenen Versicherungsprämien für Haftpflichtversicherungen zu finanzieren oder überhaupt eine Versicherung zu finden. Einige Anbieter schließen inzwischen die Haftung für gender-affirmative Behandlungen von Minderjährigen im Kleingedruckten sogar ganz aus.

WHO ignoriert Entwicklungen

Lieber keine offene Diskussion! (Foto von Taras Chernus auf Unsplash )

Neben Großbritannien haben auch alle skandinavischen Länder nach Bewertung der medizinischen Evidenz und ungeklärten Risiken ihre Haltung zum gender-affirmativen Ansatz speziell bei Minderjährigen geändert. Diese aktuellen Entwicklungen scheinen die Weltgesundheitsorganisation  (WHO) jedoch nicht zu beeindrucken. Am 18. Dezember 2023 verkündete die WHO, dass sie Leitlinien für die Gesundheit von trans und genderdiversen Menschen entwickeln will. Ebenso wurden die Namen der 21 Mitglieder der Kommission veröffentlicht, die diese Leitlinien erarbeiten sollen. Auch ein Termin für die Sitzung im Hauptquartier der WHO im Schweizerischen Genf vom 19. bis 21. Februar 2024 wurde bereits anberaumt. Zu dieser Ankündigung wurde auch ein kurzes Zeitfenster für öffentliche Rückmeldungen geöffnet – bis zum 8. Januar 2024. All diese Ankündigungen und Fristen trafen auf einen Zeitpunkt, an dem sich die meisten Menschen in vielen Ländern in die Feiertage verabschiedet haben. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Zudem ist das Panel für die Erarbeitung der Leitlinien sehr einseitig besetzt, ausschließlich mit Befürworter*innen des gender-affirmativen Ansatzes. Darunter ist auch die kanadische Transfrau und Bioethikerin Florence Ashley, die alles andere, als den gender-affirmativen Ansatz als „Konversionstherapie“ diffamiert. Doch dieses Vorhaben blieb nicht unbemerkt und einige Ärzt*innen lancierten eine Petition, die in der Kürze der Zeit über 7000 Personen unterzeichnet wurde. Die Unterzeichner*innen fordern, dass dieses Leitlinienvorhaben so nicht weitergeführt wird.

2024 könnte das Jahr werden, in dem die extrem einseitige und aktivistisch motivierte Diskursführung über Transthemen endgültig überwunden wird. Bücher wie dies von Fessel können hierzu einen Beitrag leisten, denn bis auf die deutsche Übersetzung des Romans „Detransition, Baby“ von Torrey Peters, ist das Thema auf dem deutschen Buchmarkt bislang nicht präsent.

 


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations. Zur kritischen Auseinandersetzung mit dem gender-affirmativen Ansatz siehe auch folgende Texte von ihm aus dem Jahrbuch Sexualitäten: „Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar?“ (2022) und „Politische Hybris“ (2021).


CSD zwischen radikaler Gegenkultur und gesellschaftlicher Mitte

Eine Auseinandersetzung zwischen der YouTuberin PersiaX und queeren Influencer*innen um Aljosha Muttardi sorgt für Zuschauerreaktionen, die sich vor allem auf ein Thema fokussieren: Wie angemessen sind Nacktheit und Fetischpräsentationen in der Öffentlichkeit beim CSD?


YouTuberin PersiaX, Screenshot aus ihrem Video vom 25.12.2023


 

 3. Januar 2024 | Till Randolf Amelung

PersiaX, eine deutsche Transfrau und YouTuberin wurde am 19. Dezember 2023, kurz vor den Weihnachtsfeiertagen von FiNessi, ebenfalls Transfrau und YouTuberin, in einem Video als vermeintliche Islamhasserin,  als trans- und nicht-binär-feindlich angeprangert. Auch als Token wird PersiaX von ihren Gegner*innen bezeichnet, also als Vorzeigetransfrau, die als Feigenblatt für die ansonsten transfeindliche Gesellschaft fungieren würde.

FiNessi, Screenshot aus ihrem Video vom 19.12.2023

PersiaX, bürgerlich Lynn Kirchner, hat auf YouTube 122.000 Abonnenten (Stand 02.01.2024) und ist Meinungsvloggerin, die seit einigen Jahren insbesondere LGBTIQ-Themen kritisch kommentiert. Unter anderem hat sie sich mehrfach gegen einen Transbegriff ohne Geschlechtskörperdysphorie als Voraussetzung ausgeprochen. Ebenso hat sie andere Influencer*innen kritisiert, weil diese fragwürdige bis unverantwortliche Inhalte an ihr Publikum bringen. Zum Beispiel zeigte sie in einem Video, wie TikToker Gialu seine zumeist jugendlichen Zuschauer*innen offen über Schleichwege aufklärt, um an Hormone und Operationen zu kommen. Kirchners Videos erzielen oft eine große Reichweite und werden von ihren Abonnent*innen zumeist positiv bewertet. Ihre Kritiker*innen hingegen, sehen in Kirchners Reichweite eine Gefahr. Sieben von ihnen fanden sich schließlich zusammen, um das von FiNessi veröffentlichte Video zusammenzustellen. Mit dabei sind auch bekanntere Persönlichkeiten, wie Aljosha Muttardi (Queer Eye Germany) oder Leonie Löwenherz (Princess Charming). Muttardi wiederum, gab FiNessis Video eine größere Reichweite, indem er ein sogenanntes Reaction-Video dazu machte, also Auszüge des Originals präsentierte und kommentierte. Ebenso veröffentlichte auch Kirchner einen Videokommentar zu beiden Videos, inzwischen kommentierten weitere YouTuber*innen diese Auseinandersetzung. Dazu kann man unter all diesen Videos zusammengenommen nun mehrere tausend Userkommentare finden.

 

Fetisch in der Öffentlichkeit

Bemerkenswerterweise wurde gerade von den Zuschauer*innen vor allem auf ein Thema reagiert: das Präsentieren von Fetischen, ein beliebtes Synonym dafür ist auch „Kinks“, auf CSD-Paraden im öffentlichen Raum. Da YouTube gerade bei jüngeren Altersgruppen einen hohen Marktanteil hat und für diese oft Informationskanal der ersten Wahl ist, lohnt sich ein Blick, was dort zu queeren Themen diskutiert wird. PersiaX veröffentlichte 2022 ein Video, wo sie den CSD in Berlin kritisierte. Hauptkritikpunkt war, dass in dieser CSD-Parade viele Menschen nackt oder mit Fetischbekleidung bzw. -utensilien teilnahmen, Sex in der Öffentlichkeit hatten und alles vor den Augen Minderjähriger passiert sei. Diese Kritik von PersiaX griff die Gruppe um FiNessi und Aljosha auf, um sie als queerfeindlich, prüde und unangemessen abzukanzeln. Es sei nach deren Meinung gar kein Problem, wenn Kinder zum Beispiel Menschen in Fetischkleiden zu sehen bekämen, da sie dies doch ohnehin nicht verstünden. Zudem sei ein Kink nicht zwingend etwas Sexuelles. Die Kommentare unter allen Videos, die sich mit der aktuellen Kritik an PersiaX beschäftigen, widersprechen mehrheitlich dieser Auffassung über Fetische im öffentlichen Raum. Hier einige Auszüge:

 

Sehr oft heißt es, dass man die LGBTIQ-Community an sich unterstütze, aber Fetische und sexuelle Handlungen ohne Rücksicht auf anwesende Minderjährige gingen ihnen zu weit. Auch einige, die sich selbst zur LGBTIQ-Community zählen, schreiben in ihrem Kommentar, dass sie sich deswegen auf den CSD-Paraden unwohl fühlten und diese seitdem meiden würden. Aussagen zu Fetische und Minderjährige wie von Aljosha und Co., sind in queeraktivistischen Kreisen keine Ausnahme. Auch anderswo, zum Beispiel in „Sex in echt. Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät“, einem Aufklärungsbuch für Jugendliche, wird BDSM/Kink thematisiert, obwohl das so noch eher nicht zu deren Entwicklungsstufe passen dürfte. Und 2021 beschwerte sich der Journalist Matthias Kreienbrink über die vermeintliche Prüderie der Generation Z, also der jungen Leute, die Ende 1990er Jahre bis 2012 geboren wurden.

Influencer*innen wie Aljosha oder FiNessi geben sich ein sehr vielfalts- und diskriminierungssensibles Image, was man gemeinhin als „woke“ bezeichnet. Viele User kommentieren womöglich auch deswegen so kritisch, weil gerade die Woke-Bubble schnell dabei ist, überall sogenannte „Microaggressions“ zu beklagen. „Mikroaggressionen sind alltägliche Kommentare, Fragen, verbale oder nonverbale Handlungen, die überwiegend marginalisierte Gruppen treffen und negative Stereotypen verfestigen. Sie können sowohl absichtlich als auch unabsichtlich geäußert oder getätigt werden“, heißt es beispielsweise auf der Website der Universität zu Köln. Die Bedürfnisse anderer, die im öffentlichen Raum nicht ungewollt mit Nacktheit und Fetischen konfrontiert werden wollen, werden dagegen von Aljosha und Co. offen missachtet.

