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Großbritannien: Ein Lob auf die lesbischen Streithelferinnen

Wie die LGB Alliance, Scottish Lesbians und das Lesbian Project die Rechte von Homosexuellen vor dem Obersten Gerichtshof verteidigten

Das höchstrichterliche Urteil über die korrekte Auslegung des Geschlechtsbegriffs in britischen Gleichstellungsgesetzen hat international für Aufregung gesorgt. Doch was bedeutet es eigentlich für die Rechte von Lesben und Schwulen, wenn „Geschlecht“ im Recht nicht mehr biologisch zu verstehen ist? Unser Gastautor Dennis Noel Kavanagh erklärt, warum er das gefällte Urteil begrüßt.

Zwei Frauen küssen sich, Symbolbild für Artikel "Großbritannien: Ein Lob auf die lesbischen Streithelferinnen"
Eine Definition von Geschlecht berührt auch existenziell die der sexuellen Orientierung (Foto von Juliette F auf Unsplash).

22. April 2025 | Dennis Noel Kavanagh

Redaktionelle Vorbemerkung: Das Urteil des britischen Supreme Courts, dass „Geschlecht“ im Kontext von Gleichstellungsgesetzen das biologische meint und nicht das Identitätsgeschlecht, hat auch jenseits des Vereinigten Königreichs für Aufregung gesorgt. Der Tenor in deutschen Medien war „Transfrauen werden Frauenrechte entzogen“. In Großbritannien selbst gingen am Osterwochenende mehrere Tausend Menschen auf die Straße, um gegen das Urteil zu protestieren. Doch was hat es bei genauerem Hinsehen eigentlich für Folgen, wenn das biologische Geschlecht als Definitionsbasis verbannt wird? Zunehmend mehr Lesben und Schwule wehren sich gegen das Verdrängen des biologischen Kerns von Geschlecht. Denn: ohne dieses biologische Fundament ist homosexuelles Begehren nicht schlüssig erklärbar.

Einer dieser kritischen Schwulen ist der britische Aktivist und Jurist Dennis Noel Kavanagh, der auf seinem Substack gegen diese Entwicklungen anschreibt und die Organisation Gay Men’s Network gegründet hat, die sich für Interessen von schwulen Männern im Sinne des biologischen Gesetz einsetzt. Im nun folgenden Beitrag bedankt sich Kavanagh bei den lesbischen Aktivsistinnen, die dieses Urteil mit erkämpften. Der Beitrag wurde zuerst auf seinem persönlichen Substack veröffentlicht, IQN veröffentlicht diese, mit DeepL erstellte Übersetzung mit seiner freundlichen Genehmigung. Wir danken dafür herzlich und hoffen, dass dieser Beitrag gerade in der deutschen Diskurslandschaft zu einer differenzierteren Betrachtung des Urteils beitragen kann.

In praise of the lesbian interveners by Dennis Noel Kavanagh

How the LGB Alliance, Scottish Lesbians and the Lesbian Project defended gay rights in the Supreme Court

Read on Substack

Es gibt so etwas wie eine zweifelhafte historische Legende, wonach das Strafrechtsänderungsgesetz von 1885 nur grobe Unzucht zwischen Männern und nicht zwischen Frauen unter Strafe stellte, weil Königin Victoria sich schlichtweg weigerte, an die Existenz von Lesben zu glauben. Unabhängig davon, ob diese alte Geschichte wahr ist oder nicht, könnte man es den lesbischen Streithelferinnen vor dem Obersten Gerichtshof in der Rechtssache „For Women Scotland v The Scottish Ministers“ verzeihen, wenn sie sich bereits in ähnlicher Weise vergessen und ausgelöscht fühlen, da verschiedene mächtige Gremien, von Blue-Chip-Banken auf der rechten Seite bis hin zu Gewerkschaften auf der linken Seite, ihre Besorgnis über das Urteil zum Ausdruck bringen und ihre Solidarität mit den Gegnern der lesbischen Streithelferinnen bekunden.

Dies wird niemanden überraschen, der unter den Gender Wars leidet, und insbesondere Lesben haben schon so oft die Hauptlast des Angriffs auf die Rechte von Homosexuellen getragen. Von der „Cotton Ceiling“ [Baumwolldecke – damit ist Unterwäsche gemeint, Anm. d. Ü.] über Nancy Kelley, die sie als „sexuelle Rassisten“ bezeichnete, bis hin zu den Übergriffen von Männern auf ihre Speed-Dating-Veranstaltungen waren Lesben der Kanarienvogel in der Kohlenmine für die Rechte der Homosexuellen, und so ist es vielleicht passend, dass es die lesbischen Streithelferinnen vor dem Obersten Gerichtshof waren, die einen so entscheidenden Verteidigungsschlag geführt haben.

Ein „bedeutungsloses“ Ende für das geschützte Merkmal der gleichen sexuellen Ausrichtung

Erlauben Sie mir, Ihnen zu erklären, wie die Rechte von Homosexuellen aussehen würden, wenn For Women Scotland ihre Berufung verloren hätte. Erstens gäbe es das geschützte Merkmal der gleichgeschlechtlichen Orientierung nicht mehr in dem Sinne, wie wir es verstehen. Anstatt einfach die homosexuelle Orientierung zu meinen, würde Homosexualität einfach zu einem der geschützten Merkmale der gleichgeschlechtlichen Orientierung herabgestuft und würde neben einer theoretischen Klasse von Menschen stehen, die sich nach Ansicht der schottischen Regierung zu vertraulichen staatlichen Zertifikaten hingezogen fühlen. So hoch war der Einsatz in dieser Berufung.

Das Ziel der schottischen Regierung war nichts Geringeres als die Auslöschung der gleichgeschlechtlichen Orientierung im Gesetz. Wie der angesehene Dr. Michael Foran bereits zu diesem Thema angemerkt hat, würde dies die Diskriminierungsbekämpfung für Schwule und Lesben verändern. Es würde bedeuten, dass die Rechtsprechung, die besagt, dass Lesben und Schwule sich zum gleichen biologischen Geschlecht hingezogen fühlen, falsch ist und Fälle von unmittelbarer Diskriminierung zu mittelbarer Diskriminierung werden.

Ich halte an dieser Stelle inne, um etwas über die Dreistigkeit und Grausamkeit der schottischen Regierung zu sagen. Sie hat versucht, ein geschütztes Merkmal gegen den Willen der Menschen mit diesem geschützten Merkmal grundlegend umzugestalten. Ich kann mir keine andere Minderheit vorstellen, bei der dies als akzeptabel angesehen würde, und ich kann mir keinen besseren Ausdruck der modernen viszeralen Homophobie vorstellen, als dass man ihnen dies erlaubt und sie in ihren Bemühungen sogar noch bejubelt hätte. Homosexualität legal zu vernichten ist eine Sache. Dies zu tun, indem man sich als aufgeklärt ausgibt und sich mit unserem modernen, korrupten Regenbogen schmückt, scheint mir eine Mischung aus Wahnsinn und Imperialismus zu sein.

Was ist ein Streithelfer?
Ein Streithelfer (auch Nebenintervenient genannt) ist eine dritte Person, die sich in einem Rechtsstreit einer Partei anschließt, um diese zu unterstützen, ohne selbst Partei des Verfahrens zu werden. Der Streithelfer hat ein rechtliches Interesse am Ausgang des Verfahrens und möchte, dass die von ihm unterstützte Partei gewinnt (Siehe Wikipedia).

Die schottische Regierung begnügte sich damit, Homosexualität neu zu definieren, wie Kolonialherren, die ihren Untergebenen ihre neuen Wege in ihrer neuen, komplexen Sprache erklären. Was die Komplexität betrifft, so war der Ansatz der schottischen Regierung in Bezug auf die Sexualität so komplex, dass es eines Flussdiagramms bedurfte, so verrückt ist es, menschliche Anziehungskraft per Zertifikat als Liebe zu definieren:

Flussdiagramm, welches Verständnis die schottische Regierung von sexueller Orientierung hatte.
Flussdiagramm von Dennis Noel Kavanagh

Erfreulicherweise hat der Oberste Gerichtshof diese homophobe Charta für rechtliches Chaos in ziemlich kurzer Zeit abgeschmettert und in Absatz 206 festgestellt, dass der Ansatz der schottischen Regierung das geschützte Merkmal der gleichgeschlechtlichen Orientierung „bedeutungslos“ machen würde:

„[206] Dementsprechend muss eine Person mit gleichgeschlechtlicher Orientierung als Lesbe eine Frau sein, die sich sexuell zu Frauen orientiert (oder sich zu ihnen hingezogen fühlt), und Lesben als Gruppe sind Frauen, die das Merkmal der sexuellen Orientierung zu Frauen teilen. Dies ist auf der Grundlage eines biologischen Verständnisses von Geschlecht kohärent und verständlich. Würde hingegen eine GRC gemäß Abschnitt 9(1) des GRA 2004 die Bedeutung des Geschlechts im Rahmen des EA 2010 ändern, würde dies bedeuten, dass eine Transfrau (ein biologischer Mann) mit einer GRC [Gender Recognition Certificate, Anm. d. Ü] (also rechtlich gesehen eine Frau), die sich weiterhin sexuell zu anderen Frauen hingezogen fühlt, zu einer gleichgeschlechtlich orientierten Frau wird, mit anderen Worten zu einer Lesbe. Das Konzept der sexuellen Ausrichtung auf Angehörige eines bestimmten Geschlechts in Abschnitt 12 wird damit bedeutungslos.“

Täuschen Sie sich nicht über all das. Hätte die schottische Regierung gewonnen, wäre genau das geschützte Merkmal, das der Eckpfeiler der Homosexuellenrechte ist, „bedeutungslos“ geworden. Nur dank For Women Scotland, Scottish Lesbians, The Lesbian Project and LGB Alliance und Sex Matters ist dies nicht geschehen.

Gleichgeschlechtliche Organisationen im Kontext der Rechte von Homosexuellen

Wo die Geschlechtsidentität im Gesetz verankert wird, wird es für Homosexuelle bald ungesetzlich, sich in gleichgeschlechtlichen Zusammenkünften zu organisieren. Genau das ist in Australien passiert, und zwar als direkte Folge einer Änderung des Bundesgesetzes zur Geschlechterdiskriminierung von 1984, bei der das Geschlecht durch die Geschlechtsidentität ersetzt wurde (wie jeder weiß, der den Rechtsstreit der Lesbian Action Group verfolgt). Fast wäre es auch hier geschehen, und zwar auf Betreiben der schottischen Regierung. Erlauben Sie mir zu erklären, warum.

Teil 7 des Gleichstellungsgesetzes von 2010 regelt die Vereinigungen. Zusammengefasst besagt er, dass eine Vereinigung, die mehr als 25 Mitglieder hat, die Mitgliedschaft nach Personen regeln kann, die ein geschütztes Merkmal teilen. Was passiert also, wenn sich das geschützte Merkmal ändert und eine Unterteilung in Frauen und Männer mit staatlichen Gender Recognition Certificates erfolgt, die besagen, dass sie Frauen sind? Nun, was dann passiert, ist das, was in Australien passiert ist. Das Recht der Homosexuellen, eine Vereinigung für nur ein Geschlecht zu gründen, wird vollständig abgeschafft, und jede Organisation, die sich nicht daran hält, wird zivilrechtlich haftbar gemacht. Diese zivilrechtliche Haftung kann eine ernste Angelegenheit sein. Sie könnte zu einstweiligen Verfügungen führen, sie könnte zu langen, anstrengenden Gerichtsverfahren führen, sie könnte zu erheblichen Schadensersatzzahlungen und Kosten führen.

Dies hätte zur Folge, dass jede homosexuelle Vereinigung von Einzelpersonen dem Fleischwolf des Rechtsstreits ausgesetzt würde und eine abschreckende Wirkung hätte, die jede vernünftige Lesbe oder jeden vernünftigen Schwulen davon abhalten würde, jemals irgendetwas nur für uns zu gründen, angefangen von einem Buchclub, einem Wanderverein bis hin zu einer traumatherapeutischen Gruppe oder einer politischen Aktivistengruppe. Das Recht der Homosexuellen, sich zusammenzuschließen, der Dreh- und Angelpunkt sozialer Bindungen, gemeinsamer Erfahrungen und gemeinsamer Kämpfe unter Menschen, die genauso sind wie man selbst, wäre verschwunden.

Als Argument für reine Frauenräume wird oft angeführt, dass Frauen ein Recht auf Privatsphäre, Würde und Sicherheit haben. Das Plädoyer für homosexuelle Räume für Singles kann vielleicht noch deutlicher formuliert werden. Unser Leben wird in gewisser Weise durch unsere gleichgeschlechtlichen Neigungen bestimmt. Unser Weg zum Glück liegt in unserer gleichgeschlechtlichen Orientierung. Unsere Zusammenkünfte und Vereinigungen sind nicht nur einfache soziale Ereignisse, sondern seltene Gelegenheiten, mit Menschen zusammen zu sein, die genauso sind wie wir.

So gut wie jede Lesbe und jeder Schwule erinnert sich an ihren ersten Besuch in einer Schwulenbar. Die Dekompression. Die Abwesenheit von Einsamkeit. Das Ausatmen und die Erkenntnis: „Es gibt Menschen, die genauso sind wie ich“. Die gemeinsamen Erlebnisse und Unterhaltungen. Das Fehlen von sprachlichen Vorsichtsmaßnahmen, wenn man Partner sagt, obwohl man eine gleichgeschlechtliche Freundin oder einen gleichgeschlechtlichen Freund meint.

Unsere Vereinigungsrechte sind von großer Bedeutung. Es ist eine Tragödie und ein nervenaufreibender Ritt, den ich nie wiederholen möchte, dass eine schottische Regierung, die Freundlichkeit und „Inklusion“ vorgaukelt, kurz davorsteht, sie per Gesetz abzuschaffen. Diese Freundlichkeit und Integration erstreckten sich nicht auf Homosexuelle oder unsere Grundrechte. Dass sie überhaupt zur Debatte standen, zeigt die wirkliche strukturelle und kulturelle Schwäche dessen, was als moderne Schwulenrechtsbewegung gilt.

Ein gerechtes Urteil über Vereinigungen, das alle schützt

Es sollte darauf hingewiesen werden, dass es den Menschen völlig freisteht, Vereinigungen zu gründen, auch Männern und Frauen. Das ist ihr gutes Recht. Wenn eine Gruppe für die Rechte von Homosexuellen Personen des anderen Geschlechts mit oder ohne GRC als Mitglieder zulassen will, ist das völlig rechtmäßig. Mit diesem Urteil verliert niemand seine Rechte. Das Einzige, was wir verloren haben, ist die Drohung, dass die meisten lesbischen Vereinigungen vor Gericht gehen würden, weil sie einen anderen Weg in Bezug auf die Mitgliedschaft eingeschlagen haben, den sie nun glücklicherweise rechtmäßig beschreiten dürfen. Dies steht im Einklang mit der Tatsache, dass dieses Urteil das geschützte Merkmal der Geschlechtsangleichung weder abgeschwächt noch zurückgenommen hat. Es hat nichts dergleichen getan und konnte es auch nicht tun.

Während es für einige politisch zweckmäßig ist, Angst zu schüren und in übertriebenen Worten über die Auswirkungen dieses Urteils zu sprechen, enttäuschen sie letztlich nur die Wählerschaft, der sie zu dienen vorgeben, mit Kommentaren, die nicht der Wahrheit entsprechen, wo wir rechtlich stehen. Die Sucht der Gender-Ideologen, ihre Fußsoldaten in Angst zu halten, ist ein unerfreuliches Merkmal einer Bewegung, die es nicht gewohnt ist, „Nein“ zu hören. Ich fordere sie dringend auf, davon abzulassen. Niemandem ist mit aufgeblasenen dummen Statistiken über Exorzismen, gefälschten Zahlen über Hassverbrechen oder völlig falschen Darstellungen des Gesetzes gedient. Es ist nicht fair, die Menschen in Angst zu halten, und es ist nicht richtig, absichtlich Zwietracht zu säen, wenn dieses Urteil einen so weitreichenden Schutz für die Rechte von Homosexuellen bedeutet.

Ein Lob auf die lesbischen Streithelferinnen

Abschließend möchte ich den lesbischen Streithelferinnen in dieser Rechtssache und ihrem Anwaltsteam (das unentgeltlich gearbeitet hat), dem Anwalt Peter Daly und der angesehenen King’s Counsel Karon Monaghan KC, meine besondere Anerkennung aussprechen. Die Stimmen von Homosexuellen und insbesondere von Lesben werden im utopischen Marsch des „Fortschritts“ allzu oft übergangen und vergessen. Ich bedaure, dass die Gewerkschaften und Banken ihnen keine Solidarität entgegenbringen. Ich bedaure, dass die Abgeordneten anscheinend nicht glauben, dass die Rechte von Homosexuellen von großer Bedeutung sind. Wahrscheinlich sind sie es für sie nicht.

Aber für mich als schwulen Mann sind sie von Bedeutung, und nicht zum ersten Mal blicke ich auf die harte Arbeit, den unnachgiebigen Einsatz und die Entschlossenheit der lesbischen Streithelferinnen, und ich sage Danke. Danke für die Verteidigung der grundlegenden Rechte von Homosexuellen. Danke für die Wahrung unserer geschützten Eigenschaft und unserer Vereinigungsrechte.