 

Kinks oder Kinder

Allerdings ist der Streit um Fetisch und Freizügigkeit auf CSD-Paraden keineswegs etwas Neues. Dieser Konflikt ist ein grundsätzlicher, der den LGBTIQ-Aktivismus schon lange begleitet. Es geht um die Frage, ob man vor allem radikale Gegenkultur sein oder sich als Teil der bürgerlichen Gesellschaft präsentieren will. Gerade in Berlin hat dies dazu geführt, dass es neben dem großen CSD mindestens eine weitere Parade gibt, die sich besonders der linksalternativen, antikapitalistischen und queerfeministischen Szene verpflichtet fühlt. Aber auch um die großen Paraden gibt es immer wieder mal Streit, zum Beispiel um Pup-Player, die

Aljosha Muttardi, Screenshot aus seinem Video vom 22.12.2023

in Fetischoutfit mit Hundemaske mitmarschieren. Zumal auch immer mehr Familien mit Kindern an CSD-Veranstaltungen teilnehmen. Will man ein Fest für die ganze Familie sein, egal ob Hetero- oder Regenbogenfamilie? Dann lassen sich Kinder- und Jugendschutzaspekte nicht mehr so einfach ignorieren. Bisher wurden solche Debatten vor allem über community-interne Strukturen und Plattformen geführt. Mit der Auseinandersetzung um PersiaX kann man nun erstmals sehen, wie ein diverses und wahrscheinlich mehrheitlich heterosexuelles Publikum auf dieses Thema reagiert, zumal sich inzwischen auch nicht-queere YouTuber beteiligen, darunter Tim Heldt alias KuchenTV, einer der reichweitenstärksten deutschen YouTuber. Es wird überdeutlich, dass es um Fragen von Kinder- und Jugendschutz eine erhöhte Sensibilität gibt und dies nicht nur „CDU-Boomern“ (Kreienbohm) vorbehalten ist, sondern generationsübergreifend Relevanz hat.

Angesichts einer 2023 erstmals festgestellten leicht rückläufigen Akzeptanz für LGBTIQ, sind solche Einblicke interessant und sollten gerade im queeren Aktivismus und der LGBTIQ-Community zum Nachdenken anregen.  Es scheint 2024 nicht sinnvoll, einfach wie bisher weiterzumachen und mehr vom Gleichen aufzufahren. Erst recht nicht, wenn man in anderen Fragen, zum Beispiel der Geschlechtsidentität, höchste Sensibilität und unbedingten Respekt von anderen verlangt, aber nichts davon zurückzugeben bereit ist. Doppelmoral wird nirgends positiv aufgenommen. Die Grenzen dessen, was im öffentlichen Raum zu welchem Anlass als akzeptabel empfunden wird, sind in stetiger Aushandlung. Verbunden ist dies mit gesellschaftspolitischer Aktualität, zum Beispiel rund um Schutz vor sexueller Gewalt gerade gegen Minderjährige, aber auch grundsätzliche Achtung von Grenzen anderer. Da ist es kein Wunder, wenn das auch in Diskussionen um den CSD auftaucht, beziehungsweise nie verschwindet.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations. 


Zwischen Biologie und Identität – wie selbstbestimmt kann Geschlecht im Gesetz sein?

Am 28. November 2023 findet im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Bundestags die öffentliche Anhörung von Sachverständigen zum Selbstbestimmungsgesetz  statt. IQN-Redakteur Till Randolf Amelung wurde ebenfalls um eine Stellungnahme gebeten. Der folgende Beitrag ist ein vorab veröffentlichter Auszug daraus, der redaktionell angepasst wurde.



21. November 2023 | Till Randolf Amelung

Nun hat das Vorhaben, das über 40 Jahre alte Transsexuellengesetz (TSG) durch ein sogenanntes Selbstbestimmungsgesetz zu ersetzen, einen weiteren Meilenstein auf seinem Weg erreicht: am 15. November 2023 wurde das Gesetz in einer lebhaften Debatte im Bundestag vorgestellt und an den Familienausschuss zur weiteren Beratung überwiesen.

Mit dem vorliegenden „Entwurf eines Gesetzes über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag (SBGG-E)“ sollen Forderungen nach einer Neuregelung der Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags erfüllt und die Voraussetzungen für trans- und intergeschlechtliche Menschen vereinheitlicht werden. Im Vergleich zum TSG sollen die beiden Sachverständigengutachten künftig als Voraussetzung entfallen. In § 2, Absatz 1 SBBG-E heißt es:

„Jede Person, deren Geschlechtsidentität von ihrem Geschlechtseintrag im Personenstandsregister abweicht, kann gegenüber dem Standesamt erklären, dass die Angabe zu ihrem Geschlecht in einem deutschen Personenstandseintrag geändert werden soll, indem sie durch eine andere der in § 22 Absatz 3 des Personenstandsgesetzes vorgesehenen Angaben ersetzt oder gestrichen wird.“

Gemäß § 2, Absatz 2 SBGG-E soll die Person mit Abgabe der Erklärung zugleich versichern, dass „der gewählte Geschlechtseintrag beziehungsweise die Streichung des Geschlechtseintrags ihrer Geschlechtsidentität am besten entspricht“ und „ihr die Tragweite der durch die Erklärung bewirkten Folgen bewusst ist.“ Eine Begutachtung, Stellungnahme oder Prüfung der Selbstaussage durch Dritte ist nicht vorgesehen.

 

Kein Missbrauchspotenzial?

Gerade radikalfeministische Frauen bringen deshalb vehemente Bedenken an, dass eine VÄ/PÄ ohne Plausibilitätsprüfung biologischen Männern eine Handhabe biete, sich in Schutzräume für Frauen zu klagen. Frauen sind nach wie vor die Hauptbetroffenen von sexueller Gewalt, zumeist ausgeübt durch Männer. Daher ist es vollkommen nachvollziehbar, dass hier ein erhöhtes Schutzbedürfnis besteht. Transverbände bestreiten mit Verweis auf das Ausland und dort vergleichbarer Regelungen, dass ein solches Missbrauchsrisiko überhaupt bestünde oder reden es klein und fordern daher, auf Sicherungen zu verzichten, die aus ihrer Sicht vor allem eine Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts von Transpersonen darstellen. Bereits vor der Einführung eines Selbstbestimmungsgesetzes wird das Grundprinzip – bedingungslose Akzeptanz der Selbstäußerung einer Person über ihr Geschlecht – in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen gefordert und teils auch schon akzeptiert. Einher geht dies mit immer unbestimmter werdenden Begriffsdefinitionen von Transidentität. Auch deshalb schwindet bei vielen Kritikerinnen die Zuversicht, sich gegen missbräuchlich handelnde Personen in einer konkreten Situation wehren zu dürfen. Insgesamt ist es jedoch naheliegend, dass Menschen Gesetzeslücken ausnutzen, wenn es ihren persönlichen Zielen dient.

 

Ignorierte Schamgrenzen

Aufgrund fehlender systematischer Erfassung in anderen Ländern mit einem Gesetz auf der Basis des Selbstbestimmungsprinzips ist eine Prognose schwer, mit wie vielen Problemfällen zu rechnen wäre. Jedoch involviert das Geschlecht grundsätzlich sehr sensible Bereiche, darunter Intimsphäre, Schamgefühl. Es kann daher unter Umständen ein generelles Unbehagen auslösen, wenn man in einem nach Geschlecht getrennten Raum durch eine Person Irritationen erlebt, die man dort als unpassend einordnet. Kulturhistorisch sind zum Beispiel geschlechtergetrennte Sanitäreinrichtungen eher der Regelfall, als die Ausnahme. Wie der Soziologe Norbert Elias in seinem grundlegenden Werk „Über den Prozeß der Zivilisation“ bereits beschrieben hat, beeinflusst der Wandel von Herrschafts- und Sozialstrukturen auch Persönlichkeitsstrukturen. Mit Zivilisierungsprozessen gingen auch Verfeinerungen von Normen und Sitten einher, die zur Erhöhung von Scham- und Peinlichkeitsschwellen führten. Wo bei geschlechtergetrennten Einrichtungen Schutz vor Gewalt als Argument für die Beibehaltung des biologischen Geschlechts als Zugangskriterium angeführt wird, geht es eigentlich auch um Schamgefühle. Diese können je nach Alter, sozialer, kultureller oder ethnischer Herkunft graduell differieren. Die soziohistorischen Sedimente mag man vielleicht in einer studentischen Seminararbeit mit einem Federstrich dekonstruieren können, gesellschaftliche und individuelle Realität sind deutlich widerspenstiger. Da das Thema „geschlechtsspezifische Schutzräume“ so sensibel ist, reichen hier bereits wenige Missbrauchsfälle, um Schaden anzurichten und das Ansehen von Transpersonen zu beschädigen.

 

Missbrauchsfälle, die es nicht ja nicht gibt

Tessa Ganserer (Bündnis 90(die Grünen) am 15. November 2023 im Bundestag, Ganserer spricht gerade am Rednerpult.

Tessa Ganserer (Bündnis 90(die Grünen) am 15. November 2023 im Bundestag. (Foto: Screenshot Parlamentsfernsehen)

In der parlamentarischen Debatte am 15. November verwies Tessa Ganser (Bündnis 90/die Grünen) auf die Schweiz, wo es seit dem 1. Januar 2022 ein Gesetz nach dem Selbstbestimmungsprinzip gibt. In einem Versuch, witzig zu sein, sagte Ganserer, die Zivilisation sei wegen dieses Gesetzes in der Schweiz nicht untergegangen und die Züge wären im Gegensatz zu Deutschland noch pünktlich. Das mag betreffend der Zivilisation und des Bahnverkehrs so sein, aber hinsichtlich der eidgenössischen Variante eines Selbstbestimmungsgesetzes gibt es bereits folgende Fälle, die bislang publik geworden sind:

  • In der Schweiz gibt es für Frauen ein früheres Renteneintrittsalter. Deshalb änderte ein Mann seinen Geschlechtseintrag von „männlich“ auf „weiblich“, wie er selbst der Luzerner Zeitung berichtete. Der Vorgang kostete ihn einmalig 75 Franken – demgegenüber steht die AHV-Rente von bis zu 30.000 Franken jährlich.
  • Ein anderer Mann wollte mit einer Änderung des Geschlechtseintrag dem Militärdienst entgehen. In einem Bericht heißt es: „Es habe sich um einen reinen Verwaltungsakt gehandelt, er habe keine einzige Frage beantworten müssen. Zum Standesamt sei er in seiner normalen Kleidung gefahren, er habe mit seiner normalen Stimme gesprochen.“
  • Im traditionellen Zürcher Frauenbad forderte laut der Neuen Zürcher Zeitung „eine Person mit Schnauz, die sich als weiblich ausweist, Einlass“.

In Deutschland gab es mit dem freiwillig und vor einer gesetzlichen Änderung übernommenen Selbstbestimmungsprinzip in einigen Bereichen bereits folgende Fälle in den Medien:

  • Im Kreisverband der Partei Bündnis 90/die Grünen in Reutlingen bewarb sich Parteimitglied David Allison im Juli 2021 trotz offensichtlich männlichem Erscheinungsbild auf einen quotierten Frauenplatz, indem er sich kurzerhand zur Frau deklarierte. Laut seiner eigenen Beschreibung soll es zwar durchaus irritierte Blicke, aber keine Proteste gegeben haben.
  • Ein weiterer Fall beschäftigte das Bundesschiedsgericht derselben Partei: In einem Kreisverband wollte ein Mitglied für den quotierten Frauenplatz im Vorstand kandidieren, die trotz männlichen Auftretens und eines männlichen Vornamens behauptete, eine Frau zu sein. Das Parteischiedsgericht urteilte, nur Personen, die sich „eindeutig und dauerhaft“ als Frau definieren, könnten sich auf die innerparteilichen Quotenregeln für Frauen berufen. Wie diese Eindeutigkeit und Dauerhaftigkeit festgestellt werden soll, blieb offen.
  • In Berlin erschlich sich ein Betrüger vorläufige Ausweisdokumente und beging Straftaten. In der Berliner Zeitung dazu: „Im Fall von Sabri E., der sich als transgeschlechtlich vorstellte, fanden die Mitarbeiter es offenbar plausibel, dass sein Äußeres und das mitgebrachte Lichtbild sich von dem Gesicht auf den Passbildern der vorgelegten Ausweise unterschied. Sie schauten nicht richtig hin und stellten keine Nachfragen – möglicherweise aus Schamgefühl oder Angst vor einer Diskriminierungs-Beschwerde.“

Das Prinzip „Selbstbestimmung qua Kulanz“ machte auch im Ausland Schlagzeilen, zum Beispiel in Österreich, wo der in Hamburg lebende Bijan Tavassoli in Wien als „Trans-Muslima“ Zutritt zu einer Frauensauna einforderte und auch bekam. Tavassoli erklärte sich gegenüber Medien wie folgt:

„Als der Bademeister mich darauf hinwies, dass heute Frauensauna-Tag sei, zeigte ich ihm einfach meinen DGTI-Ausweis (Ersatzausweis für trans Menschen), in dem steht, dass ich eine Frau bin. Er hat sich den Ausweis genau angeguckt, mir das Ticket verkauft und mich dann hereingelassen.“

Der erwähnte Ausweis wird seit 1999 als „Ergänzungsausweis“ von der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (dgti e.V.) ausgestellt und soll nur in Verbindung mit offiziellen Ausweisdokumenten „gültig“ sein. Zweck dieses Dokuments ist es, die Diskrepanz zwischen Äußerem und Ausweispapieren und bis zu einer rechtswirksamen Änderung der Ausweisdokumente per TSG-Verfahren bei Bedarf plausibel und diskret erklären zu können. Zunächst verlangte die dgti vor der Ausstellung des „Ergänzungsausweises“ einen Nachweis, dass sich die antragstellende Person im Prozess einer Geschlechtsangleichung befindet. Dies konnte beispielsweise die Kopie einer ärztlichen Überweisung oder ein Schreiben eines behandelnden Therapeuten sein. Seit einiger Zeit verzichtet die dgti e.V., die ein neues Gesetz nach dem Selbstbestimmungsprinzip befürwortet, auf einen solchen Nachweis, erwähnt aber auf der eigenen Website:

„Letztlich behält sich die dgti allerdings das Recht vor, die Ausfertigung eines Ergänzungsausweises zu verweigern, wenn unter objektiver Würdigung der Gesamtumstände und Angaben diese nicht darauf hindeuten, dass der erbetene Ausweis zur Unterstützung und Erleichterung der Transition gedacht ist, sondern zu einem nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch.“

Im Hinblick auf das geplante Selbstbestimmungsgesetz ist die Frage zu klären, ob ein Standesbeamter sich ebenfalls das Recht vorbehalten darf, „Gesamtumstände objektiv zu würdigen“ und eine nicht aufrichtig erscheinende Selbsterklärung nicht anzunehmen.

Eine Person hält ein Toiletten-Schild für Unisex-Toiletten vor blauem Hintergrund in der Hand

Unisex-Toilettenschild (Foto: No Revisions auf Unsplash)

Es muss in dem Zusammenhang auch geklärt werden, inwieweit Zielgruppenbeschränkungen möglich bleiben, die biologisches Geschlecht in Kombination mit sozialen Erfahrungen zur Grundlage haben. Gerade in sensiblen Bereichen, wie Schutz-, Beratungs- und Therapieeinrichtungen rund um sexuelle Gewalt oder auch sexuelle Entwicklung, Körperthemen (z.B. Gesundheit, Schwangerschaft, Menstruation) für Frauen ist dies von Bedeutung. Sollte es z.B. für Transpersonen an solchen Einrichtungen mangeln, wäre hier dafür zu sorgen, dass es auch für Transpersonen diese besonderen Einrichtungen gibt, anstatt die Nutzung vorhandener „für Frauen“ gedachter Einrichtungen für biologische Frauen zu verunmöglichen. Dies kann nicht allein über den Verweis auf das Hausrecht geschehen. Vielmehr braucht es eine breite gesellschaftliche Verständigung darüber, welche Relevanz das biologische Geschlecht in welchem Kontext  haben muss und was dies im praktischen Umgang bedeuten kann. Eine wichtige Rolle spielen in dieser Auseinandersetzung veränderte, aktivistisch motivierte Begriffsverständnisse, die meiner Ansicht nach dazu beitragen, dass mit dem Selbstbestimmungsprinzip in Bezug auf das Geschlecht Konflikte und Missbrauchsfälle wahrscheinlicher eintreten werden.

 

Was ist „Trans“?

Im Zusammenspiel zwischen Aktivismus und Wissenschaft wurden veränderte Begriffsdefinitionen von Transidentität und Geschlecht platziert. Bei Trans lässt sich das zum Beispiel an den Veränderungen der Definitionen in medizinischen Diagnostikmanuals (ICD-10 und ICD-11) ablesen oder auch daran, welche Begriffsdefinitionen staatlich geförderte Plattformen wie das Regenbogenportal verwenden:

„Trans* Menschen identifizieren sich nicht oder nicht nur mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Manche trans* Menschen haben seit ihrer Kindheit das Gefühl, im „falschen“ Körper zu stecken, anderen wird irgendwann bewusst, dass sie sich zum Beispiel weder als Mann noch als Frau fühlen. Manche nehmen einen neuen Vornamen an, andere nutzen nach intensiver Beratung durch Mediziner*innen und Therapeut*innen geschlechtsangleichende Maßnahmenwie Hormone und/oder Operationen.

Welche weiteren Begriffe für trans* gibt es?

Die Selbstbezeichnungen von trans* Menschen sind vielfältig: Als trans* Mann bezeichnen sich zum Beispiel Männer oder männlich identifizierte Personen, die bei ihrer Geburt noch nicht als Junge wahrgenommen wurden. Weitere übliche Begriffe sind „transgeschlechtlich“, „transgender“, „transident“ oder „transsexuell“. „Trans*“ wird häufig als Oberbegriff verwendet, wobei das Sternchen als Platzhalter für die unterschiedlichen Endungen stehen soll.“

Diese Definition ist ein Resultat aktivistischer Bemühungen, um vorher maßgebliche Definitionen aus der Medizin zu verdrängen. An den Veränderungen der Definitionen lässt sich sehen, wie der vorherige Rekurs auf Zweigeschlechtlichkeit einem offeneren Verständnis gewichen ist. Anstatt als medizinisches Thema, wird Trans nun zuvörderst aus menschenrechtlicher Perspektive betrachtet.

Neuere Begriffe wie „Nonbinary“ oder in deutsch „nicht-binär“ tragen noch weiter zur Begriffsunschärfe von „Trans“ bei, wie man zum Beispiel im Regenbogenportal nachlesen kann:

„Nicht-binär“, „non-binary“ oder auch „genderqueer“ sind Selbstbezeichnungen für eine  Geschlechtsidentität, die sich nicht in der Gegenüberstellung von Mann oder Frau beschreiben lässt. Damit kann eine Geschlechtsidentität „zwischen“, „sowohl-als-auch“, „weder-noch“ oder „jenseits von“ männlich und weiblich gemeint sein.“

In der Regel wird mit dieser Selbstbezeichnung meiner Beobachtung nach vor allem eine Haltung kommuniziert, welche die heteronormative Zweigeschlechterordnung ablehnt. Diese Personen können zugleich trans oder inter sein. Das scheint aber mittlerweile eher eine Minderheit unter allen zu sein, die sich als „nonbinary“ bezeichnen. Wie Lydia Meyer im 2023 erschienenen Buch „Die Zukunft ist nicht binär“ schreibt, werden Erwartungen Außenstehender, mit dieser Selbstbezeichnung z.B. irgendwie androgyn aussehen zu müssen, abgelehnt.