Dennis Noel Kavanagh schreibt über Recht, Gesellschaft und LGBT-Politik. Er ist außerdem Rechtskommentator und verfasst gelegentlich Kommentare für verschiedene Publikationen oder das Fernsehen. Er hat 2003 eine Ausbildung zum Rechtsanwalt abgeschlossen und 15 Jahre lang als Strafverteidiger gearbeitet, bevor er sich anderen Projekten zugewandt hat. Sein Hauptinteresse gilt der Wiederherstellung einer differenzierten, präzisen und zivilisierten Diskussion über die Gegenwart, insbesondere der Frage, wie wir die lauten Motoren der Unvernunft, die die Postfaktengesellschaften antreiben, stilllegen können.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Flipside – ein Podcast über die Schattenseiten des gender-affirmativen Modells

Im Podcast „Flipside“ mit der ehemaligen österreichischen Nationalratsabgeordneten Faika El-Nagashi als Host berichten Eltern und ExpertInnen aus Psychologie sowie der Lesben- und Schwulenbewegung, welchen Schwierigkeiten man ausgesetzt ist, wenn man einer schnellen Bestätigung einer Transidentität bei Kindern und Jugendlichen skeptisch gegenübersteht.

Frau hat die Augen mit Haaren bedeckt und Kopfhörer auf, Symbolbild für den Artikel "Flipside - ein Podcast über die Schattenseiten des gender-affirmativen Modells"
Podcast „Flipside“: Man sollte sich auch die andere Seite zumindest einmal anhören (Foto von Elice Moore auf Unsplash).

21. April 2025 | Till Randolf Amelung

Die im März veröffentlichte medizinische Leitlinie S2k-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter – Diagnostik und Behandlung“ soll nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz und in Österreich Anwendung finden. Kern dieser Leitlinie ist, dass Minderjährige, die eine vom biologischen Geschlecht abweichende Geschlechtsidentität äußern, darin möglichst bestätigt werden sollen – auch mit Maßnahmen wie Medikamenten zur Pubertätsblockade und gegengeschlechtlichen Hormonen.  

Kritik in Deutschland, Österreich und der Schweiz

In den DACH-Ländern sind jedoch vermehrt kritische Stimmen zu vernehmen. In Österreich gehören dazu Faika El-Nagashi, lesbische Politikerin und ehemalige Nationalratsabgeordnete für die Grünen, und der Verein Europäische Gesellschaft für Geschlechtergerechtigkeit Österreich (EGGÖ). El-Nagashi und EGGÖ haben nun eine Kooperation gestartet und eine vierteilige Podcast-Miniserie veröffentlicht.

Flipside, wie der Podcast heißt, will die andere Seite der Medaille vom gender-affirmativen Modell beleuchten und lässt drei Elternpaare erzählen, „was passiert, wenn ihre Kinder plötzlich sagen: ‚Ich bin trans.‘“  Diese berichten von „überforderten Schulen, einseitigen Beratungsstellen, ideologisierte Therapeutinnen und Therapeuten“, für die es keine Alternative zum affirmativen Modell gibt. 

In zwei vorgestellten Fallgeschichten geht es um biologische Mädchen, in der dritten um einen biologischen Jungen. Allen Fällen ist gemeinsam, dass sie im Jugendalter begonnen haben, sich als trans zu identifizieren und sie bereits vor diesem Coming-Out teils schwerwiegende psychische Erkrankungen aufwiesen. Social-Media-Konsum während der Corona-Lockdowns war bei allen drei Jugendlichen ebenfalls ein wichtiger Katalysator. Keiner der drei Jugendlichen war laut Schilderungen ihrer Eltern vorher mit Geschlechtsdysphorie, also einem tiefen Unbehagen mit den körperlichen Merkmalen des biologischen Geschlechts aufgefallen.

Zweifelnde Eltern und berechtigte Kritik

Während alle der von El-Nagashi interviewten Eltern ihren Kindern helfen wollten, aber erhebliche Zweifel hatten, ob eine unmittelbare Affirmation der geäußerten Geschlechtsidentität dem Wohl ihres Kindes dienen würde, waren es oft die Schulen, in denen zuerst Fakten geschaffen wurden. Vor allem, wenn sich das Kind in der Schule selbst outete. Eltern, die hier auf die Bremse getreten sind, hatten gegenüber der Schule zumeist einen schweren Stand.

Allerdings war es auch schwierig, Ärzte und Psychologen zu finden, die beim Signalwort „trans“ nicht sofort jegliche Ursachenerkundung einstellten. In einem der drei vorgestellten Fälle begann es bei einem biologischen Mädchen mit einem Trans-Coming-Out im Alter von zwölf Jahren und setzte sich mit einer schweren Anorexie fort. Die Magersucht wurde zwar behandelt, aber weil die Eltern in der Transfrage nicht kooperativ waren, wurde das Mädchen aus ihrer Obhut genommen und in eine Jugendhilfeeinrichtung gegeben.

Es wurde gar gerichtlich erwirkt, dass die Betreuer in der Jugendhilfe medizinische Entscheidungen wie gegengeschlechtliche Hormoneinnahme und Operationen anstelle der Eltern treffen dürfen. Doch nichts dergleichen wurde eingeleitet und eines Tages begann der Teenager, sich mit seinem biologischen Geschlecht zu arrangieren und bedankte sich schließlich bei ihrer Mutter, die besonders geblockt hatte.

Es mögen Schilderungen wie diese sein, an denen die Warnungen von kritischen Ärzten wie beispielsweise Florian D. Zepf vom Universitätsklinikum Jena hier im Blog Konturen bekommen. Zepf bemängelt am affirmativen Modell, „dass es immer noch keine klaren Beweise für dauerhafte und wesentliche Verbesserungen bei Minderjährigen mit solchen geschlechtsbezogenen Problemen gibt.“ Obwohl das affirmative Modell und seine Komponenten wie Pubertätsblocker zum gegenwärtigen Zeitpunkt als experimentell eingestuft werden müssen, wollen TransaktivistInnen es aber zum Standard machen.

Siegeszug der Transaktivisten

Zum Abschluss der Podcastreihe gibt es ein Gespräch mit Kurt Krickler, einem Veteranen der österreichischen Lesben- und Schwulenbewegung sowie der Psychoanalytikerin Bettina Reiter und Elfi Rometsch von EGGÖ. Neben den stellenweise erschütternden Schilderungen der Eltern gibt es auch in diesem Gespräch sehr interessante Einblicke. Insbesondere Krickler, der aufgrund seines über vierzigjährigen politischen Engagement auch international gut vernetzt war und ist, schildert, wie es überhaupt dazu gekommen ist, dass Lesben- und Schwulenorganisationen das Transthema so aufgenommen hat.

Ein Schlüsselmoment sei, so Krickler, die Weltkonferenz der ILGA (The International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans, and Intersex Association) 1995 in Rio de Janeiro gewesen, wo das Transthema sehr stark in die Lesben- und Schwulenbewegung getragen worden sei. In der Folge engagierten sich Transpersonen, die damals vor allem klassische Transsexuelle mit sozialer und operativer Angleichung waren, zunehmend mehr in lesbischen und schwulen Vereinen, die sich dann auch on LGB zu LGBT erweitert hatten. Laut Krickler sei das eine logische, nicht antagonistische Entwicklung gewesen. Später sei noch Intersexualität als Thema dazugekommen. Die heutige Begriffs- und Ideenwelt mit vielen Geschlechtern und Nonbinarität habe sich aber erst ab den 2010er Jahren entwickelt.

Zusammengefallen sei das mit immer mehr fundamentalen gesellschaftlichen Fortschritten für Lesben und Schwule, die für ihre organisatorischen Strukturen neue Themen brauchten, um ihren (staatlich subventionierten) Erhalt begründen zu können. Für den Transaktivismus war das eine sehr komfortable Lage, so an bereits etablierte Strukturen andocken zu können, die Personal, Räumlichkeiten und eben staatliche finanzielle Förderung  –  nicht zu vergessen – auch Reputation beinhaltete.

Krickler führt weiter aus, dass sich dadurch auch die Inhalte zu verändern begannen und alles rundum „inklusiv“ hinsichtlich Trans und Inter sein musste. Eigenständige homosexuelle Positionen seien zunehmend verdrängt worden. Das alles habe auch Auswirkungen auf die Lobbyarbeit, die Beratung und andere Bereiche gehabt, in denen es um LGBTIQ oder Queer geht – bis dorthin, dass akademische Felder wie insbesondere Medizin, Psychologie oder Pädagogik im aktivistischen Sinne beeinflusst wurden.

Eindrücklich sind auch die Schilderungen von Bettina Reiter und Elfi Rometsch, den Mitgründerinnnen des Vereins EGGÖ. Beide sagen übereinstimmend, dass sie sich nur deshalb öffentlich kritisch äußern könnten, weil sie pensioniert seien. Unter denjenigen, deren berufliche Karrierewege noch nicht erfolgreich am Ziel angelangt seien, würde sich nahezu niemand öffentlich zur Transthematik kritisch positionieren – aus Angst vor nachteiligen Konsequenzen.

Empfehlenswerter Podcast

Dem Podcast gelingt es, in vier Teilen erstmals für den deutschsprachigen Raum gebündelt die andere Seite der Medaille des gender-affirmativen Modells darzustellen. Das liegt auch an der inhaltlich kompetenten, strukturierten und empathischen Gesprächsführung von Host Faika El-Nagashi.  Es kommen nunmehr die Geschichten vor, die anderswo zugunsten einer glatten und geschönten Version von Transitionen unter den Teppich gekehrt werden.

Niemand sagt, dass man die schönen Geschichten gar nicht erzählen sollte, aber man muss wenigstens auch die nicht so schönen kennen. Einem differenzierteren gesellschaftspolitischen Diskurs kann das nur nützlich sein und wichtig für das Wohl von Kindern und Jugendlichen ist es allemal. Darauf sollten sich auch sowohl KritikerInnen und BefürworterInnen des affirmativen Ansatzes einigen können.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Das Selbstbestimmungsgesetz – eine legislative Fehlleistung

Das Selbstbestimmungsgesetz gilt Transaktivisten als Meilenstein in Sachen Menschenrechte. Doch das Gesetz hat viele Schwach- und Konfliktpunkte, die grundsätzlicher Natur sind. In seinem Gastbeitrag erläutert Andreas Edmüller, warum das Selbstbestimmungsgesetz nicht einmal die Mindestanforderungen guter Gesetze erfüllt.

Eine schwarze Brille liegt auf einem bedrucktem Blatt Papier. Symbolbild für "Das Selbstbestimmungsgesetz - eine legislative Fehlleistung"
Das Selbstbestimmungsgesetz ist nicht nur bei genauerem Hinsehen schlecht (Foto von Mari Helin auf Unsplash).

18. April 2025 | Andreas Edmüller

Am 1.11.2024 ist das Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag (SBGG) in Kraft getreten. Es soll wesentlich einfacher als bisher ermöglichen, den Geschlechtseintrag im Personenstandsregister vom biologischen Geschlecht abzukoppeln und im Sinne der Selbstbestimmung an der jeweiligen Geschlechtsidentität einer Person zu orientieren.1 Ich halte das SBGG für eine kapitale normative bzw. legislative Fehlleistung. Im folgenden Text begründe ich meine Einschätzung aus rechtsphilosophischer und klassisch liberaler Sicht; meine Argumente dürften jedem Leser einleuchten, der die Konzepte der Menschenwürde und des Rechtsstaates verstanden hat und als Leitideen akzeptiert. Ich beginne meine Überlegungen mit fünf Mindestanforderungen an akzeptable Gesetze und zeige dann, dass das SBGG keine davon erfüllt.

Welche Mindestanforderungen gelten für Gesetze?

  • Ein Gesetz darf nicht gegen die Erkenntnisse der Naturwissenschaften verstoßen. Das gilt für Inhalt und Begründung gleichermaßen. Ein Gesetz, das z.B. den Astralleib einer Person vor negativen Schwingungen oder Finanzbeamte vor dem bösen Blick unzufriedener Bürger schützen soll, ist nicht akzeptabel. Gleiches gilt für Beweisverfahren vor Gericht: Sie haben alle den besten wissenschaftlichen Theorien zu genügen. DNA-Analyse, der Vergleich von Fingerabdrücken und toxikologische Analysen erfüllen dieses Kriterium. Hellseherei, Pendeln und die Befragung von Geistern durch ein Medium tun das nicht. Auch ein Gesetz, das festlegt, die Sonne kreise mit dem Tag des Inkrafttretens um die Erde fällt in diese Kategorie.
  • Jedes akzeptable Gesetz hat als normativen Rahmen den Verbund der klassisch liberalen Freiheits- und Eigentumsrechte, d.h. die Würde des Menschen zu respektieren. Es geht grundsätzlich darum, mit Hilfe von Gesetzen Sicherheit und Freiheit eines jeden Bürgers zu schützen. Ein bekanntes Beispiel zur Sicherheit sind unsere Gesetze zum Schutz von Kindern und Jugendlichen: Sie verfügen (noch) nicht über das Selbstschutzpotential eines erwachsenen Bürgers.2 Deshalb dürfen Kinder und Jugendliche bestimmte Dinge nicht tun und Erwachsenen ist eine Fülle von Interaktionen mit ihnen verboten. Der Gesetzgeber bzw. der Staat hat in diesen Fällen, also gegenüber Mitbürgern ohne angemessenes Selbstschutzpotential, eine besondere Schutzpflicht.
  • Eine weitere Minimalbedingung bezieht sich auf die Formulierung von Gesetzen: Es dürfen keine unklaren, schwammigen oder mehrdeutigen Begriffe im Gesetzestext enthalten sein. Ein wichtiger Grund von mehreren für diese Einschränkung hat mit dem Schutz der Würde zu tun, denn staatlicher Machtmissbrauch beginnt oft mit unklaren Begriffen. Beispiele sind leider gut bekannt: Gesetze, die an das gesunde Volksempfinden, das göttliche Sittengesetz, die Ehre der Nation, das Allgemeinwohl oder das richtige Klassenbewusstsein appellieren bedeuten nichts Gutes für die davon betroffenen Bürger.3 Ein zweiter Grund liegt natürlich darin, dass ein akzeptables Gesetz für die Betroffenen verständlich sein muss. Es sollte so klar wie möglich sagen, welche Handlungen sanktioniert werden und welche nicht. Das ist eine Grundvoraussetzung für Rechtssicherheit.
  • Klar ist auch, dass ein gutes Gesetz in sich stimmig sein muss. Interne Unvereinbarkeiten schaffen Rechtsunsicherheit für die Bürger und Freiraum für Machtmissbrauch durch den Staat. Gleiches gilt für unser System von Gesetzen als Ganzes: Unstimmigkeiten sind zu vermeiden. Ein Gesetzessystem, das Alkohol am Steuer verbietet, aber das Fahren unter Einfluss von Cannabis oder Betäubungsmitteln erlaubt, ist nicht stimmig. Das gilt auch für ein Rechtssystem, das die Gleichberechtigung aller Bürger fordert, die Geschäftstätigkeit von Frauen aber einschränkt.
  • Schließlich lässt ein gutes Gesetz in dem Bereich, den es normativ abdecken soll keine Lücken, die signifikante Rechtsunsicherheit nach sich ziehen. Im Gegenteil: Es soll normative Unklarheiten und Leerräume beseitigen. Ein wichtiges Beispiel dafür ist aktive und passive Sterbehilfe. Ein kompetenter und verantwortungsvoller Gesetzgeber schafft möglichst viel Klarheit und Rechtssicherheit für alle Betroffenen – von Pflegekräften und Ärzten bis zu den unmittelbar Betroffenen und deren Lieben.

Meine These: Das SBGG verstößt klar und deutlich gegen jede dieser fünf Minimalanforderungen an gute Gesetze und ist deshalb so schnell wie möglich durch eine akzeptable Alternative zu ersetzen.4

Der Schlüsselbegriff des Selbstbestimmungsgesetzes: Geschlechtsidentität

Die Grundidee des SBGG ist es, den biologisch fundierten Geschlechtseintrag im Personenstandsregister zügig und unkompliziert an der jeweiligen Geschlechtsidentität einer Person auszurichten, falls diese das möchte. Das Kernproblem betrifft genau diese Grundidee: Das Schlüsselkonzept des SBGG, Geschlechtsidentität, ist kein naturwissenschaftlich akzeptabler Begriff. Er wird im Gesetzestext ohne nähere Bestimmung bzw. Definition einfach verwendet. Eine allgemein akzeptierte und in erkenntnistheoretisch respektablen Theorien verankerte Definition gibt es nicht. Alleine schon damit liegt ein klarer Verstoß gegen die eben formulierten Minimalbedingungen eins und drei vor.5

Was könnte mit „Geschlechtsidentität“ gemeint sein? In der Trans-Debatte steht dieser Begriff für so etwas wie ein „gefühltes Geschlecht“, z.B. für ein

  • Bewusstsein oder Empfinden davon, zu welchem Geschlecht man gehört: Männlich, weiblich – oder eine der anderen mittlerweile etwa 70 so zahlreichen wie schillernden Genderkategorien;
  • (angeblich) inneres Wissen davon, welches Geschlecht man „eigentlich“ hat;
  • subjektives Gewissheitsgefühl bezüglich des eigenen Geschlechts.