 

Epistemische Konflikte um das biologische Geschlecht

Gerade um die Frage, wie biologisches Geschlecht definiert werden soll, sind zunehmend Kontroversen entbrannt. Zunächst ist in sozialwissenschaftlicher oder psychologischer Hinsicht die Unterscheidung zwischen biologischem Geschlecht, äußeren Geschlechtsmerkmalen, Geschlechtsrolle und Geschlechtsidentität üblich, um alle Ebenen zu erfassen, in denen Geschlecht relevant ist, wie auch die Kommunikationsberaterin Sigi Lieb in ihrem Buch „Alle(s) Gender. Wie kommt das Geschlecht in den Kopf?“ ausführlich erläutert.

Anders sieht es bei der Frage aus, ob es mehr als zwei biologische Geschlechter gibt. Die eigentlich übliche Definition, die noch aus dem Biologie-Unterricht bekannt sein dürfte, unterscheidet das Geschlecht anhand der Gameten, die produziert werden. Kleine und bewegliche Gameten (Spermien) sind biologisch männlich, große Gameten (Eizellen) biologisch weiblich. Weitere biologische Geschlechter gibt es nach dieser Definition eigentlich nicht, aber genau diese Definition wird vom queeren Aktivismus angegriffen.

Im Mai diesen Jahres drückte die UN-Beauftragte für Gewalt gegen Mädchen und Frauen Reem Alsalem ihre Besorgnis darüber aus, wie der Diskurs unterbunden würde und forderte, dass Mädchen und Frauen ohne Angst und Einschüchterungsversuche über ihnen wichtige Anliegen frei sprechen können müssten. Dies führte zu Protesten von Transaktivisten und der Association for Women’s Rights in Development (AWID) die Alsalems Absetzung forderten. Im September legte Alsalem mit einem Statement nach:

“The letter by AWID did however contain one novelty, which I found very concerning, namely its allegation that I reportedly continue to “perpetuate narratives upholding outdated and non-scientific understandings of binary biological sex.” There is nothing outdated or unscientific about the binary nature of sex, and I would encourage signatories of this letter to seek out biologists for a conversation around this issue.”

Wie sehr es um diese biologische Geschlechterdefinition gestritten wird, zeigt auch ein Beitrag in der Juli/August-Ausgabe des „Skeptical Inquirer“.  Darin beklagen die Evolutionsbiologen Jerry A. Coyne und Luana S. Maroja, dass ihr Wissenschaftsfeld durch ideologische Einflussnahme seitens sich als progressiv verstehender Politik gefährdet sei. Aus ideologischen Gründen könne man nicht mehr von biologischer Zweigeschlechtlichkeit reden, obwohl diese nach wie vor nicht widerlegt sei. Dieses Modell wird vom queeren Aktivismus und mit ihm verbündeten Wissenschaftlern herausgefordert, vornehmlich aus den Geistes- und Sozialwissenschaften. Der wohl bekannteste Ansatz ist die „Queer Theory“ nach der US-amerikanischen Philosophin Judith Butler. Butler sieht, sehr knapp zusammengefasst, auch das biologische Geschlecht als sozial konstruiert an, da auch die materielle Ebene der Deutung unterliege, die wiederum durch hegemoniale Diskurse strukturiert werde.

In Deutschland wird oft auf einen Artikel aus dem „Tagesspiegel“ des Sexualwissenschaftlers Heinz-Jürgen Voß verwiesen, wenn es darum geht, ob biologische Zweigeschlechtlichkeit noch dem Stand der Wissenschaft entspricht. In diesem gibt Voß den 2015 erschienenen Beitrag „Sex redefined“ der Biologin Claire Ainsworth aus dem Fachmagazin „Nature“ wieder und dies auf sehr strittige Weise. Denn anders als er der Titel dieses wissenschaftsjournalistischen Beitrags nahelegen könnte, will Ainsworth ihn »ganz und gar nicht« als Widerlegung der biologischen Zweigeschlechtlichkeit verstanden wissen. „No, not at all. Two sexes, with a continuum of variation in anatomy/physiology“, stellte sie am 21. Juli 2017 auf Twitter klar, nachdem ihr Beitrag verschiedentlich als Plädoyer für biologische Vielgeschlechtlichkeit herhalten musste. In ihrem vielzitierten Aufsatz trägt sie Forschungsergebnisse zusammen, die sich mit anatomischer und physiologischer Vielfalt von Geschlecht beschäftigen. Es geht darin um (seltene) Variationen innerhalb des binären (biologischen) Modells.

Im trans- und intergeschlechtlichen Aktivismus gilt das bisherige Biologiemodell jedoch als Hindernis, um als gleichwertig angesehen zu werden, da man  Trans- und Intergeschlechtlichkeit als nicht-pathologische Normvariante verstanden wissen möchte. In Anbetracht dessen, dass Wissenschaft und Medizin in der Vergangenheit vulnerablen Gruppen wie Trans- und Interpersonen mitunter nicht gerecht wurden und gar erhebliche Verletzungen zugefügt haben, ist diese Bewertung durchaus verständlich. Jedoch sind möglichst belastbare wissenschaftliche Modelle für alle Bereiche essentiell. Die derzeitigen ideologisch aufgeladenen Definitionsversuche und daraus resultierenden Konflikte beschädigen das Vertrauen in Wissenschaft, aber auch Politik.

 

Ein Gesetz ohne sorgfältige Rechtsfolgenabschätzung

Läuferinnen im Stadion bei einem Leichtathletik-Wettbewerb

Läuferinnen bei einem Wettkampf (Foto von Jonathan Chng auf Unsplash)

In der Auseinandersetzung um das Selbstbestimmungsgesetz sind diese Definitionsfragen von hoher Relevanz: Fast alle gesetzlichen Bestimmungen oder gesellschaftliche Normen, in denen Bezug auf das Geschlecht genommen wird, gehen vom klassischen biologischen Geschlechtsverständnis aus, wie Rechtswissenschaftler Boris Schinkels ausführt. Auch Aspekte wie Frauenquoten, Frauensport oder Wehrpflicht müssten betrachtet werden. Es hat noch keine umfassende Rechtsfolgenabschätzung stattgefunden, die abwägt, was eine vollständige Entkopplung des Geschlechterbegriffs vom bisherigen Verständnis für Regelungen und Normen bedeutet, deren Ausgangspunkt die biologische Zweigeschlechtlichkeit ist. Dies der Autonomie von Verbänden (Sport) oder dem Hausrecht (z.B. Saunabetreibern) zu überlassen, würde alle Beteiligten der Willkür ausliefern. Es kann weder im Einzelfall der Schutz von biologischen Frauen, noch das Verhindern von Diskriminierung von Transpersonen gewährleistet werden. Die Autorin Chantalle El Helou kritisiert in ihrem Essay „Vom Queer-Sexismus zur Emanzipation. Ein Lagebericht mit Auswegen“  an einem von materieller Realität vollständig entkoppelten Geschlechtsverständnis:

 

„Die Zurückweisung des Körpers führt tatsächlich nicht zu mehr Freiheit und Gleichheit, sondern gerade in der Auslieferung an die Ungleichheit zur Unfreiheit. Die transaktivistische Leugnung des Körpers will angeblich den Biologismus bekämpfen, plädiert aber tatsächlich für ein rohes, gesellschaftlich ungefiltertes Aufeinanderprallen der Körper. Er behauptet die Bedeutungslosigkeit des Körpers, sorgt aber dafür, dass man die Grenzen des Körpers wieder richtig zu spüren bekommt. […] Es ist die Zurückweisung gesellschaftlichen Ausgleichs geschlechtlich-körperlicher Ungleichheit und gerade die Leugnung des anatomischen Geschlechts , die paradoxerweise in der gesellschaftlichen Realität dazu führt, dass Biologie wieder Schicksal wird.“

Keine rechtliche Fiktion kann Transpersonen die Auseinandersetzung mit dem Kernproblem, nämlich dem Auseinanderfallen von Geschlechtsidentität/-Bewusstsein und Körper ersparen. Es wird immer einen Rest an Unverfügbarem im Sinne Hartmut Rosas geben, wenn es um den biologischen Körper geht. Ein gutes Gesetz beruht auf klaren, validen Grundlagen. Die vollständige Entkopplung des Geschlechterbegriffs vom biologischen Geschlecht leistet das nicht. Man kann nur hoffen, dass die Bundesregierung doch noch zur Besinnung  kommt und  von einem handwerklich schlechten Gesetz abrückt, bevor sowohl für Frauen und Mädchen, als auch für Trans- und Interpersonen Schaden entsteht.

 

Die vollständige Sachverständigenstellungnahme findet sich auf der Website des Deutschen Bundestags.

 


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations. Ansonsten ist er freier Autor mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen. Texte von ihm sind auch im Jahrbuch Sexualitäten 2021 (Politische Hybris. Wie der Transaktivismus seine Erfolge zu verspielen droht) und 2022 (Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar? Ein Zwischenruf für die Berücksichtigung psychodynamischer Ansätze) erschienen. Zum Selbstbestimmungsgesetz äußerte er sich in diesem Blog bereits: Wird der Bademeister zum Gutachter? und Der Gesetzesentwurf, mit dem kaum jemand glücklich ist.

Die Stellungnahme als Sachverständiger erfolgte auf Einladung durch die CDU/CSU. Selbstverständlich hätte er auch den anderen, im Bundestag vertretenen demokratischen und verfassungsfreundlichen Parteien zur Verfügung gestanden. Warum dies insbesondere für die Parteien aus dem politisch linken Spektrum nicht in Frage gekommen ist, dazu könnte man auch heute noch den 2017 im Querverlag erschienenen Sammelband „Beißreflexe“ in die Hand nehmen und lesen.  (Siehe dazu auch diesen Text aus dem Jahrbuch Sexualitäten 2022: Till Randolf Amelung, Patsy l’Amour laLove und Vojin Saša Vukadinović: „Ich habe es nicht gelesen, aber….“ 5 Jahre „Beißreflexe. )


Hass auf Israel – auch im queeren Aktivismus

Der Terrorangriff der Hamas auf Israel erschüttert in seiner Brutalität weltweit Menschen. Allerdings gibt es auch gleichgültige bis zustimmende Reaktionen – nicht nur aus muslimischen Kreisen, sondern auch von Linken und Queers.


Foto von Cole Keister auf Unsplash


24. Oktober 2023 | von Till Randolf Amelung

Als Terroristen der palästinensischen Hamas am 7. Oktober 2023 Israel überfielen, verübten sie abscheulichste Gräueltaten. Sie schlachteten wehrlose Zivilisten ab, Babies wurden geköpft. Frauen vergewaltigt, allein über 260 junge Menschen auf einem Musikfestival ermordet. Nach Stand der Dinge sind mehr als 200 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt worden, Faustpfändern gleich, um tausende in Israel inhaftierte Hamas-Terroristen freipressen zu können. Kurz nach den schockierenden Ereignissen gab es von vielen westlichen Staaten Solidaritätsbekundungen, inklusive Deutschland. Doch es gibt seither auch Reaktionen die ob ihres unverstellten Judenhasses schier entsetzten oder wegen ihrer Gleichgültigkeit und Relativierung der Massaker befremdeten. Islamistische Gruppen und mit ihnen sympathisierende Personen, wie zum Beispiel der Verein Samidoun in Berlin, verteilten zur Feier des Tages Süßigkeiten auf der Berliner Sonnenallee, der berühmten, inzwischen weitgehend arabisch bewohnten Straße im Stadtteil Neukölln. Oder sie hatten gegenüber Journalisten keine Scheu, ihrer Freude über den Terror Ausdruck zu verleihen. Antisemitische Vorfälle sind sprunghaft angestiegen, weltweit kommt es von Hamas-Unterstützern zu Demonstrationen, an denen sich ebenso Personen aus dem linken Spektrum beteiligen – auch in Deutschland.

 

Befremdliche Reaktionen in woken Blasen

Relativierende Reaktionen kamen ebenfalls von Autorinnen, Influencern aus linken, antirassistischen, queerfeministischen Blasen, darunter prominente Namen wie Jasmina Kuhnke oder Emilia Zenzile Roig. Der für öffentlich-rechtliche Sender tätige Journalist Malcolm Ohanwe brachte es mit seinen Sympathiebekundungen für die Hamas auf Twitter so weit, dass sich seine bisherigen Auftraggeber, der Kultursender Arte und der Bayrische Rundfunk, genötigt sahen, die Zusammenarbeit mit ihm zu beenden. All die Genannten setzten auf ihren Kanälen Statements in die Welt, in denen sie suggerieren, Israel trage die eigentliche Schuld am Morden der Hamas, oder „aber die armen Menschen in Gaza“ dagegen halten. Andere schweigen, die sich ansonsten zu allem äußern, bis ihre Tastatur glüht, wenn es im Entferntesten um Diskriminierung geht.

Screenshot von Emilia Zenzile Roigs Instagram-Account.

Unter denen, die sich äußerten, waren auch dezidiert queere Akteure. Das Partykollektiv „Room for Resistance“ hat den Aufruf von Samidoun geteilt, der den Terror unterstützt. Die Journalistin Anastasia Tikhomirova sagte dazu im Deutschlandfunk am 11. Oktober: “Das queere Kollektiv wäre das erste, was von der Hamas ebenfalls abgeschlachtet würde, das muss man leider so sagen und dennoch besteht ein komplettes Unverständnis ihrer Ideologie und eine Unterstützung dieses Terrors.“ Die österreichische Influencerin Chiara Seidl, die auf ihrem Instagram-Account „radikalbehindert“ gegen Ableismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit zu Felde zieht, teilte in ihrer Story eine Grafik von Ayesha Khan, in der Hamas-Terroristen stilisiert dargestellt werden, die als Paraglider das Musikfestival aus der Luft angriffen. Als Text stand zu lesen: „This is what decolonization looks like. This is what a revolution takes. This is what land defense means.”

Der von Chiara Seidl geteilte Beitrag

Auswirkungen der Postcolonial Studies

Das Massakrieren von friedlichen Festivalgästen wird also als Projekt, als „decolonization“ und „revolution“ verbrämt. Beziehungsweise verdeutlicht: So stellen sich gewisse Aktivistinnen und Aktivisten die Dekolonisierung vor. Angemerkt sei noch, dass Seidl ansonsten viele Bilderstrecken anfertigt, wo sie sich als besonders sensibel für (vermeintlich) diskriminierende Sprache geriert. Diese Verharmlosung von Terrorakten scheint der sonst so woken Aktivistin jedoch egal zu sein. Damit befinden sich Seidl und andere jedoch in bester Gesellschaft, denn auch die Queer-Ikone Judith Butler meldete sich nun zu Wort. Sie verurteilte den Terror der Hamas zwar pflichtschuldig, aber nur, um doch schnell wieder „auf die alte Kritik an Israels Palästinenserpolitik zurückzulenken“, wie Thomas Schmidt in der Zeit schrieb. Butler will den Konflikt „kontextualisieren“, was bedeutet, von 70 Jahre währender Unterdrückung der Palästinenser zu schwadronieren und eine israelische „Ur-Schuld“ zu konstruieren. Israel sei ein Apartheidstaat und so solle man auch jetzt nicht für diesen Partei ergreifen. Schmidt übersetzte es passend mit: „Zwanghaft läuft diese Redeweise wieder auf einen ganz alten Topos hinaus: Am Ende sind die Juden wieder selbst an ihrer Vernichtung schuld.“

Diese Verbreitung von solchen Denkschablonen ist ein Resultat der in den Geistes- und Sozialwissenschaften populären Postcolonial Studies, in denen Israel als kolonialer und rassistischer Staat verleumdet wird. Diese Schlagseite ist auch in Roigs Instagram-Beitrag, insbesondere durch einige der Hashtags erkennbar. Aktivistisch wurde das durch die Kampagne „Boycott, Divestment, Sanctions“ (BDS) in Academia, Bildungsarbeit und Kulturbetrieb gebracht – auch in die queere Szene. Die Befürwortung des Hamas-Terrors durch das Partykollektiv „Room for Resistance“ ist kein Einzelfall. Seit Jahren schon gibt es immer wieder antisemitische Vorfälle auch aus dem queeren Spektrum, etwa auf dem Kreuzberger CSD, der immer wieder seinen Namen änderte und zuletzt unter der Bezeichnung „Internationalist Queer Pride“ marschierte. Dieser CSD war immer eine Parade, die größtmögliche Distanz zum sogenannten „kommerziellen“ CSD rund um die Berliner Siegessäule wahren wollte. Aus der diesjährigen Demo tönte es „From the river to the sea – Palestine will be free“ – ein Slogan, der die Tilgung Israels von der Landkarte herbeiwünscht. Auch einige Jahre früher, 2016 zum Beispiel, versammelten sich Aktivisten der Gruppe „Berlin Against Pinkwashing“ für eine Störaktion auf dem queeren Motzstraßenfest vor dem Stand der israelischen Botschaft und brüllten Slogans wie „No Pride in Israeli Apartheid!“.

 

„Pinkwashing“ als Vorwurf gegen Israel

Der Begriff des „Pinkwashings“ ist international in queeren Kreisen verbreitet. Damit wird Israel vorgeworfen, dass dieser Staat LGBT nur deshalb gesellschaftlich und rechtlich anerkenne, um Menschenrechtsverletzungen in den palästinensischen Gebieten zu verdecken. Hingegen wird von solchen queeren Aktivisten über die Menschenrechtssituation in den arabischen Staaten auffallend geschwiegen. Denn sonst müsste man über Schwule reden, die aus Angst vor Verfolgung und auch Ermordung durch die eigene Familie aus dem Westjordanland oder dem Gazastreifen nach Israel fliehen. In den arabischen Nachbarstaaten von Israel verschlechtert sich die schon bisher prekäre Lage für LGBT weiter, wie erst unlängst berichtet wurde. Im bisher verhältnismäßig toleranten Libanon beispielsweise forderte Hassan Nasrallah, Anführer der dort wirksamen islamistischen Hisbollah, für homosexuelle Menschen die Todesstrafe einzuführen. Umso unverständlicher ist die Agitation gegen Israel, den einzigen liberalen demokratischen Staat im Nahen Osten von Gruppen wie „Berlin Against Pinkwashing“ oder „Queers for Palestine“.  Besonders grotesk aber ist es, wenn queere Akteure islamistischen Terror verharmlosen oder gar bejubeln. Sie drücken quasi ihre künftigen Mörder an die Brust. So deprimierend die Lage ist, so bleibt dennoch zu hoffen, dass nun viele Menschen zur Besinnung kommen und sich von den zerstörerischen, vergifteten Inhalten befreien, die durch verquere Theorien hineingekommen sind.

 

Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus in intersektionalen Theorieansätzen siehe auch folgenden Essay aus dem Jahrbuch Sexualitäten 2021: Monty Ott: Übersetzungsfehler oder Ausdruck deutscher Erinnerungsabwehr? (Queere) Jüd:innen als lebender Widersprüche zu intersektionaler Analyse in Deutschland.

 

Andere Leseempfehlungen:

  • Vojin Saša Vukadinović (Hg.): Freiheit ist keine Metapher. Antisemitismus, Migration, Rassismus, Religionskritik, Berlin: Querverlag 2018.
  • Patsy l’Amour laLove (Hg.): Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten, Berlin: Querverlag 2017.
  • Robin Forstenhäusler, Katrin Henkelmann, Jan Rickermann, Hagen Schneider, Andreas Stahl, Ingo Elbe (Hg.): Probleme des Antirassismus. Postkoloniale Studien, Critical Whiteness und Intersektionalitätsforschung in der Kritik, Berlin: Edition Tiamat 2022.