Zur Veranschaulichung einige Zitate; die Liste ist endlos verlängerbar:

  • Der Begriff der Geschlechtsidentität beschreibt das subjektive Empfinden eines Menschen, dem männlichen, weiblichen oder einem dritten Geschlecht anzugehören oder zwischen den Geschlechtern zu stehen. Die Geschlechtsidentität kann vom biologischen Geschlecht und von der gesellschaftlich zugewiesenen Geschlechterrolle abweichen.6
  • Unter Geschlechtsidentität versteht man das tief empfundene innere und persönliche Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht. Dieses kann mit dem Geschlecht, das einem Menschen bei seiner Geburt zugewiesen wurde übereinstimmen – muss es aber nicht. Es muss außerdem nicht zeitlich stringent erfahren werden. Geschlechtsidentität manifestiert sich u.a. in der Wahrnehmung des eigenen Körpers und seiner Repräsentanz nach außen.7
  • Bin ich ein Mann oder eine Frau? Oder beides nicht (ganz)? Die Geschlechtsidentität ist das innere Wissen einer Person, welches Geschlecht sie hat. Diese Selbstwahrnehmung kann sich sowohl von den biologischen Geschlechtsmerkmalen unterscheiden, als auch von der gesellschaftlichen Wahrnehmung.8

Um Missverständnisse zu vermeiden: Mit „Geschlecht“ ist hier nicht das biologische gemeint. Was genau damit gemeint sein könnte – eben das ist völlig unklar. Wikipedia bringt es auf den Punkt:

  • Es gibt für den Begriff der Geschlechtsidentität keine verbindliche und allgemein oder auch nur in den Bezugswissenschaften anerkannte Definition, auf die man sich geeinigt hätte.9

Geschlechtsidentität als Erklärungsversuch

Meines Erachtens handelt es sich dabei oft um Versuche, starke Unzufriedenheit mit dem bzw. Leiden am biologischen Geschlecht durch das Postulieren eines angeborenen bzw. naturgegebenen „inneren Geschlechts“ oder einer Art „Geschlechtsseele“ zu erklären.10

Diese Geschlechtsidentität kann sich – im Gegensatz zum biologischen Geschlecht – im Zeitverlauf ändern. Das geschieht tatsächlich bei Kindern und Jugendlichen, die sich einmal als „trans“ einschätzen, sehr häufig. Sie kann auch instabil bzw. inhaltlich nicht oder nur fragmentarisch zu beschreiben sein.11

Nun gibt es Personen, deren gefühlte Geschlechtsidentität – sehr grob und intuitiv formuliert – sich von ihrem biologischen Geschlecht „unterscheidet“. Genauer: Sie empfinden eine mehr oder weniger stark belastende Geschlechtsinkongruenz. Dieser Begriff beschreibt also z.B. das Bewusstsein, Empfinden, das (vermeintliche) innere Wissen oder die subjektive Gewissheit eines Menschen, z.B.

  • „im biologisch falschen Körper“ geboren zu sein;
  • „eigentlich“ eine Frau bzw. ein Mann zu sein, obwohl alle biologischen Fakten das Gegenteil bezeugen;
  • öfter wechselnde Geschlechtsidentitäten zu haben die zumeist nicht mit dem stabilen biologischen Geschlecht übereinstimmen.

Von Geschlechtsdysphorie spricht man bei Personen, die dauerhaft und intensiv an einer Geschlechtsinkongruenz leiden. Dieser Zustand kann psychotherapeutisch zwar beschrieben, aber nicht mit letzter Sicherheit diagnostiziert werden. Wie erwähnt: Oft genug verschwindet diese Geschlechtsdysphorie nach einiger Zeit wieder.

Aus diesen Sachverhalten folgt allerdings nicht, dass es neben dem biologischen Geschlecht eine nach wissenschaftlichen Kriterien vergleichbare Kategorie „gefühltes, inneres oder eigentliches Geschlecht“ gibt, die mit ersterem konfligiert oder konfligieren könnte. Es folgt nur – und das ist unbestritten – dass die betroffenen Personen Leidensdruck verspüren, der stark mit ihrem biologischen Geschlecht zu tun hat. Und dass versucht wird, diesen Leidensdruck mit Hilfe des Begriffs Geschlechtsidentität zu beschreiben oder zu verstehen. Die konkrete Ursache für diesen Leidensdruck kann sich natürlich von Fall zu Fall unterscheiden. Eine dem biologischen Geschlecht vergleichbare Entität oder Kategorie wie Geschlechtsidentität als wesentliches Element einer Erklärung konnte bis heute wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden.

Ein Beispiel kann diesen Sachverhalt verdeutlichen und veranschaulichen: Es gibt Personen, die an Seelenwanderung glauben und felsenfest davon überzeugt sind, „bereits ein früheres Leben gelebt zu haben“. Unter Hypnose können sie wieder in dieses frühere Leben „zurückgeführt werden“; sie „erinnern sich dann daran“ – oft sogar mit sehr vielen Details.

Daraus folgt allerdings nicht, dass es tatsächlich eine Seele gibt, oder dass Seelen zeitversetzt mehrere Leben in verschiedenen Körpern führen können. Daraus folgt nur – bis zum wissenschaftlichen Nachweis der Existenz von wandernden Seelen – dass so eine Person bestimmte Überzeugungen hat, an deren Wahrheit sie fest glaubt. Und dass diese Person das Substantiv „Seele“ benutzt, um ihre Überzeugungen auszudrücken. Dass diesem Substantiv aber eine Entität entspricht, das Wort „Seele“ also etwas bezeichnet, folgt daraus natürlich nicht.12 Es folgt auch nicht, dass der psychische (oder neurobiologische) Zustand aller Personen gleich ist, die glauben, schon einmal gelebt zu haben. Es kann viele verschiedene, ganz individuelle Ursachen bzw. Ursachengeflechte dafür geben.13

Es kann auch sein, dass die Diskrepanz zwischen „früherem“ und aktuellem Leben für nachhaltige Unzufriedenheit und Leidensdruck sorgt: Wer früher Pharao Ramses der Große war und heute zum Broterwerb eine Straßenbahn fahren muss, kann leicht ins Grübeln kommen und Frustration empfinden.14

Subjektive Gewissheit ist keine Wahrheit

Meine Argumente liefern also folgendes Ergebnis: Subjektive Gewissheit ist kein erkenntnistheoretisch respektables Wahrheitskriterium – ausschließlich darauf basiert aber die Eigenzuschreibung der Geschlechtsidentität.

  • Erstens: Es gibt keinerlei intersubjektive Kriterien, anhand derer die Aussage einer Person zur eigenen Geschlechtsidentität geprüft werden könnte.
  • Zweitens: Es ist unklar, was der Ausdruck „Geschlechtsidentität“ bedeutet, ob er sich tatsächlich auf etwas bezieht und was dieses etwas sein könnte.
  • Drittens: Es ist unklar, ob zwei biologisch weibliche/männliche Personen, die beide als Geschlechtsidentität z.B. „männlich“/„weiblich“/„bigender“/… angeben, das Gleiche (von sich) behaupten – wie ließe sich das feststellen? Die Identitätsproblematik gilt natürlich für alle Geschlechtsidentitäten: Wann sind sie gleich, wann verschieden?15
  • Viertens: Es ist völlig unklar, wie viele und welche Geschlechtsidentitäten es eigentlich gibt und wie dauerhaft sie sind. Aktuell ist die Liste sehr lang, extrem unübersichtlich und wirr.16
  • Fünftens – und dieser Punkt ist mir sehr wichtig: Es ist klar, dass es Personen gibt, die verschiedene Intensitätsgrade der Unzufriedenheit mit ihrem biologischen Geschlecht empfinden. Klar ist auch, dass viele dieser Personen den mehr oder weniger starken Wunsch verspüren, ein anderes biologisches Geschlecht zu haben. Und schließlich sollte ebenfalls klar sein, dass es keinen Grund gibt, diese Personen in irgendeiner Weise zu diskriminieren, ihre Würde zu missachten, sie abschätzig zu behandeln oder ihren Lebensweg abzuwerten.

Endnoten

  1. Dieser Artikel gehört zu einer mehrteiligen Serie, die sich mit den Problemen des SBGG auseinandersetzt. Ab Teil 2 im Blog Projekt Philosophie (online ab 22. April) gehe ich detaillierter auf die Vorgängergesetze und einzelne Paragraphen des SBGG ein. ↩︎
  2. Dass z.B. Zwölfjährige diese These strikt ablehnen, ändert daran nichts und bereichert den Anekdotenschatz aller Erziehungsberechtigten aufs Unterhaltsamste. ↩︎
  3. Falls jemand z.B. dem Irrtum aufgesessen sein sollte, das göttliche Sittengesetz oder das Allgemeinwohl seien irgendwie erkennbar … Andreas Edmüller: Die Legende von der christlichen Moral. Warum das Christentum moralisch orientierungslos ist. Marburg, 2015; Andreas Edmüller: Plädoyer für die Freiheit und gegen die Gleichheit. KDP, 2013. ↩︎
  4. Mein kürzlich in drei Teilen bei der Richard Dawkins Foundation erschienenes Interview mit Till Randolf Amelung ermöglicht einen schnellen Überblick zu den Grundlinien der Debatte. Die beste und eine insgesamt exzellente Gesamtdarstellung zum Stand unseres Wissens zum sehr unübersichtlichen Trans-Thema liefert Alexander Korte: Hinter dem Regenbogen. Stuttgart, 2024. ↩︎
  5. Es gibt im Bereich der „Psych“-Disziplinen natürlich zahllose Versuche, dieses schillernde Konzept in respektable Theorien einzubinden – über dieses Versuchsstadium ist man aber bisher meines Erachtens nicht hinausgekommen. ↩︎
  6. https://www.bmz.de/de/service/lexikon/geschlechtsidentitaet-57492 ↩︎
  7. https://www.bpb.de/themen/gender-diversitaet/geschlechtliche-vielfalt-trans/500926/geschlechtsidentitaet/ ↩︎
  8. https://www.sexuelle-gesundheit.ch/themen/geschlechtsidentitaet ↩︎
  9. https://de.wikipedia.org/wiki/Geschlechtsidentität. Bei mir, Andreas Edmüller,  sieht es so aus: Ich weiß, dass ich ein Mann bin. Die Begründung dafür liegt auf der Hand: Alle biologischen Fakten stützen diese Überzeugung. Trotz intensiver introspektiver Bemühungen, kann ich darüber hinaus so etwas wie (m)eine inhaltlich klar bestimmte Geschlechtsidentität nicht finden oder erkennen. Alles, was ich da „finden“ kann, ist eine Vielfalt an Überzeugungen, Vermutungen oder Fragen dazu, was es heißt oder heißen könnte, „ein Mann zu sein“ … ↩︎
  10. Ich empfehle zur weiteren Veranschaulichung des Problems die Stichwortsuche für „Geschlechtsidentität“ in Alexander Kortes Buch: Hinter dem Regenbogen. Stuttgart, 2024. ↩︎
  11. Hier ein sehr anschauliches Beispiel: https://www.br.de/mediathek/podcast/willkommen-im-club-der-queere-podcast-von-puls/genderfluiditaet-mein-geschlecht-wechselt-sich-mehrmals-am-tag/2103986 ↩︎
  12. Das Beispiel habe ich bewusst gewählt: Die Wahrnehmung der eigenen Geschlechtsidentität wird tatsächlich oft an so etwas wie eine Geschlechtsseele geknüpft, die inhaltlich nicht mit dem biologischen Geschlecht „übereinstimmt“ bzw. „übereinstimmen“ muss. Ursula Markus, Tanja Polli: Das Geschlecht der Seele. Transmenschen erzählen. Elster Verlag, 2013. ↩︎
  13. Gleiches gilt für die psychischen bzw. neurobiologischen Zustände von Personen, die alle eine Marienerscheinung hatten oder die Wilde Jagd am Himmel gesehen haben. ↩︎
  14. Das kann unseren Münchner Tramfahrern allerdings nicht passieren: Sie haben jederzeit und überall Vorfahrt und sind die eigentlichen Könige der Stadt. ↩︎
  15. Für die Philosophen unter den Lesern sei an Quines berühmtes „No entity without identity!“ erinnert. ↩︎
  16. https://lgbt.fandom.com/de/wiki/Geschlechtsidentitäten; https://de.wikipedia.org/wiki/Nichtbinäre_Geschlechtsidentität ↩︎

PD Dr. Andreas Edmüller ist Privatdozent für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seine Interessensschwerpunkte sind Moral-, Rechts- und Staatsphilosophie. Nach der Gesellenprüfung als Steinmetz hat er in München und Oxford Philosophie, Logik/Wissenschaftsheorie und Linguistik studiert. Von 1991 bis 2019 war er als Unternehmensberater tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte als Berater waren Leadership, Teamunterstützung, Konfliktmanagement und Coaching. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter „Plädoyer für die Freiheit und gegen die Gleichheit“ (2013), „Die Legende von der christlichen Moral: Warum das Christentum moralisch orientierungslos ist“ (2015), „Verschwörungsspinner oder seriöser Aufklärer? Wie man Verschwörungstheorien professionell analysiert“ (2021), „Verschwörungstheorien als Waffe. Wie man die Tricks der Verschwörungsgauner durchschaut und abwehrt“ (2022).


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Britischer Supreme Court urteilt: Transfrauen und biologische Frauen sind nicht gleich

Der britische Supreme Court urteilte darüber, ob „Frau“ im Gleichstellungsgesetz auf biologischer Grundlage oder auf identitärer zu definieren ist. Seine Entscheidung fiel zugunsten der biologischen Definition aus, für die in den vergangenen Jahren besonders feministische Frauengruppen gestritten haben. Transverbände sind darüber entsetzt, die Schriftstellerin J.K. Rowling zeigt sich entzückt.

Justitia als Bronzefigur, Symbolbild für "Britischer Supreme Court urteilt: Transfrauen und biologische Frauen sind nicht gleich"
Feministinnen in Großbritannien sind dieses Mal wohl zufrieden mit Justitia (Foto von Wesley Tingey auf Unsplash).

17. April 2025 | Till Randolf Amelung

Mittwochvormittag fiel das Urteil, für das feministische Aktivistinnen der Gruppe For Women Scotland sich seit 2018 durch alle juristischen Instanzen kämpften: Die rechtliche Definition von „Frau“ bezieht sich in Gleichstellungsfragen nur auf das biologische Geschlecht. Hintergrund ist ein damals verabschiedetes schottisches Gleichstellungsgesetz zu Frauenquoten in öffentlichen Gremien, um den Frauenanteil auf mindestens 50 Prozent anzuheben. Die Definition von „Frau“ im schottischen Gesetz schloss auch biologisch männliche Transfrauen mit einem Gender Recognition Certificate (GRC) ein – der britischen Variante der rechtlichen Namens- und Personenstandsänderung.

JK Rowling unterstützte Gerichtsprozess

For Women Scotland, die finanziell und ideell von keiner Geringeren als ihrer weltberühmten Landsfrau Joanne K. Rowling unterstützt wurden, sahen beim schottischen Gesetz eine Überschreitung der Kompetenzen, weil es den Begriff „Frau“ aus dem britischen Gleichstellungsgesetz eigenmächtig neu definiere.

Die schottische Regierung hatte vor Gericht argumentiert, dass Transfrauen mit einem Gender Recognition Certificate (GRC) Anspruch auf den gleichen geschlechtsspezifischen Schutz hätten wie biologische Frauen. Der Oberste Gerichtshof wurde daraufhin gebeten, über die richtige Auslegung des Gleichstellungsgesetzes von 2010 zu entscheiden, das in ganz Großbritannien gilt. Das Gericht gab nun den Aktivistinnen recht. Das Urteil gilt als wegweisend, um Fragen zu beantworten, ob Transfrauen bei Frauenquoten anerkannt werden oder ob sie aus Frauenräumen und von frauenspezifischen Dienstleistungen ausgeschlossen werden dürfen.

Hitzige Debatte um Trans- und Frauenrechte

Die aktuelle höchstrichterliche Entscheidung folgt auf eine jahrelange hitzige Auseinandersetzung über Transgender- und Frauenrechte in Großbritannien. Dazu gehört auch die Kontroverse um Isla Bryson, eine biologisch männliche Person, die wegen Vergewaltigung verurteilt und zuerst in einem Frauengefängnis untergebracht wurde. Nachdem der Fall 2023 mitten in der Debatte um ein schottisches Selbstbestimmungsgesetz die Öffentlichkeit erreichte und die damalige Ministerin Nicola Sturgeon vor laufender Kamera nicht konzis definieren konnte, was eine Frau ist, trat die damals noch beliebte Politikerin zurück.  

Auch ein noch laufendes arbeitsgerichtliches Verfahren, in das eine Krankenschwester des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS im schottischen Fife verwickelt ist, gehört dazu. Sie hatte Einwände dagegen erhoben, dass eine Transfrau, die in derselben Klinik als Ärztin tätig ist, einen gemeinsamen Frauenumkleideraum benutzt.