 


Der Gesetzesentwurf, mit dem kaum jemand glücklich ist

Der Entwurf für Selbstbestimmungsgesetz wurde vom Bundeskabinett nach mehreren gescheiterten Anläufen auf den Weg gebracht. Vielen queeren Aktivist*innen geht das Gesetz nicht weit genug, sie fordern Nachbesserungen. Andere Kritiker*innen halten das Vorhaben gesellschaftspolitisch für zu früh, es fehle die mehrheitliche Billigung durch Liberal-Konservative.


Foto von Tingey Injury Law Firm auf Unsplash


29. August 2023 | Till Randolf Amelung

Mit Spannung richtete die queere Community am  Mittwoch vor einer Woche den Blick nach Berlin, ob es an diesem Tag zur Billigung des Entwurfs für ein Selbstbestimmungsgesetz durch das Bundeskabinett kommen würde. Nachdem zuvor viele Termine nicht gehalten wurden, hat es dieses Mal geklappt. Nun ist dieser Gesetzesentwurf, der das über 40 Jahre alte Transsexuellengesetz ersetzen soll, bereit für den nächsten Schritt, der ersten Lesung im Bundestag.

 

Queere Kritik am Entwurf

Während sich die Ampel-Koalitionäre für ihre Arbeit selbst auf die Schulter klopfen, kommt aus der transaktivistischen und queeren Ecke teils heftige Kritik. So schreibt Janka Kluge, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (dgti e.V.), auf X (vormals Twitter): „Heute ist ein bitterer Tag für mich. Seit Jahren setze ich mich öffentlich für das #Selbstbestimmungsgesetz ein. Heute wird der Gesetzesentwurf im Kabinett beraten und wahrscheinlich beschlossen. Den Entwurf lehne ich entschieden ab. Dafür habe ich mich nicht eingesetzt.“

Eine von Anne Wizorek, Netzfeministin der ersten Stunde, und Daniela Antons gestartete Petition mit dem Titel „Diskriminierung & Misstrauen raus aus dem Selbstbestimmungsgesetz!“ kritisiert ebenfalls, dass „Vorurteile, Hass und Hetze im aktuellen Gesetzesentwurf zementiert“ würden und fordert die Berücksichtigung der Einwände von Trans- und Interverbänden. Besonders kritisiert werden die Ermöglichung von Ausschlüssen über das Hausrecht und die Vertragsfreiheit, die dreimonatige Karenzzeit bis zum Wirksamwerden der Änderung, die Informationsweitergabe an Ermittlungsbehörden für deren Überprüfung ihrer Daten, die Aussetzung der Anwendung im Kriegsfall sowie der Ausschluss von Migranten ohne Bleibeperspektive. Außerdem fordern sie, dass eine Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags ohne Einschränkung bereits ab dem 14. Lebensjahr möglich sein sollen. Eigenen Angaben zufolge, haben bereits über „330 feministische Autor*innen, Creator*innen, Jurist*innen, sowie Vertreter*innen u.a. aus queeren Vereinen, Frauenverbänden, Frauenhäusern, der Frauen-, Mädchen- und Gleichstellungsarbeit“ diese Petition unterzeichnet. Auch DIE LINKE.queer wirft der Ampelkoalition vor, „das Selbstbestimmungsgesetz bis zur Unkenntlichkeit“ entstellt zu haben und kritisiert, dass „vom Ursprungsgedanken weitgehender geschlechtlicher Selbstbestimmung nicht einmal mehr das blanke Minimum übrig“ bleibe. Ferda Ataman, Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, kritisierte die enthaltenen Einschränkungen ebenfalls, denn sie seien geeignet, „Diskriminierungen zu begünstigen und Vorurteile zu bestärken“.

 

Fehlende Zustimmung der Union

Dagegen sieht taz-Redakteur und IQN-Vorstand Jan Feddersen dieses Gesetzesvorhaben als nicht zu Ende verhandelt mit den Liberal-Konservativen, insbesondere der Union. Deniz Yücel nimmt eine ähnliche Position ein und schreibt in der WELT, dass er dieses Vorhaben für zu früh kommend hält. „Dieses Gesetz im kulturkämpferischen Handgemenge statt im größtmöglichen Konsens zu beschließen“ gefährde Yücel zufolge „die Anerkennung transgeschlechtlicher Identitäten“. Feddersen warnte in diesem Sinne bereits vor einem Jahr in der taz, dass dieses Gesetzesvorhaben der Akzeptanz von Transpersonen einen Bärendienst erweisen könnte. Bis heute gab es zudem keine seriöse Rechtsfolgenabschätzung, ebenso wenig wie eine gesellschaftliche Verständigung darüber, ob das biologische Geschlecht noch Relevanz besitzt und wenn ja, in welchen Situationen.

 

Geschlecht im Sport und in amtlichen Registern

Zuletzt haben mehrere internationale Sportverbände diese Relevanz zumindest für den Wettkampfsport im Hochleistungsbereich beantwortet und für ihre Frauensparten explizit festgelegt, dass sich in diesen Wettkämpfen nur biologische Frauen miteinander messen dürfen. Ausnahmen werden nur für Transfrauen gemacht, die keine körperlich-männliche Pubertät durchlaufen haben.  Der Weltschwimmverband hat zudem begonnen, eine neue Wettkampfkategorie zu erproben, in der alle mitmachen können, unabhängig ihres biologischen Geschlechts. Parallel dazu soll es weitere Forschung dazu geben, wie und wann körperliche Unterschiede zwischen Trans und Cis im Sport relevant sind und wie Inklusion unter Berücksichtigung solcher Differenzen gestaltet werden kann. Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung hat in der gegenwärtigen Situation zumindest die einzig mögliche Lösung gewählt und solche Regularien der Autonomie der Sportverbände überlassen.

Realitätsfern wirken allerdings die Einwände der Kritiker*innen am Entwurf gegen die Informationsweitergabe an Sicherheitsbehörden. Schon heute mit dem TSG ist es so, dass Behörden über die vorgenommene Änderung informiert werden. Es war unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten nie eine realistische Option, dass Transpersonen nach einer Vornamens- und Personenstandsänderung in den Registern zu unbeschriebenen Blättern werden.

 

Kehrtwende im Ausland

Besonders problematisch an den Forderungen der Petition ist jedoch, Minderjährige ab 14 Jahren die Änderungen zu den gleichen Konditionen ermöglichen zu wollen, wie Volljährigen. Dabei kann man bis zur Volljährigkeit nicht mal ohne Unterschrift der Eltern an Klassenfahrten teilnehmen. Bedenklicher ist daran aber, dass der sogenannte gender-affirmative Ansatz im Ausland gerade bei Minderjährigen ins Kreuzfeuer geraten ist. In Großbritannien erregte der Fall der Detransitioniererin Keira Bell großes Aufsehen, ein Gerichtsurteil von 2020 hatte mittelfristig zur Folge, dass der nationale Gesundheitsservice NHS die Qualität des eigenen Behandlungsangebots unabhängig prüfen ließ. In den USA erließen republikanisch geführte Bundesstaaten gar Verbote für geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Minderjährigen. „Gender-affirmativ“ meint, dass die Selbstäußerung über die Geschlechtsidentität von Beginn an mit Ermöglichung einer frühen sozialen Transition, zu der auch Änderungen des Vornamens und Geschlechtseintrags zählt, sowie frühstmöglichen medizinischen Maßnahmen unterstützt wird. Parallel dazu wird eine umfassende Diagnostik und psychotherapeutische Exploration von vielen Transaktivisten als „Gatekeeping“ abgelehnt. Mehrere Untersuchungen haben diesem Ansatz eine schwache Evidenzbasis bescheinigt. Zudem wurde in Ländern wie den USA, Großbritannien oder Schweden sichtbar, dass Minderjährige mit komplexen psychischen Problemlagen keine adäquate Unterstützung bekamen, was dann in einigen Fällen ein paar Jahre später zu Reue oder auch Detransitionen führte.

Einige Länder änderten mittlerweile ihren Kurs bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie. In Großbritannien beschränkt der NHS den Einsatz von Pubertätsblocker auf Studien, ebenso Schweden.  Sogar in den USA will die dortige Fachgesellschaft für Pädiatrie die Evidenz des gender-affirmativen Ansatzes prüfen lassen, obwohl man diesen nach wie vor unterstütze. Angesichts dieser Entwicklungen sind Forderungen unverantwortlich, Minderjährige in solchen Fragen wie Erwachsene behandeln zu wollen.  Damit leistet man der Entwicklung Vorschub, dass sich folgende Prophezeiung Yücels erfüllen könnte: „Doch vielleicht wird man manche Aspekte des heutigen Transgender-Diskurses ähnlich bewerten, wie in der Rückschau auch die Beteiligten auf die Idee mit der ‚freien Liebe‘ der Sechziger- oder auf die Pädophilie-Debatte der Siebzigerjahre blicken: als Punkt, an dem der Wunsch nach sexueller Emanzipation übers Ziel hinausschoss.“


Die Verbannung der CDU/CSU vom CSD – richtig so?

Wir als IQN haben mit dem Umbau begonnen. Diese Website enthält ab sofort auch aktuelle Kommentare, Analysen zu den gegenwärtigen Politiken und Kulturen der queeren Communities. Der Auftakt: ein Kommentar zu den Aus- und Eingrenzungen bei CSDs – aktuell in Hamburg.


CSD Hamburg 2022, eine Menschenmenge umringt einen der Paradewagen, der mit bunten Luftballons in Regenbogenfarben dekoriert ist.

CSD Hamburg 2022 – kein Wagen der CDU, Foto von Lukas S auf Unsplash


5. August 2023| Till Randolf Amelung

CSDs waren, als sie 1979 erstmals in der Bundesrepublik ausgerichtet wurden, überparteilich. Zwar deutlich links, grün-bunt-alternativ vom Schwerpunkt her,  aber das ging auch nicht anders: Schwule und Lesben der etablierten Parteien SPD, CDU/CSU und FDP hatten gerade erst begonnen, sich wenigstens innerparteilich zu formieren. Auch sie hätten dabei sein dürfen, wenn sie denn im Grundsatz mit den Zielen der gesellschaftlichen Gleichstellung einverstanden gewesen waren. In keiner Parteienentwicklung drückt sich der Wandel der Bundesrepublik diesbezüglich besser aus, als in den Unionsparteien, in der es heute auch offen Schwule wie Jens Spahn in der Bundespolitik geben kann.

 

Die CSU und die Drag-Lesung

Nun aber gab es Ärger. Zuerst wurde in München die CSU von der Pride-Parade ausgeschlossen, kürzlich die große Schwesterpartei CDU in Hamburg: die Teilnahme mit eigenen Wagen  am CSD  wurde verwehrt. In beiden Städten begründeten die CSD-Organisatoren die Ausladungen mit Handlungen und Äußerungen aus den Unionsparteien, die Zweifel an der Verträglichkeit mit queerpolitischen Zielen aufkommen ließen. Politiker aus der CSU positionierten sich gegen eine Drag-Lesung, die Anfang Juni in der Stadtbibliothek München-Bogenhausen stattfand und warfen der Veranstaltung „Frühsexualisierung“ vor, weil einer der vorlesenden Künstler mit seinem Drag-Namen „Eric BigClit“ angekündigt wurde. Die Aufregung wirkte etwas grotesk, vermisste man einen ähnlichen Furor, wenn es um Fälle sexuellen Missbrauchs in katholischen und evangelischen Kirchen ging. Es fallen einem sicherlich mehr Drag Queens und Kings ein, denen man Kinder anvertrauen möchte, als katholische Geistliche.

 

Transkind und BDSM

Völlig übersehen wurde dafür der bedenkliche Hintergrund des Transmädchens Julana Gleisenberg, die ebenfalls vorlesen sollte, dann aber aus Sicherheitsgründen absagte. Die heute dreizehnjährige Julana, die biologisch männlich zur Welt kam, hatte sich im Alter von neun Jahren als trans geoutet. Wenig später wurde sie schon als Kinderbotschafterin einer neu gegründeten Stiftung eingesetzt und brachte mit Hilfe ihrer Eltern ein autobiografisches Buch heraus. Mittlerweile erhält Julana auch Pubertätsblocker, die eine männliche Pubertät verhindern sollen. Es wirkt, als solle Julana das deutsche Äquivalent zu Jazz Jennings werden, ein Transmädchen, deren Geschichte in einer Reality-TV-Serie über mehrere Jahre im US-amerikanischen Fernsehen vermarktet wurde. Gleisenbergs Eltern haben zudem die Transkind-Thematik offensiv zusammen mit ihrem Engagement für BDSM-Lebensweisen verknüpft, bei der Elemente von BDSM auch im Alltag eine Rolle spielen. Das Fass zum Überlaufen brachte in München jedoch der Besuch einer CSU-Delegation beim republikanischen Gouverneur des US-Bundesstaats Florida, Ron DeSantis, der mit LGBTI-feindlichen Gesetzen von sich reden machte. Die Münchener CSD-Organisatoren warfen der CSU vor, sich nicht von den Beteiligten der Delegation und DeSantis absolut ablehnender Haltung zu LGBTI zu distanzieren.

 

Gendern und Selbstbestimmungsgesetz

Gründe für die Ausladung in Hamburg hingegen, waren vor allem die Beteiligung der hiesigen CDU an der Bürgerinitiative „Schluss mit Gendersprache in Verwaltung und Bildung“, die per Volksbegehren das Gendern mit Sonderzeichen in Behörden und Bildungseinrichtungen verbieten lassen will  und die Ablehnung des Selbstbestimmungsgesetzes. Die diesjährige Pride-Parade steht unter dem Motto „Selbstbestimmung jetzt! Verbündet gegen Trans*Feindlichkeit“. So ist durchaus nachvollziehbar, warum unter diesem Motto eine CDU als Teilnehmerin an der Parade kontraproduktiv für die Glaubwürdigkeit des Veranstalters wäre.

Der Umgang mit der CDU zeigt allerdings gerade bei diesen beiden Themen, wie der queere Aktivismus insgesamt einen Diskurskorridor kreieren will, der enger als eine Schießscharte ist. Dieser Aktivismus verunmöglicht es so, sich im übergeordneten Ziel der Gleichstellung queerer Menschen zusammenfinden zu können und dabei verschiedener Ansicht zu sein, wie das zu erreichen ist. Es beraubt den CSD seines integrativen Potenzials. Denn was hätte es gekostet, den CDU-Wagen zu tolerieren, selbst im Wissen, dass die Hamburger Abteilung der Partei nicht mit allen Maximalforderungen der LGBTI-Bewegung übereinstimmen möchte?

Dabei wäre eine integrierende Geste der CDU gegenüber ohnehin geboten gewesen: Die neuen Sprachcodes (Sternchen, Unterstrich, Doppelpunkt inkl. Klicklaut) sind ja keineswegs unumstritten. Im Gegenteil! Zur Erläuterung: Wenn vom sogenannten Gendern die Rede ist, sind Schreibweisen gemeint, die ein Sternchen, einen Unterstrich oder inzwischen auch einen Doppelpunkt verwenden. Damit sollen Geschlechtsidentitäten jenseits der Zweigeschlechtlichkeit sichtbar gemacht werden. Zugleich verweisen diese Sonderzeichen darauf, dass sich bis heute keine Schreib- und Sprechweise durchgesetzt und es in das anerkannte Regelwerk der deutschen Sprache geschafft hat, die sprachlich mehr als zwei Geschlechter abbildet. Im Juli diesen Jahres kam der Rat für deutsche Rechtschreibung im belgischen Eupen zusammen und beschloss, diese Sonderzeichen nicht in das offizielle Regelwerk aufzunehmen und stattdessen die Entwicklung weiter zu beobachten. In weiten Teilen der Bevölkerung aber, scheint es um die Akzeptanz für das Gendern mit Sonderzeichen eher schlecht bestellt zu sein. Mehrere Umfragen zeigten inzwischen, dass weit mehr als die Hälfte der Befragten diese Formen inklusive der gesprochenen Sprechpause ablehnen. Diese Umfragen zeigten aber auch, dass dies nicht gleichbedeutend mit einer generellen Ablehnung von Geschlechtersensibilität im Sprachgebrauch ist.

Beim Selbstbestimmungsgesetz, was das als veraltet geltende Transsexuellengesetz ablösen soll, ist es ebenfalls zu einfach die CDU zum Sündenbock dafür zu erklären, dass dieses Vorhaben der regierenden Ampelparteien nicht so recht vom Fleck kommt. Ein Kabinettsbeschluss vor der parlamentarischen Sommerpause scheiterte am Bundesinnenministerium aufgrund von Bedenken des Bundeskriminalamtes, Kriminellen könne die Verschleierung ihrer Identität zu leicht gemacht werden. Kern der geplanten Gesetzesnovelle ist die voraussetzungslose Änderungsmöglichkeit des amtlichen Geschlechtseintrags. Dagegen jedoch gibt es aus verschiedenen Ecken Kritik, auch von Personen, die formal zur LGBTI-Community gezählt werden können – zum Beispiel vom Autor dieser Zeilen. Mit der bisherigen Historie an gerissenen Deadlines ist es längst fraglich, ob es der Entwurf für ein Selbstbestimmungsgesetz in der bisher vorliegenden Form überhaupt unverändert durch alle Stationen des Gesetzgebungsverfahrens schafft. Die Zustimmung in der Bevölkerung für eine Lösung, die ganz ohne Sicherstellung auskommen will, dass nur die Personenkreise davon Gebrauch machen, für die es gedacht hat, dürfte eher gering ausfallen. Wahrscheinlich würde eine Umfrage dazu ähnliche Werte wie für das Gendern mit Sonderzeichen erzielen. Zuletzt zeigten Wahlen in Ländern wie Finnland und Spanien, in denen linke Regierungskoalitionen kürzlich eine vergleichbare Regelung beschlossen haben, dass dies nicht dabei hilft, Wahlen erneut zu gewinnen. In Großbritannien ändert nun die Labour-Partei ihre Haltung zu einem Selbstbestimmungsgesetz, indem sie davon abrückt.

 

Lehren aus der „Ehe für alle“

Es gäbe also Anlässe genug, den Raum für eine sachliche und differenzierte Auseinandersetzung über die beiden Themen „Gendern“ und „Selbstbestimmungsgesetz“ zu ermöglichen. Der Hamburger CSD hat sich hier anders entschieden. Dabei sollte man die Lehren aus der 2017 erfolgreich verabschiedeten „Ehe für alle“ ernst nehmen. Diese war dann erst gesetzlich durchsetzbar, als weite Teile der Bevölkerung dem positiv gegenüber standen, was sich auch in der CDU dadurch ausdrückte, dass sich wichtige Parteimitglieder dafür aussprachen. So kam es am 30. Juni 2017 zu dem inzwischen legendären Erfolg der entscheidenden Abstimmung im Bundestag, bei der die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel den Fraktionszwang aufhob – und selbst als Abgeordnete dagegen stimmte. In puncto Selbstbestimmungsgesetz ist eine ähnliche gesellschaftliche Stimmungslage nicht wahrnehmbar. Was aber ist für Transpersonen gewonnen, wenn eine gesetzliche Regelung und deren Ergebnisse nicht anerkannt werden? Ohne die Zustimmung der Union jedenfalls, ist kein nachhaltiger Wandel in Deutschland zu erzielen.