Im vergangenen Monat wurden zudem Ergebnisse einer von der britischen Regierung beauftragten Studie veröffentlicht, die zeigten, dass die Nichtunterscheidung zwischen biologischem und Identitätsgeschlecht in offiziellen Statistiken zu verzerrten Daten führt.

In dem nun gefällten Urteil wurde festgestellt, dass die biologische Auslegung des Geschlechts auch für das „kohärente Funktionieren“ von geschlechtsspezifischen Räumen erforderlich sei. For Women Scotland und andere Frauenrechtsgruppen begrüßten das heutige Urteil, da es ihre Position stärkt. Auch Faika El-Nagashi, lesbische gender-kritische Aktivistin und ehemalige Abgeordnete für die Grünen im österreichischen Nationalrat, bezeichnete das Urteil im Kurznachrichtendienst X als „Meilenstein“.

Urteil für Transaktivisten schwerer Rückschlag

TransaktivistInnen hingegen sehen den Gerichtsentscheid als schweren Rückschlag. Sie befürchten, künftig weniger geschützt zu sein. Der schottische Transaktivist Vic Valentine sagte gegenüber BBC, seine Organisation sei „schockiert“ über das Gerichtsurteil und argumentierte, dass es „20 Jahre des Verständnisses darüber, wie das Gesetz Transmänner und -frauen mit Geschlechtsanerkennungszertifikaten anerkennt, auf den Kopf stellt“.

Der Richter Lord Hodge wiederum stellte klar: „Aber wir raten davon ab, dieses Urteil als einen Triumph einer oder mehrerer Gruppen in unserer Gesellschaft auf Kosten einer anderen zu interpretieren, das ist es nicht.“ Er fügte hinzu, dass die Rechtsvorschriften Transpersonen „nicht nur Schutz vor Diskriminierung aufgrund des geschützten Merkmals der Geschlechtsangleichung, sondern auch vor unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung und Belästigung aufgrund ihrer Transition bieten würden.

Gerichtsentscheidung mit Signalwirkung

So oder so: Die Signalwirkung dieses Urteils reicht über Großbritannien hinaus. Weltweit und damit auch hier in Deutschland wird zunehmend um die Frage gestritten, wie relevant das biologische Geschlecht eigentlich ist und wie viele es davon gibt. Obwohl es naturwissenschaftlich Common Sense ist, dass es zwei und nicht mehr biologische Geschlechter gibt, wird aus politischen, transaktivistisch angeheizten Gründen versucht, eine alternative Erzählung zu platzieren.

Die Politikwissenschaftlerin und IQN-Autorin Chantalle El Helou sieht die reproduktive Potenz als gewichtigen Kern der individuellen und gesellschaftlichen Relevanz, aus dieser heraus definiere sich die stoffliche Begrenzung des biologischen Geschlechts. Daher lehnt sie die queertheoretisch begründete Leugnung dieser Relevanz ab. So schreibt sie:

„Die zwangsläufige Bewusstwerdung und Verhandlung dieses spezifischen Stoffwechsels mit der Natur müsste bewusst unterdrückt werden. Das steht der befreiten Gesellschaft direkt entgegen. Die Naturbeherrschung wie sie bei Abtreibung oder Verhütung, aber eben auch bei jeder grundlegendsten Planung, Lenkung, Vorbereitung oder Verhinderung einer Schwangerschaft besteht, ist eben nicht die Verleugnung der Natur, sondern die bewusste Anerkennung ihrer Eigengesetzlichkeit und deren Einbettung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ohne diese Anerkennung müsste einem der Vorgang von Schwangerschaft und Geburt wie ein chaotisches Mysterium erscheinen, das wie eine Naturgewalt über einen hereinbricht und deren Gefahren man hilflos ausgesetzt wäre.“

Progressiver Queer- und Transaktivismus nebst Verbündeten in der Politik wollten das biologische Geschlecht aus dem Blickfeld verbannen, doch damit brachten sie weltweit Frauen gegen sich auf, weil gerade sie von einer Geschlechtsdefinition ohne biologische Fundierung erhebliche Nachteile haben. So weit hätte es nicht kommen müssen, wenn dem gesellschaftspolitisch progressiven Lager bewusst gewesen wäre, dass sie nie auf einer befestigten Straße unterwegs waren, sondern auf einem zugefrorenen See, dessen Betreten Umsicht und Vorsicht erfordert. Nun ist der Schaden da, und der queere Transaktivismus bricht auf dem dünnen Eis ein.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


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Selbstbestimmungsgesetz: Union und SPD vereinbaren Evaluation im Koalitionsvertrag für 2026

Der schwarz-rote Koalitionsvertrag enttäuscht viele queere AktivistInnen, da ihre Themen kaum vorkommen. Besonders die für 2026 angesetzte Evaluation des erst 2024 beschlossenen Selbstbestimmungsgesetzes hinsichtlich Frauen- und Kinderschutzes entrüstet viele. Doch bereits innerhalb der ersten sechs Monate nach Inkrafttreten wird deutlich, dass das Primat des selbstbestimmten Geschlechtes eine Gefahr für Frauen darstellt.

Blick auf Deutschlandflagge durch verregnetes Fenster, Symboldbild zu Artikel "Union und SPD vereinbaren Evaluation von Selbstbestimmungsgesetz"
Trübe Aussichten für Queers in Deutschland? Das ist zumindest die Stimmungslage, nachdem die Inhalte des Koalitionsvertrags zwischen CDU/CSU und SPD bekannt geworden sind (Foto von Francesco Luca Labianca auf Unsplash).

13. April 2025 | Till Randolf Amelung

Seit vergangenem Mittwochnachmittag steht fest: Nach mühsamen Verhandlungen konnten sich CDU/CSU und SPD auf einen Koalitionsvertrag einigen. Anfang Mai soll CDU-Chef Friedrich Merz zum Kanzler gewählt werden und die neue schwarz-rote Bundesregierung ihre Arbeit aufnehmen. Zuvor muss noch die Mehrheit der SPD-Mitglieder diesem Koalitionsvertrag zustimmen.

Vielen queeren AktivistInnen missfällt das Ergebnis allerdings, da sich ihre Forderungen kaum im Koalitionsvertrag wiederfinden – und das ist kurios, weil es seit den Bundestagswahlen offensichtlich keine politische Mehrheit dafür gibt, zumal CDU/CSU mit dem beschlossenen Selbstbestimmungsgesetz nie einverstanden waren. Besonders wichtig war vielen Queeraktivistas eine Erweiterung von Artikel 3 des Grundgesetzes um „Sexuelle Identität“ oder auch die Reform des Abstammungsrechts, um insbesondere lesbischen Paaren die Anerkennung der Elternschaft der nicht-leiblichen Mutter zu erleichtern.

Fundamentale Differenzen in gesellschaftspolitischen Fragen

Bereits während der Verhandlungen in mehreren Arbeitsgruppen wurde deutlich, dass es gesellschaftspolitisch fundamentale Differenzen zwischen Union und SPD gibt – insbesondere bei Themen wie Schwangerschaftsabbruch, Prostitution, Abstammungsrecht, aber auch dem Selbstbestimmungsgesetz. Letzteres möchte die Union grundsätzlich überarbeiten, da mit diesem Gesetz seit November 2024 ohne jeden Nachweis über die Plausibilität Vornamen und Geschlechtseintrag auf dem Standesamt geändert werden können. Gerade TransaktivistInnen haben für dieses Gesetz gekämpft. Doch die strittigen Themen wurden im Koalitionsvertrag so weit entschärft, dass die Parteispitzen überhaupt ihre Unterschrift daruntersetzen können.

Alfonso Pantisano, der Queerbeauftragte des Berliner Senats und SPD-Mitglied, kündigte trotzdem auf seinem privaten Instagram-Account an, dem Koalitionsvertrag seine Zustimmung zu verweigern. Für die SPDqueer, der Interessensvertretung für LGBTIQ innerhalb der Sozialdemokraten, ist das Ergebnis zwar auch enttäuschend, aber in den Verhandlungen seien zumindest Rückschritte verhindert worden: „Vielmehr galt es in den Sondierungsgesprächen und bei den Koalitionsverhandlungen keine Rückschritte zuzulassen und Erreichtes zu bewahren. Gerade mit Blick auf das Selbstbestimmungsgesetz ist das vorerst zumindest gelungen, das Gesetz wird nicht unmittelbar noch einmal Gegenstand eines Gesetzgebungsverfahrens.“

Selbstbestimmungsgesetz wird 2026 evaluiert

Im Koalitionsvertrag steht nun zum Selbstbestimmungsgesetz:

„Wir werden das Gesetz über die Selbstbestimmung im Bezug auf den Geschlechtseintrag bis spätestens 31. Juli 2026 evaluieren. Wir wahren die Rechte von trans- und intersexuellen Personen. Bei der Evaluation legen wir einen besonderen Fokus auf die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, die Fristsetzungen zum Wechsel des Geschlechtseintrags sowie den wirksamen Schutz von Frauen. Im Rahmen der Namensrechtsreform nehmen wir die bessere Nachverfolgbarkeit aller Personen bei berechtigtem öffentlichem Interesse bei Namensänderungen in den Blick.“

Damit sind sowohl GegnerInnern als auch VerteidigerInnen dieses Gesetzes unzufrieden. Die Initiative Geschlecht zählt appelliert an die Union:

„Stehen Sie zu Ihrem Wort. Schaffen Sie das Selbstbestimmungsgesetz ab und setzen Sie durch, dass die Rechtskategorie Geschlecht wieder auf den körperlichen Merkmalen beruht, die weiblich von männlich unterscheiden. Hören Sie auf, die Verachtung der Ampelparteien für die Frauen- und Kinderrechte zu kopieren.“

Die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (dgti) hingegen, ist empört:

„Im Koalitionsvertrag wird sichtbar, dass die z.T. aus den USA geförderten Hass- und Desinformationskampagnen den Diskurs soweit vergiftet haben, dass man für Kinder und Jugendliche eine imaginäre Gefahr sieht, um die man sich kümmern müsse.  Märchen von „sozialer Ansteckung“ durch Trans* unter Jugendlichen und antifeministische Erzählungen von trans* Frauen, deren Lieblingsbeschäftigung es sei, cis Frauen zu übervorteilen oder sie zu belästigen haben versteckt hinter scheinbar harmlosen Sätzen zum Frauenschutz in den Koalitionsvertrag Einzug gehalten.“

Geschlechtsänderung ohne Nachweis

Kern des Konflikts ist, dass das Selbstbestimmungsgesetz die Änderungen des bei der Geburt dokumentierten Geschlechts und Vornamens ohne Nachweis über eine Trans- oder Intergeschlechtlichkeit vorsieht. Mit einer Dreimonatsfrist zwischen Anmeldung und Wirksamwerdung können volljährige BürgerInnen auf dem für sie zuständigen Standesamt Vornamen und Geschlechtseintrag per einfacher Willenserklärung mittels Formulars und einer Verwaltungsgebühr ändern. Minderjährige benötigen hierfür zwar noch die Zustimmung ihrer Eltern, aber auch hier erfolgt keine sorgfältige Prüfung von außen, ob dieser Schritt dem Kindeswohl dienlich ist.

Von Beginn an wiegelten TransaktivistInnen ab, dass es Missbrauchsrisiken und Sicherheitsmängel bei Minderjährigen durch dieses Gesetz geben würde, obwohl im Ausland bereits zum Zeitpunkt der Erarbeitung des deutschen Gesetzes wieder Abstand vom gender-affirmativen Vorgehen bei Unter-18-Jährigen genommen wurde und weiterhin wird. Die Kritik der Union am Selbstbestimmungsgesetz ist daher berechtigt und spätestens eine Evaluation sollte dies offenlegen. Zur Frage des Frauenschutzes gibt es bereits nach nicht mal einem halben Jahr nach Inkrafttreten Fälle, die daran zweifeln lassen, wie sicher das Selbstbestimmungsparadigma in Bezug auf Geschlecht ist.

Spielwiese für Trolle und Kriminelle?

Zu Jahresanfang machte mit Marla-Svenja Liebich eine Person aus der rechtsextremistischen Szene Schlagzeilen, weil diese über das Selbstbestimmungsgesetz Vornamen und Geschlechtseintrag von „männlich“ zu „weiblich“ ändern ließ und die Rechtsabteilungen mehrerer Medienhäuser beschäftigte – wegen mutmaßlicher Verstöße gegen das Offenbarungsverbot durch die Nennung des alten Namens und Geschlechtseintrags. Zu klären ist außerdem noch, ob eine drohende Haftstrafe im Frauen- oder im Männervollzug verbüßt werden müsste.

Dabei gibt es von mehreren Seiten erhebliche Zweifel daran, ob bei Liebich wirklich ein tiefempfundenes Unbehagen mit dem biologischen Geschlecht vorliegt, denn Liebich scheint keine weiteren ersichtlichen Schritte zu unternehmen, um plausibel als Frau zu erscheinen. Dies ist mit dem Selbstbestimmungsgesetz aber nicht mehr erforderlich und gar der Kerngedanke des Gesetzes.  Denn jedwede Überprüfung der Plausibilität einer Änderung des amtlich dokumentierten Geschlechts wurde und wird von Transaktivistas nebst Verbündeten als fundamentale Verletzung ihrer Menschenrechte dramatisiert.

Doch Liebich ist nicht der einzige Fall, der daran Zweifel aufkommen lässt, ob es vom Gesetzgeber eine gute Idee war, ohne sorgfältige Rechtsfolgenabschätzung die Kategorie „Geschlecht“ vollkommen der Eigendefinition zu überlassen. IQN berichtete schon im vergangenen Dezember über den AfD-nahen rechten Aktivisten Johannes Normann, der auf X offen zugab, das Selbstbestimmungsgesetz nutzen zu wollen, um den Staat zu ärgern.  Die Welt stellte zudem im Februar Personen vor, die sich durch die Nutzung des Gesetzes erhoffen, in Datenbanken zum unbeschriebenen Blatt zu werden und zum Beispiel wieder Netflix-Abos abschließen können, was unter dem bisherigen Namen mangels Bonität nicht möglich war.

Problemfeld Gefängnis

Doch das Prinzip des selbstbestimmten Geschlechts wird nicht nur über rechtskräftig vollzogene Änderungen von Vornamen und Geschlechtseintrag angewendet, sondern ist das transaktivistisch gewünschte Grundprinzip im Umgang mit jeder Person, die sagt, sie sei trans. Daher gibt es schon seit einigen Jahren Fälle, in denen biologisch männliche Personen trotz des gesetzlich festgeschriebenen Trennungsgebots in Frauengefängnisse verlegt werden, wenn sie sich als trans bezeichnen.

Im Januar 2025 berichtete die Welt über eine Anfrage an alle Justizministerien der Bundesländer, dass es in Frauenvollzugsanstalten bereits zu nachweislich fünf Übergriffen von sogenannten Transfrauen gekommen sei, die zusammen mit biologischen Frauen inhaftiert sind. Vier dieser Übergriffe seien sexuell motiviert gewesen. 2023 verübte eine biologisch männliche Person als Transfrau im Frauengefängnis sexuelle Übergriffe gegen das Wachpersonal und Mitgefangene. Die Person wurde dorthin verlegt, obwohl sie keine operative Geschlechtsangleichung vornehmen ließ. Erst, als sich verzweifelte Frauen an die Medien wandten, wurde die Person in eine Männer-JVA verlegt.

Ein jüngst bekannt gewordener Fall ist der von Hilton Henrico G., ein abgelehnter Asylbewerber aus Südafrika, der beschuldigt wird, im Mai 2024 einen Wachmann in seiner Potsdamer Unterkunft erstochen zu haben. Nach seiner Festnahme soll er laut Welt mehrere Monate in einer Frauenhaftanstalt untergebracht gewesen sein, obwohl weder eine Namens- und Personenstandsänderung noch eine körperliche Geschlechtsangleichung vorlag. In eine Männer-JVA wurde er erst verlegt, nachdem Mitgefangene ihn wegen mehrfacher Morddrohungen anzeigten. Sogar ein im Strafverfahren hinzugezogener Gutachter bezweifelte, dass bei G. tatsächlich eine Transsexualität vorliegt, aber das Prinzip der selbstbestimmten Geschlechtsidentität akzeptiert keine solche Befunde.

Bereits diese bekanntgewordenen Fälle zeigen, dass das Selbstbestimmungsparadigma in bestimmten Situationen eine Gefahr für Frauen darstellt und eine gründliche Evaluation dringend geboten ist. Es ist zumindest ein kleiner Erfolg für die Vernunft, dass die Union diese Evaluation für 2026 in den Koalitionsvertrag schreiben lassen konnte. Das Gezeter der TransaktivistInnen und ihrer Verbündeten lässt vermuten, dass sie wissen, welch dünne Suppe sie mit dem Selbstbestimmungsgesetz zusammengerührt haben. Zu Recht muss man dann eine Evaluation fürchten.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


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Union will Self ID abschaffen – und das ist richtig!

In den Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und der SPD gibt es auch Dissens um das Selbstbestimmungsgesetz, denn die Union will dieses wieder ändern. Queere AktivistInnen reagieren mit scharfem Widerspruch in teils schriller Tonlage.

Das Foto zeigt den Deutschen Bundestag in Berlin. Dort verhandeln CDU/CSU über die neue Regierungskoalition. Doch da die Union das Selbstbestimmungsgesetz abschaffen will, gibt es Streit.
Nach den Bundestagswahlen im Februar laufen die Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD (Foto von Tim Hüfner auf Unsplash).

30. März 2025| Till Randolf Amelung

Die Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und der SPD stocken, es gibt in mehreren Bereichen Differenzen. Im Feld der Familienpolitik betrifft es einem Bericht des Tagesspiegel zufolge vor allem die Themen Prostitution, Schwangerschaftsabbruch, aber auch queerpolitische Felder wie das Selbstbestimmungsgesetz und die Reform des Abstammungsrechts.

Die Union will das erst im November 2024 in Kraft getretene Selbstbestimmungsgesetz in der jetzigen Form, also mit der voraussetzungslosen Änderung von Vornamen und Geschlechtseintrag nicht beibehalten. Ausschlaggebend hierfür sind vor allem Bedenken hinsichtlich der Sicherheit und des Jugendschutzes.

Diese Bedenken sind berechtigt, wie zum Beispiel der medial breit aufgegriffene Fall von Marla-Svenja Liebich, einer aktivistischen Person aus dem rechtsextremistischen Milieu in Sachsen-Anhalt, verdeutlicht. Ein Fall der zeigt, was passiert, wenn überhaupt nicht mehr geprüft wird, ob die Motivation zur Änderung von Vornamen und Geschlechtseintrag zur Absicht des Gesetzes passt. Hier ist krass belegt, dass das Tor für Missbrauch der geschlechtsidentitären Frage weit geöffnet war und weiterhin bleibt. Auch biologische Frauen, die ihre Schutzräume auf der Definitionsbasis des biologischen Geschlechts gefährdet sehen, sind von dem Gesetz betroffen: Das will die Union ändern, die SPD hingegen nicht.

Änderung des Selbstbestimmungsgesetz unerwünscht

Doch im queeren Aktivismus will man von solchen Bedenken nichts wissen und betrachtet die Position der CDU/CSU als Angriff. Die Bundestagsabgeordnete und Transfrau Nyke Slawik (Bündnis 90/Die Grünen) schreibt auf Instagram: „Herr Merz, wenn Sie queere Menschen entrechten wollen, dann erwarten Sie unseren Widerstand.“ Und, in der Pose des Dramatischen verharrend: „Queeres Leben ist nicht verhandelbar.“  Nora Eckert kommentiert im Community-Medium queer.de, dass sie die Gegenpositionen der Union zu allen zentralen queerpolitischen Themen nicht überrasche, „denn mit der Union war schon in der Vergangenheit kein Blumentopf in queerpolitischen Fragen zu gewinnen“.

Die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (dgti) wirft der CDU/CSU in einem Facebook-Beitrag „Populismus“ vor und dass sie sich ihre Positionen in den USA abgeschaut hätten. Doch es geht noch entgrenzter im Ton, denn die dgti setzt die Union mit der Alternative für Deutschland (AfD) gleich: „Die Strategen der Union benutzen die ‚Brandmauer‘ zur AfD nur als Propagandatrick. ‚Seht her, wir sind nicht so wie die‘, doch viele dort sind es, vor allem, wenn es um geschlechtliche Vielfalt geht.“

Union ist nicht gegen Trans

Dabei ist das Gegenteil wahr, denn CDU/CSU stellen Trans nicht als solches in Frage, sondern dass eine Kategorie wie Geschlecht gänzlich der Selbstdefinition überlassen werden soll. Ebenso mahnen UnionspolitikerInnen berechtigterweise zur Vorsicht, wenn es um Geschlechtswechsel bei Kindern und Jugendlichen geht. Die Entwicklungen im Ausland, insbesondere dass mehrere europäische Länder ihren Kurs wieder weg von „Affirmation“, also vorbehaltoser Anerkennung der Geschlechtsidentität bewegen, geben der Union Recht. Kurz gesagt fielen bei dem gender-affirmativen Modell, also ein zügiges Bestätigen der Äußerungen über die Geschlechtsidentität, Kinder und Jugendliche durchs Raster, bei denen Geschlechtsdysphorie Symptom, aber nicht die Ursache für ihr Leiden war. Mit Pubertätsblockern, gegengeschlechtlichen Hormonen sowie auch rechtlichen Änderungen bekamen sie zu schnell Maßnahmen, die sie nicht gebraucht hätten.

Vielmehr muss gefragt werden, warum man in Ländern wie Großbritannien, Finnland, Dänemark oder Schweden in Bezug auf Minderjährige wieder vorsichtiger wird. Stattdessen bemühen queere AktivistInnen in und außerhalb des Bundestags eine Katastrophen-Stimmung, die in AfD-Vergleiche münden. Dabei wäre die Energie besser darin investiert, sich einmal gründlich zu informieren und nicht nur an den ideologisch genehmen Dingen zu kleben. Es ist nur richtig, ein schlecht gemachtes Gesetz da zu korrigieren, wo es notwendig ist.

Gerade das Selbstbestimmungsgesetz ist ein Risiko mit Ansage gewesen. Eine nachhaltige Ablöse des Transsexuellengesetzes (TSG) hätte erfordert, seriöse Verhandlungen mit CDU/CSU zu führen und vor allem auf die offenkundigen Schwachstellen einzugehen. Dann wäre keine Diskussion um das Ergebnis entstanden, wie jetzt beim Selbstbestimmungsgesetz. Doch AktivistInnen, darunter auch der nun ehemalige Queerbeauftragte Sven Lehmann (Bündnis 90/ Die Grünen), wollten sich ihre Ideologie nicht von der Wirklichkeit ruinieren lassen und haben daher lieber ein handwerklich schlecht gemachtes und angreifbares Gesetz fabriziert. Wer wirklich etwas für Queers im Allgemeinen und Trans im Speziellen tun will, sollte darauf achten, solide und im Einklang mit der Evidenz zu arbeiten. „Pfusch am Bau“ ist nur tatsächliches Futter für feindlich gesinnte PopulistInnen wie die AfD.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


CSD-Verbot in Ungarn: Wahlkampf mit Kulturkampf

Mit der Berufung auf „Kinderschutz” hat Ungarns Regierung  Pride-Paraden per Gesetz im Land verboten. Betroffen ist vor allem die Parade in der Hauptstadt Budapest. Doch das neue Gesetz zielt eigentlich auf Viktor Orbáns Herausforderer Péter Magyar von der Oppositionspartei Tisza. LGBT-Rechte sind für Orbán und seine Fidesz-Partei in erster Linie Mittel zum Zweck des Machterhalts.

Pride-Parade 2023 in Ungarns Hauptstadt Budapest: Teilnehmer von hinten fotografiert, kleine Regenbogenfähnchen werden gezeigt, Seifenblasen schweben über den Menschen.
Pride-Parade 2023 in der ungarischen Hauptstadt Budapest. Das soll es nach dem Willen von Regierungschef Viktor Orbán und seiner Fidesz-Partei zukünftig nicht mehr geben (Foto von Christian Lue auf Unsplash).

28. März 2025 | Eszter Kováts

“Die Organisatoren der Pride sollten sich nicht um die Vorbereitung des diesjährigen Umzugs bemühen. Es wäre verschwendete Zeit und Geld“, kündigte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán seine Drohung am 22. Februar 2025 in seiner Rede an, die er üblicherweise als Rück- und Ausblick im Februar eines jeden Jahres hält. Knapp einen Monat später war es so weit: Am 17. März wurde der Gesetzesvorschlag im Parlament  eingereicht und am Folgetag als Gesetz verabschiedet.  Laut diesem Gesetz darf die Pride-Parade in Budapest mit Berufung auf Kinderschutz nicht wieder stattfinden.

Business as usual in Orbáns Ungarn seit 15 Jahren. Das gilt nicht nur dafür, dass das Parlament, in dem die Regierungskoalition Fidesz-KDNP Zweidrittelmehrheit hat, kein Ort der Auseinandersetzung und der Aushandlung ist, und Gesetze inkl. Grundgesetzänderungen üblicherweise ohne Beratung blitzschnell durchgewinkt werden. Das gilt auch dafür, dass der Regierung für den Machterhalt nichts zu teuer ist. Bei der Bemühung, den bisher aussichtsreichsten Herausforderer von Orbán, Péter Magyar und seine Partei Tisza, in eine Falle zu locken, bzw. ihre Wähler zu spalten, sind die sexuellen Minderheiten und ihre Verbündeten der Regierung nicht – wie Der Spiegel formuliert – „Dorn im Auge”, sondern Kollateralschaden.

Das Gesetz

Das Versammlungsgesetz wurde dahin gehend ergänzt, dass Versammlungen das Kinderschutzgesetz nicht verletzen dürfen. Dieses 2021 verabschiedete Gesetz verbietet jegliche Darstellung von Homosexualität und „Abweichen der Identität vom Geburtsgeschlecht” für Minderjährige.

Mit der jetzigen Gesetzesänderung wurde faktisch die seit 30 Jahren stattfindende Pride-Parade verboten. Wenn  sie dennoch stattfindet – und das wird sie wohl –, gilt die Teilnahme als Ordnungswidrigkeit.  Teilnehmer können  mit einer Geldbuße in Höhe von bis 200 000 HUF bestraft werden. Das sind umgerechnet 500 Euro – Nettodurchschnittsgehalt in Ungarn ist derzeit 1 200 Euro. Die Identifizierung der Teilnehmer würde  mit einer Gesichtserkennungssoftware  vorgenommen werden –  ein öffentlich viel zu wenig diskutierter Aspekt des Gesetzes. Kritiker befürchten einen massiven Schritt Richtung Überwachungsstaat.

Wie auch immer man zum Inhalt der Pride steht: das Verbot ist eine ernsthafte Einschränkung der Versammlungsfreiheit – eines wichtigen Grundrechts in Demokratien. Gerade deshalb äußern sich auch zum Beispiel christlich-konservative Intellektuelle, anti-woke Liberale, genderkritische Feministinnen kritisch, die sonst keine Fans der Pride sind.

Wenn Ansichten, dass die Erde flach sei, verbreitet werden können, dann wohl auch, dass es viele Geschlechter gebe oder Geschlecht keine biologische Grundlage habe und nur das Individuum darüber Auskunft geben könne. Versammlungsrecht gilt unabhängig vom Inhalt, so schwachsinnig er uns auch erscheinen mag. In den letzten 15 Jahren war die Einsicht in Ungarn vielleicht noch nie so stark wie jetzt: Betroffen ist nicht mehr nur die LGBT-Community; eine andere Gruppe könnte als nächste dran sein, in ihren Versammlungsrechten eingeschränkt zu werden.

Gesetz will Opposition herausfordern

Weitere Einschränkungen des Versammlungsrechts sind um so bedrohlicher, da das Orbán-Regime seit seinem Bestehen jetzt zum ersten Mal befürchten muss, die Macht bei den Parlamentswahlen 2026 zu verlieren. Und das ist auch der Kontext und der Zielhorizont des Gesetzes – nicht LGBT-Rechte, die sind nur das Mittel zum Zweck, wenn auch grausame.

In einem Jahr finden in Ungarn Parlamentswahlen statt, und Orbán hat letztlich einen ernstzunehmenden Herausforderer bekommen: Péter Magyar, den Ex-Mann der früheren Fidesz-Justizministerin Judit Varga.  Bis vor einem Jahr war er für die breite Öffentlichkeit in Ungarn unbekannt. Dann kam der sogenannte Begnadigungsskandal, in dem Präsidentin Katalin Novák einen ehemaligen stellvertretenden Leiter eines Kinderheims trotz Beihilfe zu Kindesmissbrauch begnadigte und die damalige Justizministerin Varga diese Begnadigung gegenzeichnete.

Als der Fall von einem Journalisten aufgedeckt wurde, mussten die Präsidentin und Magyars Ex-Frau, damals bereits keine Justizministerin mehr, sondern EP-Spitzenkandidatin für Fidesz, zurücktreten. Dann ist Magyar auf die Bühne getreten und seitdem wie ein Komet aufgestiegen. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament haben er und seine Partei Tisza – der Name verweist sowohl auf Ungarns zweitgrößten Fluss Theiß  und auf die Abkürzung für ’Respekt und Freiheit’ – fast 30 Prozent und 7 von den 21 Sitzen geholt. Nun stehen sie nach den Wahlumfragen um 40 Prozent mit Fidesz auf gleicher Höhe – etwas, was Ungarn seit 15 Jahren nicht gesehen hat.

Der 44-jährige mit Gym-CEO-Vibe hat fast alle anderen Oppositionsparteien verdrängt, trotzöffentlich dokumentierter Beweise darüber, wie herablassend er mit Frauen, Angestellten und Medien redet. Zur Illustration: Im ungarischen Parlament sind gerade fünf (!) Parteien vertreten, die laut Umfragen über 0-1% gesellschaftlicher Unterstützung verfügen.  Magyar kommt von rechts, sogar von Fidesz. Er bemüht nationale Symbolik und eine Rhetorik, die Menschen mit unterschiedlichen ideologischen Auffassungen anzusprechen versucht. Und hier kommt Fidesz’ Pride-Verbot zum Einsatz. Die Regierungspartei greift zu  Mitteln, die sie routinemäßig erfolgreich anwendet: Divide (durch Kulturkampf) et impera

Magyar ist damit unter Druck gesetzt: wenn er den Liberalen gegenüber keine Geste macht, und sie entfremdet, könnten sie sich einer der verbliebenen Kleinparteien zuwenden: der sozialdemokratischen DK, der Witzpartei Zweischwänzige Hundepartei oder der liberalen Momentum. Wenn er aber diese Einschränkung des Versammlungsrechts thematisiert – was Fidesz ja von ihm will, weil sie ihn dann der woken Identitätspolitik und Genderideologie bezichtigen könnten –,  dann würde erdamit potenzielle konservative Wähler entfremden. Diese Konservativen lehnen nicht die Existenz der Homosexuellen ab – die Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert Homosexualität – sondern wofür Pride heutzutage möglicherweise  steht: westliche und großstädtische Arroganz und Ignoranz, selbstgerechte Moralisierung , Infragstellung der biologischen Wirklichkeit der zwei Geschlechter. Ihnen sind diese Entwicklungen tatsächlich Dorn im Auge.

Es bleibt abzuwarten, ob Magyar den Druck aushält und bei seinen Themen (Lebensunterhaltskosten, Inflation, Gesundheitswesen, Bildung, marode öffentliche Infrastruktur) bleibt, bzw. ob die liberalen Wähler (vom Gesetz unmittelbar Betroffene und ihre Verbündete) so ein identitätsstiftendes Thema fallen lassen, zugunsten ihrer höheren Priorität, nämlich Orbán abzuwählen.

Symbolpolitik als Selbstzweck

Orbán und seine Fidesz-Partei spielen bewusst auf den Triggerpunkten der Budapester Liberalen und der westlichen Eliten, weil ihnen das politisch nutzt. Erinnern wir uns an 2021: Im Juni hat damals Fidesz aus ähnlichen Gründen – Provokation und Spaltung der vereinten Opposition – die Verschärfung des Pädophiliegesetzes mit Verbote der Darstellung von Homosexualität und Transgender-Identitäten für Minderjährige im Schulunterricht und Medien verbunden.

Das Resultat: Schriller Aufschrei, Putin-Vergleiche  und eine wochenlange politische Aktion in Deutschland, um zu erreichen, das  Münchner Fußballstadion  während dem EM-Spiel Deutschland gegen Ungarn „aus Solidarität mit LGBT-Menschen in Ungarn” in Regenbogenfarben beleuchten zu lassen. Eigentlich stellte die Gleichsetzung von ungarischen Spielern und Fans mit der ungarischer Regierung eine Demütigung dar, in jedem Fall war es zumindest eine leere, selbstgerechte Geste.

Solche moralisierenden Haltungsübungen , die politisch nichts erreichen, d.h. weder die Macht unter Druck setzen, noch Bystanders überzeugen, sondern nur weiter polarisieren, sind den ungarischen Liberalen auch nicht fremd. Momentan läuft ein in den sozialen Medien ausgefochtener Streit zwischen verschiedenen liberalen Oppositionspolitikern in Budapest, ob das Aufhängen der Regenbogenflagge in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Regenbogen-Beleuchtung einer Kirche ein leeres und kontraproduktives, oder eben ein wichtiges politisches Mittel ist, um Solidarität zu zeigen. Dieses Zeichen mag manchen Betroffenen als Anerkennung rüberkommen, aber Außenstehende wird es nicht überzeugen – und Fidesz wird es wohl nicht unter Druck setzen.

Ebenfalls auf ihre enge kleine Klientel gerichtet sind die Aktionen der urban-gebildeten Partei Momentum, die nun versuchen, durch die Politisierung dieses Themas wie ein Phönix aus der Asche aufzuerstehen. Deshalb machten sie im Parlament während des Verabschiedens des Gesetzes eine spektakuläre Aktion mit Rauchkerzen und scheuen sich seitdem nicht vor medienwirksamen Aktionen.  Die Aufmerksamkeitsökonomie ist damit bedient, und es könnte einige Magyar-Anhänger verunsichern, die darüber enttäuscht sind, dass seine Partei dieses Einschneiden eines wichtigen Grundrechts nicht aufgreift. Aber es ist Widerstand um des Widerstands willen, ohne politische Strategie, ohne eine Vorstellung über politische Veränderung. Wozu das führt, haben die Ungarn 2014, 2018 und 2022 bei den massiven Wiederwahlen der Fidesz erlebt.