 

Till Randolf Amelung ist seit August 2023 Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations. Ansonsten ist er freier Autor mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen. Texte von ihm erschienen in wissenschaftlichen Sammelbänden, darunter das Jahrbuch Sexualitäten 2021 (Politische Hybris. Wie der Transaktivismus seine Erfolge zu verspielen droht) und 2022 (Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar? Ein Zwischenruf für die Berücksichtigung psychodynamischer Ansätze). In Medien wie der Jungle World, ZEIT Online, dem Schweizer Monat und der Siegessäule veröffentlichte er ebenfalls. 2020 erschien im Querverlag sein Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik; 2022 sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.

Transparenzhinweis für diesen Beitrag: Der Autor ist Mitglied der LSU – Lesben und Schwule in der Union, jedoch kein Parteimitglied der CDU.



Selbstbestimmungsgesetz: Wird der Bademeister zum Gutachter?

Die Ampel-Koalition hat ihren Entwurf zum neuen Selbstbestimmungsgesetz vorgelegt. Seither ist offener Streit über den Inhalt entbrannt. Doch was steht da eigentlich wirklich drin und was hat es zu bedeuten? Für Queer Nations hat sich Till Randolf Amelung, Autor im Jahrbuch Sexualitäten, den Entwurf genauer angeschaut. Darf der Bademeister zukünftig wirklich in die Hose gucken? Einige Antworten auf häufige Fragen.



Von Till Randolf Amelung

Queer Nations, 05.05.2023 | Nun ist er also doch noch gekommen – der Entwurf für das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz, mit dem das in die Jahre gekommene Transsexuellengesetz (TSG) abgelöst werden soll. Nachdem bereits mehrere Termine nicht gehalten werden konnten und der Unmut in der queeren Community immer lauter wurde, gaben Familienministerin Paus (B’90/GRÜNE) und Justizminister Buschmann (FDP) am letzten April-Freitag den Entwurf an die Presse. Die Inhalte des Entwurfs haben sich im Grundsatz von den im vergangenen Juli präsentierten Eckpunkten entfernt.

Kern der anvisierten Reform ist die Streichung jedweder Nachweispflichten, der reine, unhinterfragte Sprechakt im Standesamt soll künftig für die Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags genügen. Im Gegensatz dazu setzt das TSG bis heute zwei unabhängige Sachverständigengutachten voraus.

 

Klagen gegen Begutachtung erfolglos

Während bereits mehrere Bestimmungen im TSG durch das Bundesverfassungsgericht außer Kraft gesetzt wurden, zuletzt 2011 der Nachweis von Fortpflanzungsunfähigkeit und weitmöglicher operativer Angleichung, waren Klagen gegen die Gutachten bislang erfolglos. Zum Preis der Begutachtung ermöglichte das TSG rechtlich eine sehr weitreichende Gleichstellung. Mit dem Selbstbestimmungsgesetz soll diese Vorgabe nun ersatzlos entfallen.

Seit der Bekanntgabe dieser Reformpläne gibt es daran insbesondere von Radikalfeministinnen scharfe Kritik, die geplante Regelung ermögliche Missbrauch und schaffe Konflikte in Bereichen, die nach dem biologischen Geschlecht getrennt sind. Zum Jahreswechsel 2022/23 ließ Buschmann erstmals in einem Interview verlauten, dass die Arbeit an einem Gesetzesentwurf noch andauere, da man es privaten Betreibern weiterhin ermöglichen wolle, in bestimmten Situationen über das Hausrecht auf das biologische Geschlecht abzustellen, wie zum Beispiel in einer Frauen-Sauna. Familienministerin Paus verkündete hingegen, das Selbstbestimmungsgesetz solle noch vor der Sommerpause verabschiedet werden.

Während ein Veröffentlichungstermin für einen Entwurf immer wieder verschoben wurde, ließen sich Differenzen zwischen den beiden Häusern nicht mehr übersehen und wurden in den letztlich doch veröffentlichten Entwurf hineingeschrieben. Mindestens eines der beiden beteiligten Ministerien ist von der reinen Sprechakt-Lehre offenbar abgerückt.

 

Begutachtungskompetenz für den Bademeister?

So soll dem Entwurf zufolge zwar volljährigen Menschen grundsätzlich eine Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags ermöglicht werden – ohne Nachweis, ob man tatsächlich zu dem Personenkreis gehört, für den das Gesetz gedacht ist –, aber es wurden Ausnahmen formuliert.

Im Spannungs- und Kriegsfall soll das Gesetz bei biologisch männlichen Personen nicht zur Anwendung kommen, um zu verhindern, dass sich wehrfähige Männer dem Heldentod fürs Vaterland entziehen. Bei Quotenregelungen für die Besetzung von Vorständen soll der Geschlechtseintrag bindend sein, der zum Zeitpunkt der Besetzung in der Geburtsurkunde aktuell ist. Der Hausrechtverweis bei strittigen Zugangsforderungen zu Frauenräumen ist ebenfalls hineingeschrieben worden. Somit würde sich künftig die Begutachtungskompetenz von Psychologen und Sexualmedizinern hin zu Bademeistern und Kreiswehrersatzämtern verlagern. Diskriminierungen sind dabei ebenfalls nicht auszuschließen.

 

Missbrauch als Einzelfälle abgetan

Der Entwurf wollte zwei Pferde gleichzeitig reiten: Transaktivisten die geforderte Reform geben und Sicherheitsbedenken von Frauen begegnen. Regelungen zur Änderung von Vornamen und Geschlechtseintrag für Transpersonen ohne Nachweispflicht gelten seit den Yogyakarta-Prinzipien von 2007 als Goldstandard. Verweis auf Missbrauchsrisiken mit Fallbeispielen werden als Einzelfälle abgetan. Vor einigen Jahren gab Menschenrechtsexperte Robert Wintemute, der 2007 ebenfalls in Yogyakarta an den Prinzipien mitwirkte, gegenüber einem radikalfeministischen Blog zu, dass mögliche Konflikte mit Rechten von Frauen damals überhaupt keine Rolle spielten.

Welchen Sprengstoff schwierige bis missbräuchliche Fälle gerade in sensiblen Bereichen bergen können, musste unlängst die zurückgetretene schottische Ministerin Nicola Sturgeon erfahren, als sie auch über den Fall Isla Bryson stolperte. Bryson wurde wegen sexueller Gewaltdelikte zu einer Haftstrafe verurteilt und wollte mutmaßlich mit einem Coming out als Trans der Unterbringung im Männerstrafvollzug zu entgehen. Auch die Grünen waren auf der kommunalen Ebene mit einem Parteimitglied konfrontiert, welches sich zur Frau erklärte, offenbar um gegen die geschlechterpolitischen Regelungen der Partei zu agitieren. Der Fall landete vor dem Bundesschiedsgericht der Grünen, welches entschied, dass die Äußerung über die Geschlechtszugehörigkeit Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit voraussetze. Wie und durch wen das festgestellt werden soll, blieb offen.

 

Uneinsichtigkeit der Aktivisten gefährdet Offenheit

Ein Verfahren zur Änderung des Geschlechtseintrags ganz ohne Nachweis haben zu wollen, ist vermessen, vergleicht man es mit anderen Regelungen. Für den Erhalt eines Schwerbehinderten-Status‘ muss ebenfalls nachgewiesen werden, ob man die Kriterien erfüllt. Auch die Annahme einer anderen Staatsbürgerschaft ist mit Auflagen verbunden. Staat und Gesellschaft haben ein berechtigtes Interesse daran, das Gemeinwohl zu schützen und den gesellschaftlichen Frieden zu wahren. Dazu gehört auch die Sicherstellung, dass nur dazu berechtigte Personenkreise eine Regelung nutzen.

Bisher war die Gesellschaft offen für Regelungen, die es Transpersonen nicht unzumutbar schwer machen, aber zugleich eben nicht naiv gegenüber Missbrauch sind. Durch die verkorkste Umgangsweise der Politik und die Uneinsichtigkeit der Aktivisten könnte aber auch diese Offenheit schwinden. Das wäre ein gewaltiger Rückschritt, den doch eigentlich niemand wollen kann.

Ebenso sollte anerkannt werden, dass das biologische Geschlecht für die meisten Menschen nach wie vor eine relevante Tatsache ist, die nicht durch reine Sprechakte obsolet wird. Hier gilt es einerseits, bisherige Gesetze zu überprüfen, wo bislang das biologische Geschlecht zugrunde liegt, inwieweit das weiterhin erforderlich ist und dies andernfalls zu ändern. Andererseits wird nicht alles per Gesetz regelbar sein, sondern von allen Beteiligten Empathie, Toleranz und gegenseitige Rücksichtnahme erfordern – auch seitens der Aktivisten. Wer als Teil der Gesellschaft anerkannt werden will, darf nicht nur um den eigenen Bauchnabel kreisen. |


Till Randolf Amelung ist freier Autor mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen. Texte von ihm erschienen in wissenschaftlichen Sammelbänden, darunter das Jahrbuch Sexualitäten 2021 (Politische Hybris. Wie der Transaktivismus seine Erfolge zu verspielen droht) und 2022 (Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar? Ein Zwischenruf für die Berücksichtigung psychodynamischer Ansätze). In Medien wie der Jungle World, ZEIT Online, dem Schweizer Monat und der Siegessäule veröffentlichte er ebenfalls. 2020 erschien im Querverlag sein Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik; 2022 sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.

Till Randolf Amelung auf Twitter: https://twitter.com/TillRandolf


Titelbild: Unsplash/Kenny Eliason