Was nun?

In den nächsten Tagen wird noch etwas in Gesetz gegossen: eine Grundgesetzänderung, die festschreibt, dass es zwei Geschlechter gibt – Mann und Frau. Die Ähnlichkeit mit Trumps Dekret ist offensichtlich. Seit 2020 steht bereits  im Grundgesetz: „Die Mutter ist eine Frau, der Vater ist ein Mann.” Manche haben  diese Änderung als homophob, andere als transphob bezeichnet. Nun findet eine weitere biologische Tatsache Eingang ins Grundgesetz – zur Provokation, Spaltung, aber auch als vorbeugende Gesetzgebung, angesichts der Entwicklungen im Westen.

LGBT-Rechte sind ein Spielball in der Politik der ungarischen Regierung, um Macht zu behalten. Ihre anti-LGBT-Botschaften können in der breiten ungarischen Öffentlichkeit aber deshalb verfangen, weil sie auf manche problematische Entwicklungen im Westen reagieren.

„Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden”, so das berühmte Zitat von Rosa Luxemburg. Das ist etwas, was Orbán nicht vertritt, aber oft auch nicht die eifrigsten Befürworter der LGBT-Rechte im Westen („wenn du nicht mit uns bist, dann bist du mit Putin, AfD, Orbán”). Den Wert der Freiheit sollten die Linken für sich auch wieder entdecken – sonst haben es  Orbán und Co. es leichter, diese wegzunehmen. 


Eszter Kováts, Ph.D., ist Politikwissenschaftlerin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Feministische Theorie, Gleichstellungspolitiken, Anti-Gender-Bewegungen, illiberale Rechte und illiberale Linke in Europa. Sie studierte Germanistik, Romanistik, Soziologie und Politikwissenschaft in Pécs, Szeged und Budapest und promovierte 2022 an der ELTE-Universität Budapest in Politikwissenschaft. Ihre Dissertation wurde unter dem Titel „Feindbild, Hegemonie und Reflexion – Bedeutung und Funktion des Genderbegriffs in der Politik des Orbán-Regimes und der deutschen radikalen Rechten“ veröffentlicht und 2022 mit dem Kolnai-Preis der Ungarischen Gesellschaft für Politikwissenschaft für das beste politikwissenschaftliche Buch des Jahres ausgezeichnet.

Seit Februar 2023 ist sie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien tätig, seit September 2024 ist sie dort Marie Skodłowska-Curie Postdoctoral Fellow im Forschungsbereich Politische Theorie. Von ihr ist im Jahrbuch Sexualitäten 2021 der Essay „Gender als Feindbild der Rechten und die Probleme mit einer progressiven Einheitsfront” erschienen, der online kostenfrei auf der IQN-Website zur Verfügung gestellt wird.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Identitätspolitik: Kulturkampf um das biologische Geschlecht

Die Definition von biologischem Geschlecht ist als Teil linker und rechter Identitätspolitik umkämpft. Nachdem US-Präsident Donald Trump per Dekret in staatlichen Dokumenten nur noch das biologische Geschlecht gelten lässt, meldet sich nun die Philosophin Judith Butler zu Wort – und zeigt, wie sehr sie selbst Teil des Problems ist.

Granatapfel und Mandelkerne symbolisieren die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Symbolbild zum Artikel "Identitätspolitik: Kulturkampf um das biologische Geschlecht".
Eizelle und Spermien – die Gameten, die nach wie vor die beiden biologischen Geschlechter definieren (Foto von Deon Black auf Unsplash).

26. März 2025 | Till Randolf Amelung

Eines der ersten Dekrete von US-Präsident Donald Trump, mit dem er queerer Identitätspolitik den Kampf ansagte, trug den Titel „Defending Women from Gender Ideology Extremism and Restoring Biological Truth to the Federal Government“ (zu Deutsch etwa: Verteidigung der Frauen vor dem Extremismus der Gender-Ideologie und Wiederherstellung der biologischen Wahrheit in der Bundesregierung). Die wichtigsten Inhalte dieses Dekrets sind:  Die landesweite Festlegung, dass es biologisch nur zwei Geschlechter gibt – männlich und weiblich. Staatliche Dokumente wie Pässe und Personalakten sollen allein das biologische Geschlecht und nicht die selbst eingeschätzte Geschlechtsidentität widerspiegeln. Im Kern führt es dazu, dass Transpersonen ihren Geschlechtseintrag nicht mehr ändern lassen können, außerdem wurde der Marker „X“ für nicht-binäre Geschlechtsidentitäten wieder abgeschafft.

Judith Butler gegen Trumps Dekrete

Nun hat sich dazu auch Judith Butler, die Grande Dame der Queer Theory, im London Review of Books geäußert und verurteilt Trumps Dekret scharf, denn wo von „Genderideologie“ die Rede ist, meint man auch Butlers Theorien von der sozialen Konstruiertheit des Geschlechts, die sie in ihrer berühmtesten Schrift „Gender Trouble“ darlegte.  Butler will in ihrem aktuellen Text erklären, weshalb die biologische Definition von Geschlecht unzureichend sei. Hierbei kommt sie nicht über die Nennung umstrittener Thesen hinaus und demonstriert unfreiwillig, wie ihre ideologische Seite selbst Teil des Problems ist.

Im Kern bezieht sich die biologische Definition von Geschlecht beim Menschen auf die Gameten (Keimzellen zur Fortpflanzung). Das heißt, kleine und bewegliche Keimzellen (Spermien) sind biologisch männlich und die größeren, unbeweglichen Eizellen definieren das biologisch weibliche Geschlecht. Wenn Trump also per Dekret auf die biologische Definition von Geschlecht abstellt, ist diese gemeint.

Butler kritisiert daran:

„Es gibt zwei wesentliche Probleme bei der Verwendung von Gameten zur Definition des Geschlechts. Erstens überprüft niemand die Gameten zum Zeitpunkt der Geschlechtszuweisung, geschweige denn bei der Empfängnis (wenn sie noch nicht existieren). Sie sind nicht beobachtbar. Die Geschlechtszuweisung auf Gameten zu stützen, bedeutet daher, sich auf eine nicht wahrnehmbare Dimension des Geschlechts zu verlassen, wenn die Beobachtung die Hauptmethode für die Geschlechtszuweisung bleibt. Zweitens sind sich die meisten Biologen einig, dass weder der biologische Determinismus noch der biologische Reduktionismus eine angemessene Erklärung für die Geschlechtsbestimmung und -entwicklung liefern.

Wie die Society for the Study of Evolution in einem am 5. Februar veröffentlichten Brief erklärt, definiert der ‚wissenschaftliche Konsens‘ das Geschlecht beim Menschen als ein ‚biologisches Konstrukt, das auf einer Kombination von Chromosomen, Hormonhaushalt und der daraus resultierenden Ausprägung von Keimdrüsen, äußeren Genitalien und sekundären Geschlechtsmerkmalen beruht. Es gibt Variationen in all diesen biologischen Merkmalen, die das Geschlecht ausmachen.‘ Sie erinnern uns daran, dass ‚Geschlecht und Gender aus dem Zusammenspiel von Genetik und Umwelt resultieren.

Diese Vielfalt ist ein Kennzeichen biologischer Arten, einschließlich des Menschen.‘ Wechselwirkung, Interaktion und Ko-Konstruktion sind Konzepte, die in den Biowissenschaften weit verbreitet sind. Und im Gegenzug haben die Biowissenschaften einen beträchtlichen Beitrag zur Gender-Theorie geleistet, in der Anne Fausto-Sterling beispielsweise seit langem argumentiert, dass die Biologie mit kulturellen und historischen Prozessen interagiert, um unterschiedliche Arten der Benennung und des Lebens von Gender hervorzubringen.“

Gameten definieren weiterhin biologisches Geschlecht

Die Pharmazeutin Dr. Antje Jelinek, Autorin eines in seiner Ausführlichkeit sehr lesenswerten Fachartikels zur Relevanz des biologischen Geschlechts in der Medizin, bemerkte gegenüber IQN zu Butlers Definitionsproblematik:

„Die Gameten-Definition ist die eindeutigste. Es geht aber immer darum, dass der Organismus auf deren Produktion ‚angelegt‘ ist. Dass funktionierende Gameten entstehen, ist nicht ausschlaggebend für die Definition. Womit sie hier versucht zu verwirren: Zur Befruchtung kann niemals jemand prüfen, welches Geschlecht entsteht, aber es entsteht eben in diesem Vorgang. Das ist meines Erachtens alles Ablenkung und tut nichts zur Sache. Und ja: Beobachtung ist allein ausschlaggebend für das biologische Geschlecht, es wird objektiv feststellt und ist biologisch festgelegt und eben keine individuelle Wahrnehmung.“

Der von Butler erwähnte Brief einer wissenschaftlichen Fachgesellschaft als Beleg für ihre Argumentation soll suggerieren, dass diese auf breiten wissenschaftlichen Konsens beruht. Doch der US-amerikanische Evolutionsbiologe Jerry Coyne widerspricht und veröffentlicht einen Offenen Brief einer Fachkollegin, der von ihm und weiteren BiologInnen unterzeichnet wurde.

Darin heißt es:

„Wir sehen das Geschlecht jedoch nicht als ‚Konstrukt‘ an, und wir sind der Meinung, dass andere erwähnte humanspezifische Merkmale wie ‚gelebte Erfahrungen‘ oder ‚[phänotypische] Variationen entlang des Kontinuums von männlich bis weiblich‘ nichts mit der biologischen Definition von Geschlecht zu tun haben. […] Die universelle biologische Definition des Geschlechts ist die Größe der Gameten.

Wenn Sie und die Unterzeichner unseres Schreibens in diesen Punkten nicht übereinstimmen, dann war es falsch von den drei Gesellschaften, in unserem Namen zu sprechen und zu behaupten, dass es einen wissenschaftlichen Konsens gibt, ohne überhaupt eine Umfrage unter den Mitgliedern der Gesellschaft durchzuführen, um festzustellen, ob ein solcher Konsens existiert.

Die Realität zu verzerren, um einer Ideologie zu entsprechen, und die irreführende Behauptung eines Konsenses zu verwenden, um ihren Aussagen den Anschein wissenschaftlicher Autorität zu verleihen, schadet nicht nur, weil sie unsere Ansichten falsch darstellen, sondern schwächt auch das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wissenschaft, das in den letzten Jahren rapide gesunken ist. Aus diesem Grund sollten sich wissenschaftliche Gesellschaften so weit wie möglich aus der Politik heraushalten, es sei denn, es handelt sich um politische Fragen, die den Auftrag der Gesellschaft direkt betreffen.“

Änderungsversuche an Definitionen als Machtfrage

Ideologischer Hintergrund der Attacken auf die nach wie vor gültige Gameten-Definition ist, dass Transpersonen und intergeschlechtliche Varianten darin als Abweichungen erfasst werden. Akademische Aktivistinnen wie Butler oder die Biologin Anne Fausto-Sterling, die sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit speziell für intergeschlechtliche Menschen einsetzte, wollten dazu beitragen, dies zu durchbrechen und stießen dabei auch auf eine hohe Resonanz unter Trans und Inter. Als Abweichung zu gelten, wird als Hindernis verstanden, sich als gleichwertig mit allen anderen Menschen zu erleben. Man hoffte außerdem, so auch andere Umgangsweisen in Staat oder Medizin nachdrücklicher begründen zu können.

All dies ist menschlich verständlich. Selbstverständlich war und bleibt es richtig, dass es zum Beispiel rechtliche Möglichkeiten zur Änderung des amtlich dokumentierten Geschlechtseintrags gibt oder medizinische Eingriffe zur Geschlechtszuweisung an intergeschlechtlichen Babys und Kindern geächtet, in Deutschland auch gesetzlich verboten sind. Hier ist in der Vergangenheit viel Leid entstanden. Doch wären solche Maßnahmen mit der biologischen Definition von Geschlecht über die Gameten unmöglich? Davon ist nicht auszugehen. Es würde auch andere Begründungszusammenhänge geben, um geschlechtszuweisende Operationen bei intergeschlechtlichen Menschen zu verhindern. Ebenso, um Transpersonen eine bessere gesellschaftliche Teilhabe mit Dokumenten zu ermöglichen, die zu ihrem Äußeren kongruent sind.

Es ging der queeren Seite aber um Definitionshoheit. In Sachen biologisches Geschlecht wurde dies über Geisteswissenschaften und die Politik versucht. Nun regt sich Widerstand in den Naturwissenschaften. In Großbritannien hat man mittlerweile auch in der Politik erkannt, dass etwas schiefgelaufen ist.  Eine von der Regierung in Auftrag gegebene Untersuchung von Alice Sullivan, Professorin für Soziologie am University College London, hat ergeben, dass öffentliche Einrichtungen – darunter der NHS, die Polizei und sogar das Militär – seit 2015 Informationen über die Geschlechtsidentität statt über das biologische Geschlecht sammeln. Infolgedessen seien „robuste und genaue Daten“ verlorengegangen, so der Bericht. Im Gesundheitswesen habe dies beispielsweise dazu geführt, dass PatientInnen, deren biologisches und Identitätsgeschlecht voneinander abwichen, in Notfällen nicht rechtzeitig korrekt diagnostiziert wurden.

Identitätspolitik hat anti-aufklärerisches Eigenleben

„Identitätspolitik hat einen ehrenwerten Impuls, wenn es darum geht, Minderheiten vor jahrzehntelangen Diskriminierungen zu befreien. Wenn sich Identitätspolitik allerdings immer mehr von wissenschaftlichen Erkenntnissen entfernt, führt sie ein anti-aufklärerisches Eigenleben, das viele Bürger eher befremdet“, sagte Péter Ungár, Vorsitzender der ungarischen Grünen in einem Interview mit dem Magazin Cicero.

Im Ungarn unter Orbán ist der Widerstand gegen Identitätspolitik längst zu einem willkommenen Vehikel geworden, um vom Versagen der Regierung in Fragen wie zu hoher Lebenshaltungskosten abzulenken. In den USA wiederum haben die Fehlentwicklungen in linker Identitätspolitik in Form eines anti-aufklärerischen Eigenlebens dazu beigetragen, dass Trump und seine MAGA-Truppe die Regierungsgeschäfte übernehmen konnten und jetzt ungehemmt Identitätspolitik von rechts machen.

René Pfister, USA-Korrespondent des Spiegel, sagte dazu im Podcast „Acht Milliarden“ seines Kollegen Juan Moreno sinngemäß, dass es nicht danach aussehe, als kehre Trump zum Gegenpol von Identitätspolitik zurück, also einem klassisch liberalen Verständnis mit gemeinsam geteilter Wirklichkeit und einem Austausch von Argumenten auf einem „Marktplatz der Ideen“.

Letztlich hat dies auch für Minderheiten fatale Konsequenzen, denn jetzt wird ihnen rechtspopulistische Identitätspolitik aufgedrängt, die ihnen keinen Raum mehr zugesteht. Sei es, dass seltene Varianten von Intergeschlechtlichkeit im Dekret keine Berücksichtigung finden, was unmenschlich ist. Sei es, dass im US-Bundesstaat Arizona eine christliche Abgeordnete der Republikaner ein Gesetz vorschlägt, das Bestätigung einer Geschlechtsidentität bei Minderjährigen verbieten will und den Rahmen sehr weit auslegt – und damit in die persönliche Gestaltungsfreiheit eingreift, indem sich auch Friseursalons und Modegeschäfte strafbar machen könnten, wenn sie Minderjährigen gender-nonkonforme Frisuren oder Kleidung verkaufen.

Der Vorstoß in Arizona ist aber nicht zu verstehen, ohne die Entwicklungen rund um Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie zu kennen. Denn gerade auf diesem Feld wurde in den letzten Jahren die wissenschaftliche Evidenz zu Gunsten der Ideologie geopfert, mit konkreten Risiken für die Patientensicherheit durch zu schnelle Bestätigung der Identität, ohne Berücksichtigung anderer Umstände. Die rechtspopulistische MAGA-Ideologie verfing auch deshalb, weil das Befremden gegenüber Identitätspolitik mit fehlender Evidenz längst weite Bevölkerungskreise erreicht hat und nicht nur auf einen „lunatic fringe“, zum Beispiel fundamentalistische Christen, beschränkt war. Das sollte allen in Deutschland eine Warnung sein.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Transkinder-Leitlinie: Ist Psychotherapie Gatekeeping?

In der kürzlich erschienenen S2k-Leitlinie zu Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter wird Psychotherapie als „unethisch“ geframt, obwohl sich unter den Behandlungssuchenden viele weibliche Teenager mit Begleiterkrankungen befinden – ganz im Sinne von TransaktivistInnen. Während eine Psychotherapeutin die Schwierigkeiten in der Behandlung dieser Gruppe aufzeigt, rechtfertigt ein queeres Jugendmagazin Hormontherapien ohne ärztliche Verordnungen.

Sackgassen-Schild in Großaufnahme, Symbolbild für Artikel "Transkinder-Leitlinie: Ist Psychotherapie Gatekeeping?"
Sackgasse Pubertätsblockade? (Foto von Jonathan Farber auf Unsplash.)

24. März 2025 | Till Randolf Amelung

Die umstrittene, weil gender-affirmative S2k-Leitlinie zu Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter ist am 7. März 2025 nach sieben Jahren Arbeit daran veröffentlicht worden. Lange zog es sich hin, da unter den beteiligten Fachgesellschaften an der Leitlinienkommission bis zur Veröffentlichung kein einhelliger Konsens erreicht wurde.

Besonders umstritten sind Fragen, ob und ab wann Medikamente wie Pubertätsblocker und gegengeschlechtliche Hormone eingesetzt werden sollen. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) hatte zahlreiche Sondervoten, die Schweizerische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (SGKJPP) hat ihre Zustimmung vollständig verweigert. Dennoch bleibt festzuhalten: Während man in Ländern wie Großbritannien, Schweden, Finnland und Dänemark von einer medikamentösen Pubertätsblockade angesichts gravierender Risiken für die Patientensicherheit wieder abgerückt ist, halten die deutschen Leitlinien daran fest.

Stark angestiegene Patientenzahlen

Saskia Fahrenkrug, Psychotherapeutin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Mitglied der Leitlinienkommission für die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG), äußerte sich nun gegenüber der Zeit zu den Kontroversen und was die Arbeit an dieser Leitlinie so schwierig machte:

„Das Thema ist kompliziert und höchst strittig: medizinisch, psychologisch und auch ethisch. Im Grunde lagen die am Leitlinienprozess beteiligten Gruppen – Mediziner, Psychologen und Betroffenenverbände – in den relevanten Fragen mit ihren Positionen weit auseinander. Zugleich veränderte sich im Diskussionsprozess der Gegenstand, über den wir diskutierten.

Zum einen wuchsen die Zahlen der Betroffenen steil an, zum anderen änderte sich ihre Zusammensetzung. Statt eines weitgehend ausgeglichenen Verhältnisses wie früher kommen heute zu achtzig Prozent Jugendliche in die Sprechstunden, die biologisch als Mädchen geboren wurden, also transmännliche Jugendliche. Bei uns in Hamburg sind es sogar neunzig Prozent. Über all das wird öffentlich teilweise erbittert diskutiert, in Deutschland wie international.“

Gründe für diesen Anstieg konnten bislang nicht zweifelsfrei dingfest gemacht werden. Gegenüber dem gender-affirmativen Modell kritisch eingestellte Kreise weisen auf Faktoren wie verdrängte Homosexualität, pubertäre Reifungskrisen, soziale Ansteckung in Peer Groups, Social Media, begleitende psychische Erkrankungen sowie immer noch bestehenden Sexismus in Gesellschaften als gewichtige Einflussfaktoren hin. In diese Richtung argumentiert auch Fahrenkrug im Interview:

„Ich denke, dass weiblich sein und werden mit großen Verunsicherungen und einem sehr komplexen ambivalenten Körpererleben verbunden ist. Wir sind medial und gesellschaftlich mit weiblichen Geschlechterstereotypen konfrontiert, in denen gerade vulnerable junge Mädchen das Gefühl entwickeln, unpassend zu sein, den Ansprüchen nicht zu entsprechen. Die Erwartung eines Ausweges durch Transition kann da erst einmal eine große Entlastung bieten.“ 

BefürworterInnen eines frühen affirmativen Einsatzes von Pubertätsblockern und Co., zu denen vor allem die meisten TransaktivistInnen gehören, sehen die Zahlen vor allem als Resultat von mehr gesellschaftlicher Offenheit.

Umstrittene Pubertätsblockade

Am umstrittensten sind Pubertätsblocker. Diese Medikamente sollen die biologisch angelegte Pubertät stoppen. Wie auch Fahrenkrug im Interview sagt, sei der ursprüngliche Gedanke dahinter gewesen, schwer belasteten Jugendlichen durch das Anhalten der Pubertätsentwicklung einen zeitlichen Aufschub zu geben, in dem sie sich über ihre Geschlechtsidentität Klarheit verschaffen könnten. Daran sei aus Sicht der Psychotherapeutin nichts falsch. Als Kritikpunkte der Gegenseite nennt sie:

„Doch Kritiker argumentieren, dass sich die Pubertätsblocker als eine Art Einbahnstraße erwiesen haben. Tatsächlich entscheiden sich 95 Prozent der Betroffenen, die mit Pubertätsblocker beginnen, zwei, drei Jahre später auch für den zweiten Schritt, also die Behandlung mit Hormonen, die dafür sorgen, dass sich der Körper in Richtung des biologisch anderen Geschlechts entwickelt.“

Gar nicht erwähnt werden von Fahrenkrug Risiken wie geringere Knochendichte, mögliche Unfruchtbarkeit – vor allem in Verbindung mit anschließender Hormontherapie – sowie negative Auswirkungen auf die Hirnentwicklung. Ebenso fehlt ein Hinweis auf die nicht verlässliche Stabilität vieler Transdiagnosen, was der Psychiater Florian D. Zepf im IQN-Blog anmerkte:

„Aus einer neuen Studie mit Krankenversicherungsdaten wissen wir, dass die Diagnose der Geschlechtsinkongruenz, selbst wenn sie vom Arzt als richtig angesehen wird, in der Mehrzahl der Fälle einige Jahre später nicht mehr fortbesteht. Nach fünf Jahren hatten nur noch 36,4 % eine bestätigte Diagnose, und in allen untersuchten Altersgruppen lag die Diagnosepersistenz unter 50 %“.

Fahrenkrug gibt jedoch auch interessante Einblicke in das Patientenprofil, was ihre Spezialambulanz am UKE aufsucht:

„Zudem kamen, als ich 2008 in Hamburg begann, Betroffene zu uns, die meist seit vielen Jahren – einige seit der frühen Kindheit – mit ihrem Geburtsgeschlecht haderten. Heute ist die Mehrheit, die eine Behandlung anstrebt, dagegen deutlich älter. Da sind Jugendliche, die sich oft erst mit 15 oder 16 Jahren im Rahmen einer Krise das erste Mal die Frage stellen, ob sie männlich oder weiblich sind. Und viele von ihnen weisen Komorbiditäten auf.

ZEIT ONLINE: Was bedeutet das?

Fahrenkrug: Sie erleben nicht nur innere Konflikte mit ihrem biologischen Geschlecht, sondern sind gleichzeitig depressiv, leiden unter Ängsten, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen oder einer Autismus-Spektrum-Störung.“

Diese Veränderungen im Patientenprofil seien, so Fahrenkrug, in ihren Kreisen lange ignoriert worden, denn unweigerlich käme damit die Frage auf, ob überhaupt allen mit geschlechtsverändernden Eingriffen geholfen werden kann und was man stattdessen tun solle.

Sie selbst sei deshalb vorsichtiger geworden:

„Wir fragen die Jugendlichen immer, wann ihnen das erste Mal aufgefallen ist, dass sie sich zum Beispiel nicht als Mädchen fühlen, ob es gewisse Schlüsselmomente gab, was sie genau an ihrem Körper stört. Wenn darauf etwa nur die Antwort kommt: Mir geht es so wie dem Mädchen in dem Video, das ich gesehen habe. Oder ich habe schon immer mit Autos gespielt, deshalb möchte ich jetzt Hormone, dann sagen wir: Ich glaube, unser Angebot ist nicht das Richtige für dich.“

Unethische Psychotherapie

Angesichts dieser Umstände ist es irritierend, dass die nun vorliegende Leitlinie Psychotherapie als „unethisch“ bezeichnet:

„ZEIT ONLINE: Wie kann eine Psychotherapie unethisch sein? Das kommt einem Laien seltsam vor.

Fahrenkrug: Das kam auch vielen Fachpersonen seltsam vor, inklusive mir. Denn eine Therapie soll ja einen Raum schaffen, in dem man offen seine Wünsche wie auch seine Zweifel reflektiert, um mit professioneller Hilfe zu einer guten Entscheidung zu kommen.

ZEIT ONLINE: Wieso gab es trotzdem Vorbehalte?

Fahrenkrug: Da spielen wohl auch historische Gründe eine Rolle. Es gab ja in früheren Zeiten für Homosexuelle sogenannte Konversionstherapien, bei denen man die Betroffenen bewegen wollte, ihre sexuelle Orientierung zu verändern. So etwas wollte man verhindern. Nun heißt es in der Leitlinie, dass eine Psychotherapie nicht zwangsweise verordnet werden darf, aber den Jugendlichen niedrigschwellig angeboten werden soll. Ich würde mir den Hinweis noch expliziter wünschen, aber immerhin steht die Therapie – anders als in früheren Versionen – jetzt drin. Ohne diese Veränderung hätte ich den Leitlinien für meine Fachgesellschaft nicht zustimmen können.“

Auch Zepf kritisierte dieses Framing von Psychotherapie in seinem Blogbeitrag, zumal dies auf einem fragwürdigen Verständnis von Identität als biologisch determiniert beruhe:

„Es ist bekannt, dass sich die Selbstinterpretationen von Minderjährigen oft im Verlauf der Zeit verändern – ein typisches Merkmal der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Dies ist auch der Grund, warum eine explorative Psychotherapie, die diesen jungen Menschen angeboten wird, nicht automatisch als unethische „Konversionstherapie“ bezeichnet werden sollte. Eine solche Psychotherapie zielt darauf ab, die Gründe für solche geschlechtsspezifischen Symptome als Teil eines größeren Bildes bzw. im Sinne eines heterogenen Phänomens ergebnisoffen zu explorieren, das verschiedene Ursprünge haben kann (teilweise auch im Zusammenhang mit potenziell begleitenden Psychopathologien bis hin zu gleichzeitig auftretenden psychiatrischen Störungen).“

Jugendmagazin verharmlost DIY Hormontherapie

Doch für TransaktivistInnen ist jede Form von Diagnostik und Psychotherapie „Gatekeeping“ – also ein Hindernis für einen ungehinderten Zugang zu Pubertätsblockern und Hormonen. Ganz in diesem Geist wurde ein zweiseitiger Artikel im Magazin Out des queeren Jugendverbands Lambda geschrieben. Darin wird sogenannte „DIY HRT“ – also Do It Yourself Hormone Replacement Therapy gerechtfertigt. Damit ist gemeint, sich Hormonpräparate jenseits ärztlicher Verordnungen und Apotheken zu beschaffen, zum Beispiel über das Internet zu bestellen.

So heißt es im Text unter Anderem:

„Wir leben in einer Zeit, in der medizinische und rechtliche Transition von staatlichen und medizinischen Autoritäten massiv reguliert werden (nicht unbedingt kriminalisiert, aber das auch) und uns dieser Zustand als normal, notwendig, naturgegeben vermittelt wird. Aber das ist nicht der Fall. Es gibt im Prinzip keinen Grund, warum ich 12 Stunden Psychotherapie machen sollte, um Zugang zu Hormonen zu erhalten, oder zwei Gutachten brauch(t)e, um meinen Namen zu ändern, außer, dass das irgendwann irgendjemand so entschieden hat. Es gibt kein anderes Feld im Gesundheitssystem, in dem ein so starker Fokus auf der Irreversibilität bestimmter Maßnahmen liegt, während die tatsächlichen Quoten von Menschen, die bestimmte Maßnahmen bereuen, konstant im niedrigen einstelligen Bereich liegen. Aber genau diese Fälle werden genutzt, um Hürden für Transitionsmaßnahmen zu begründen.“

Screenshot von Doppelseite im Out-Magazin
Der doppelseitige Artikel im Out-Magazin, Ausgabe Winter 2024

Angesichts der aktuellen Entwicklungen mit einem hohen Anteil von biologischen Mädchen, von denen viele ernstzunehmende Begleiterkrankungen aufweisen, wie auch von Fahrenkrug im Interview erläutert wurde, ist diese Darstellung in Out mindestens verantwortungslos. Zumal sich Lambda und sein Magazin eben an Jugendliche richten.

Die im Zitat genannten 12 Stunden Psychotherapie werden von der Begutachtungsrichtlinie des Medizinischen Dienst Spitzenverband (MDS) vorgegeben, der Leistungsanträge von Versicherten im Auftrag der gesetzlichen Krankenversicherungen prüft. Dafür macht der MDS Vorgaben, was für eine Sicherung der Diagnose vorliegen muss, um Transitionsmaßnahmen zu übernehmen. Dies ist auch vollkommen korrekt, denn die Kostenübernahme erfolgt im solidarfinanzierten Versicherungssystem nach den im Sozialgesetzbuch definierten Grundlagen und nicht nach ideologischen Vorstellungen von AktivistInnen.

In Anbetracht der letzten sechs Jahre kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass Reuequoten weiterhin niedrig einstellig bleiben, denn entsprechende Daten stammen alle aus der Zeit vor der starken Zunahme an Behandlungssuchenden. Gerade ein Magazin für Jugendliche als Zielgruppe, in dem auch das Logo des Bundesfamilienministeriums als Fördermittelgeber im Impressum auftaucht, muss hier redaktionell verantwortungsvoller agieren. Anstatt noch dazu beizutragen, junge Menschen negativ gegen eine ergebnisoffene explorative Psychotherapie einzunehmen, sollten diese eher dazu ermutigt werden, sich vor irreversiblen Maßnahmen einer Transition mit allen dafür relevanten Fragen psychotherapeutisch begleitet auseinanderzusetzen.

Die Frage, ob medizinische Behandlungen mit Pubertätsblockern, gegengeschlechtlichen Hormonen und auch chirurgischen Eingriffen für jede Person mit Geschlechtsdysphorie die richtigen Maßnahmen sind, wird weiter kontrovers diskutiert werden. Die S2k-Leitlinien haben dies bei Kindern und Jugendlichen nicht beenden können und wie am Beispiel des Jugendmagazins von Lambda zu sehen ist, scheinen auch die AktivistInnen nicht willens, ihre Haltung zu hinterfragen.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Sie wurden gewarnt: Die neue Transleitlinie in Deutschland kann jungen Menschen schaden

Die S2k-Leitlinie zu Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter ist aufgrund ihres vornehmlich affirmativen Ansatzes und der unzureichenden Evidenz ihrer Empfehlungen umstritten. Der Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. Florian D. Zepf erläutert in seinem Gastbeitrag, wo die größten Schwachstellen liegen und was das für Konsequenzen haben könnte.

Transleitlinie: Ein Stethoskop liegt neben einem Laptop, an dem gerade gearbeitet wird.
Ob die neue S2k-Leitlinie tatsächlich eine breite Anwendung in der Arbeit mit geschlechtsdysphorischen Kindern und Jugendlichen erfahren wird, bleibt zweifelhaft (Foto von National Cancer Institute auf Unsplash).

Redaktionelle Vorbemerkung: Am 7. März 2025 wurde die umstrittene deutsche S2k-Leitlinie für geschlechtsdysphorische Kinder und Jugendliche doch noch veröffentlicht, nachdem 2024 die Kritik in Fachkreisen hierzulande zunahm. Einer der fundiertesten Kritiker ist der Kinder- und Jugendpsychiater Florian D. Zepf – nun kommentiert er das Endergebnis. Zepf war bis November 2022 ebenfalls Mitglied der S2k-Leitlinienkommission und verließ diese auf eigenen Wunsch aufgrund seiner medizinischen und ethischen Bedenken. Der vorliegende Text wurde zuerst am 13. März 2025 auf Englisch im Substack Gender Clinic News des australischen Journalisten Bernard Lane veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung wurde mit DeepL erstellt und wir stellen diese mit freundlicher Genehmigung des Verfassers im IQN-Blog online.

14. März 2025 | Florian D. Zepf

Die neue deutschsprachige S2k-Leitlinie zu Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnose und Behandlung ist fertiggestellt und veröffentlicht worden. Am Entwurf von März 2024 wurden einige Änderungen vorgenommen, die meisten dieser Anpassungen waren jedoch eher geringfügig.

Eine aktuelle Änderung besteht darin, dass die Leitlinie nun vorschlägt, bei Minderjährigen zwischen stabiler „Geschlechtsinkongruenz“ und vorübergehender „Geschlechtslosigkeit“ zu unterscheiden, aber sie gibt keine spezifischen Kriterien an, wie diese beiden Gruppen im Voraus zu unterscheiden sind – und es ist auch nicht klar, mit welcher Validität dies tatsächlich geschehen könnte. Mit dieser neuartigen Unterscheidung geht die neue Leitlinie von einer fehlerhaften Argumentationslinie aus und ignoriert wichtige Erkenntnisse.

Geschlechtsinkongruenz bei vielen Minderjährigen nicht dauerhaft

Aus einer neuen Studie mit Krankenversicherungsdaten wissen wir, dass die Diagnose der Geschlechtsinkongruenz, selbst wenn sie vom Arzt als richtig angesehen wird, in der Mehrzahl der Fälle einige Jahre später nicht mehr fortbesteht. Nach fünf Jahren hatten nur noch 36,4 % eine bestätigte Diagnose, und in allen untersuchten Altersgruppen lag die Diagnosepersistenz unter 50 % (27,3 % bei den 15-19-jährigen Frauen und 49,7 % bei den 20-24-jährigen Männern).

Die gesamte Argumentation, welche Minderjährigen eine Pubertätsblockade und/oder eine Hormongabe erhalten sollten, beruht daher auf einer unklaren Differenzierung, die in der klinischen Praxis nicht anwendbar ist. Es gibt keine gültigen Kriterien, anhand derer man diese besonderen Gruppen im Voraus angemessen identifizieren könnte, und die Geschlechtsinkongruenz als Diagnose bei jungen Menschen ist nicht so stabil, wie in diesen Leitlinien dargestellt.

Empfehlungen für eine Pubertätsblockade sind nicht evidenzbasiert

Bemerkenswert ist, dass in der neu veröffentlichten Leitlinie einige neuere Literatur zum Einsatz einer Pubertätsblockade und einer Hormongabe bei Minderjährigen mit solchen geschlechtsbezogenen Problemen nun zitiert wird, deren Fehlen in der Vergangenheit ein Kritikpunkt war. Die kritischen Empfehlungen der Leitlinie zum Einsatz dieser pubertätsblockierenden Medikamente und einer Hormongabe bei betroffenen Minderjährigen wurden jedoch in wesentlichen Punkten nicht entsprechend der zitierten Evidenz geändert.

Die Empfehlungen zur Pubertätsblockade und zur Hormongabe bei diesen gefährdeten jungen Menschen spiegeln nicht angemessen wider, dass es immer noch keine klaren Beweise für dauerhafte und wesentliche Verbesserungen bei Minderjährigen mit solchen geschlechtsbezogenen Problemen gibt. Vielmehr wissen wir, dass potenzielle Schäden auftreten können. Daher muss dieser Ansatz, eine Pubertätsblockade und eine Hormongabe bei betroffenen Minderjährigen einzusetzen, zum jetzigen Zeitpunkt als experimentell angesehen werden.

Familienrechtliche Entscheidungen über Kindeswohl auf fragwürdiger Grundlage

Ein weiterer Punkt ist der in den Leitlinien enthaltene Gedanke, dass im Falle einer Meinungsverschiedenheit zwischen Eltern und ihren Kindern über derartige medizinische Eingriffe für das Kind eine unabhängige rechtliche Prüfung darüber entscheiden sollte, welcher Ansatz dem Wohl des Kindes am besten entspricht. In Deutschland könnte dies möglicherweise bedeuten, dass Kinder aus der Obhut ihrer Eltern genommen werden oder dass Eltern das Recht verlieren, medizinische Entscheidungen für ihre Kinder zu treffen, je nach Ergebnis einer solchen Prüfung und den ihr zugrunde liegenden (möglicherweise falschen) Annahmen.

Aus medizinischer Sicht ist jedoch zum jetzigen Zeitpunkt unklar, was das Wohl eines solchen Kindes tatsächlich bedeuten würde, und der weitgehend „pro-affirmative“ Ansatz, wie er in der neuen Leitlinie vorgeschlagen wird, gibt in diesem Zusammenhang Anlass zur Sorge. Insbesondere scheint die Leitlinie auf der Fehlannahme zu beruhen, dass jedes Kind eine allgegenwärtige, ubiquitäre und unveränderliche Geschlechtsidentität hat, die völlig unabhängig vom biologischen Geschlecht ist, und dass diese Identität naturalistisch vorbestimmt ist. Dies ist eine wissenschaftlich unbewiesene Annahme, die außer Acht lässt, dass das Selbstbild von Jugendlichen oft eine Selbstinterpretation ist und eine klare Unterscheidung zwischen solchen Selbstinterpretationen und Identitätsaspekten nicht mit hinreichender Validität getroffen werden kann.

Explorative Psychotherapie ist keine Konversionstherapie

Es ist bekannt, dass sich die Selbstinterpretationen von Minderjährigen oft im Verlauf der Zeit verändern – ein typisches Merkmal der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Dies ist auch der Grund, warum eine explorative Psychotherapie, die diesen jungen Menschen angeboten wird, nicht automatisch als unethische „Konversionstherapie“ bezeichnet werden sollte. Eine solche Psychotherapie zielt darauf ab, die Gründe für solche geschlechtsspezifischen Symptome als Teil eines größeren Bildes bzw. im Sinne eines heterogenen Phänomens ergebnisoffen zu explorieren, das verschiedene Ursprünge haben kann (teilweise auch im Zusammenhang mit potenziell begleitenden Psychopathologien bis hin zu gleichzeitig auftretenden psychiatrischen Störungen).

Ein weiteres Argument gegen den automatischen Vorwurf der Konversionstherapie im Kontext einer solchen ergebnisoffenen Psychotherapie ist, dass dieser Ausdruck impliziert, dass der junge Mensch durch die Psychotherapie von etwas weg konvertiert wird, das unveränderlich, allgegenwärtig und naturalistisch vorbestimmt ist.

Aus diesen Gründen hat die neue S2k-Leitlinie das Potenzial, vulnerablen Kindern und Jugendlichen mit solchen geschlechtsspezifischen Problemen erheblich zu schaden. Viele der Empfehlungen in der Leitlinie sind nicht evidenzbasiert, stehen auf wackligen Füßen und können daher bei vulnerablen Minderjährigen großen Schaden anrichten.

Experten zeigen Schwächen auf

Als Gruppe von 15 deutschen Professorinnen und Professoren aus dem Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie haben wir kürzlich eine ausführliche gemeinsame Kommentierung des Leitlinienentwurfs vom März 2024 veröffentlicht, und auch die Society for Evidence-based Gender Medicine (SEGM) hat eine gründliche Prüfung des Entwurfs vorgenommen und wichtige methodische Schwächen aufgezeigt.

Die gemeinsame Kommentierung der 15-köpfigen Gruppe zur Leitlinie enthält auf 111 Seiten eine genaue Stellungnahme zu allen Aspekten des betreffenden Dokuments, und wurde der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) sowie der jeweiligen Leitliniengruppe vorgelegt. Dies bedeutet, dass der Leitliniengruppe diese Mängel bekannt waren und dennoch die Entscheidung getroffen wurde, das endgültige, aber unzureichend angepasste finale Leitliniendokument zu veröffentlichen. Insbesondere spiegeln die vorgenommenen Anpassungen nicht den insgesamt schwachen Stand der aktuellen Evidenzlage wider.

Es wird schwierig sein, diese Maßnahmen in Zukunft zu verteidigen, da alle Argumente und Kritiken öffentlich zugänglich waren. Wir hoffen, dass unsere gemeinsame Kommentierung vulnerable Minderjährige und ihre Familien mit wichtigen Informationen versorgen kann, falls sie Opfer von Schäden werden, die durch Interventionen entstanden sind, die mithilfe dieser Leitlinie gefördert wurden.

Neue Leitlinie hat offensichtliche Mängel

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Ärzte, Familien und junge Menschen, die von den hier betreffenden geschlechtsspezifischen Problemen betroffen sind, sich darüber im Klaren sein müssen, dass die neue deutschsprachige Leitlinie erhebliche Mängel aufweist und Empfehlungen enthält, die potenziell zu Schäden führen können. In Deutschland und auch international gibt es eine heftige und hitzige Debatte darüber, wie diese vulnerablen Kinder und Jugendlichen am besten unterstützt werden können.

Die vorliegende neue Leitlinie entspricht nicht den notwendigen evidenzbasierten Standards, um junge Menschen angemessen zu unterstützen. Zahlreiche Ärzte, Psychologen, Psychotherapeuten und andere Kliniker im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie sowie verwandter Berufsgruppen in Deutschland halten diese Leitlinien für höchst problematisch, und werden sie wahrscheinlich nicht übernehmen.

Noch ist es nicht zu spät, diese Leitlinie zurückzuziehen und sie im Lichte der aktuellen tatsächlichen medizinischen Erkenntnislage zu überarbeiten. Die Verantwortung für die Behebung dieser schwerwiegenden Mängel und die Wahrung des grundlegenden medizinischen Prinzips „Primum non nocere“ („Erstens nicht schaden“) liegt bei denjenigen, die diese äußerst problematische Leitlinie entwickelt und verabschiedet haben.


Univ.-Prof. Dr. med. Florian D.  Zepf ist Lehrstuhlinhaber und Klinischer Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Jena. Er war von Mitte 2020 bis November 2022 Mitglied der S2k-Leitliniengruppe und verließ diese auf eigenen Wunsch aufgrund seiner beruflichen und ethischen Bedenken. Professor Zepf ist Erstautor der gemeinsamen Kommentierung der Gruppe der o.g. 15 Professoren und ferner Erstautor einer aktualisierten systematischen Übersicht zum Einsatz einer Pubertätsblockade und einer Hormongabe bei Minderjährigen mit Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Nach Aufregung über Wahlumfrage zur Bundestagswahl 2025 – jetzt spricht ROMEO

Eine Umfrage der schwulen Datingplattform ROMEO schockierte viele queere AktivistInnen, weil in ihr besonders jüngere Schwule ihre Präferenz für die AfD ausdrückten. Geäußert wurde gar der Verdacht, dieses Ergebnis sei eine Folge von Manipulation aus rechtsextremen Kreisen. Nach der Bundestagswahl nimmt nun Firmenchef Jens Schmidt ausführlich Stellung zu den Umfrageergebnissen und den Vorwürfen.

Zwei junge Männer sitzen nebeneinander in einem Café. (Symbolfoto für Artikel "Nach Aufregung über Wahlumfrage zur Bundestagswahl 2025 – jetzt spricht Planetromeo")
Junge schwule Männer haben in Deutschland bei der Wahlumfrage von ROMEO am stärksten ihre Zustimmung für die AfD bekundet (Foto von Max Harlynking auf Unsplash).

10. März 2025 | Till Randolf Amelung

Vor den Bundestagswahlen haben Ergebnisse einer nicht-repräsentativen Umfrage auf dem schwulen Datingportal ROMEO für Aufregung gesorgt, weil dort die rechtspopulistische und in Teilen rechtsextreme AfD den größten Zuspruch bekam. 27,9 Prozent votierten insgesamt für diese Partei. In der Gruppe der 18- bis 24-Jährigen wollten sogar  34,7 Prozent die AfD wählen, signifikant geringer fiel der Anteil dieser Partei bei den „Boomern“, den älteren schwulen Männern aus. Dabei hat die AfD immer wieder offen verkündet, zum Beispiel homosexuelle verheiratete Paare nicht mehr mit heterosexuell Verheirateten gleichstellen zu wollen und gar das Selbstbestimmungsgesetz wieder abzuschaffen.

Vor allem in eher linksgrünen Parteien zugeneigten queeren Medien sowie Verbänden wurde schnell gemutmaßt, dass diese Ergebnisse nur durch Manipulation entstanden sein könnten. Jetzt hat sich ROMEO selbst zu Wort gemeldet, um die Daten einzuordnen sowie Stellung zu Manipulationsvorwürfen zu nehmen.

Die Umfrageergebnisse von Romeo vor der Bundestagswahl, an der 60.560 User teilgenommen haben. Balkendiagramm von links nach rechts: CDU/CSU 17,6 Prozent, AfD 27,9 Prozent, SPD 12,5 Prozent, Grüne 19,9 Prozent, FDP 3,6 Prozent, BSW, 4,5 Prozent, Linke 6,5 Prozent, Andere 7,3 Prozent Aufschlüsselung nach Altergruppen (Balkendiagramme): 18-24 Jahre: 6,8 Prozent CDU, 34,7 Prozent AfD, 6,4 Prozent SPD, 16,1 Prozent Grüne, 3 Prozent FDP, 5,8 BSW, 19,2 Linke, 7,9 Andere. 25-39 Jahre: 12,4 Prozent CDU, 32,3 Prozent AfD, 8,9 Prozent SPD, 20,9 Prozent Grüne, 3,3 Prozent FDP, 5,1 Prozent BSW, 9 Prozent Linkem 8,1 Prozent Andere. 40-59 Jahre: 20,5 Prozent CDU, 27,2 Prozent AfD, 12,7 Prozent SPD, 20,1 Grüne, 3,8 Prozent FDP, 4 Prozent BSW, 41, Prozent Linke, 7,4 Prozent Andere. 60+ Jahre: 21,7 Prozent CDU, 19,8 Prozent AfD, 20,8 Prozent SPD, 17,9 Prozent Grüne, 3,6 Prozent FDP, 4,8 Prozent BSW, 5 Prozent Linke, 6,4 Prozent Andere.
Die Umfrageergebnisse der „Sonntagsfrage“ zur Bundestagswahl 2025 bei Romeo (Foto Romeo).

Manipulierte Umfrage?

Jens Schmidt, CEO und Firmengründer, erläutert warum Manipulation über rechtsextreme Kanäle eher nicht wahrscheinlich sei: „Innerhalb der ersten 24 Stunden erhielten wir 28.200 Stimmen! In den folgenden Tagen nahm die Anzahl der Stimmen organisch ab, ohne unerwartete Spitzen. Eine Erinnerung wurde am 30. Januar versendet.“ Das heißt: Sehr wahrscheinlich kamen diese Stimmen tatsächlich von Usern der Plattform und nicht erst über eine Weiterleitung in eine rechtsextreme Blase.

Außerdem seien die Ergebnisse von Beginn an konsistent gewesen, d.h. die AfD war stärkste Kraft. Auch dies ist ein plausibler Grund, der gegen Manipulation spricht. Schmidt verweist darauf, dass sich die Umfrageergebnisse weitgehend mit Wahlergebnis sowie grundsätzlichen Trends in der deutschen Bevölkerung decken würden. Sprich: höhere Zustimmung der jüngeren Wahlberechtigten zu den extremen politischen Rändern, aber auch die Abmilderung im Gesamtergebnis durch das Wahlverhalten der älteren Generationen – gern geschmäht als „alte, weiße Männer“.

Angenehmere Daten von der Uni Gießen

Queere Medien und Verbände bekamen doch noch bekömmlichere Umfrageergebnisse – und zwar von der LSBTIQ*-Wahlstudie der Justus-Liebig-Universität Gießen in Kooperation mit dem LSVD+ – Verband Queere Vielfalt: In dieser Befragung führten die Grünen mit 43,5 Prozent die Präferenzen unter LSBTIQ an, auf Platz zwei folgte die Linkspartei mit 24,9 Prozent. Letztere wurde vor allem von Personen bevorzugt, die sich als Trans oder Queer einordneten und unter ErstwählerInnen.

Während beide Befragungen gemeinsam haben, dass sie nicht repräsentativ sind, da es sich bei ihnen um selbstauswählende Stichproben handelte und vor allem der halbwegs genaue Gesamtanteil von LGBTIQ an der deutschen Bevölkerung unbekannt ist, gibt es auch wichtige Unterschiede. Diese beginnen schon bei den TeilnehmerInnen und der Rekrutierung: ROMEO hat unter seinen Usern für die Teilnahme geworben – diese sind vornehmlich schwule und bisexuelle Männer. Zu einem gewissen Anteil gibt es auch Transpersonen (Transmänner und Transfrauen) oder auch sich als Nonbinary verstehende Personen auf der Plattform. Die Befragung der Uni Gießen hingegen schloss auch Frauen ein und wurde über soziale Medien und Kooperationspartner wie dem LSVD+ gestreut.

Unterschiede zwischen beiden Befragungen

Ein weiterer wichtiger Unterschied ist auch der Befragungszeitraum. Die Gießener Umfrage lief vom 16. Dezember 2024 bis zum 13. Januar 2025. ROMEO startete seine Umfrage am 24. Januar und beendete sie am 2. Februar 2025. So war nicht nur die Laufzeit unterschiedlich lang, sondern sie umfasste auch unterschiedliche Zeitfenster. Damit gibt es in der einen Umfrage mögliche tagespolitische Einflüsse, die es in der anderen noch nicht gab. Besonders zentral sind der tödliche Messerangriff eines ausreisepflichtigen afghanischen Asylbewerbers am 22. Januar sowie die kurz darauffolgenden Auseinandersetzungen um zwei Anträge der CDU/CSU zur Begrenzung der irregulären Migration, bei denen im Bundestag eine Mehrheit mit Stimmen der AfD in Kauf genommen wurde.

Doch auch unabhängig davon passen die Ergebnisse ins Bild, wenn man die Wahlanalysen nach der Bundestagswahl betrachtet: Männer wählten bevorzugter konservativ oder rechts, bei Frauen hatten linke Parteien mehr Chancen – vor allem bei jüngeren Frauen in Großstädten. Darauf weist auch Jens Schmidt hin: „Insgesamt scheint es, dass ROMEO-Nutzer mehr oder weniger ähnlich wie der Rest des Landes abgestimmt haben. Insbesondere wenn man berücksichtigt, dass die meisten ROMEOs Männer sind.“

Schwule Männer sind nicht so anders

Was lässt sich nun also jenseits der Empörung und Leugnungsversuche des queeren Verbands- und Medienestablishments dazu sagen? Zeigt sich, wie Schmidt meint, in den Ergebnissen der ROMEO-Umfrage, dass schon viel Gleichberechtigung erreicht worden sei, wenn schwule Männer auch nicht so viel anders wählen, wie der Rest der Bevölkerung? Es geht wohl weniger um Gleichberechtigung, als eher um die Frage, was Menschen bewegt, wenn sie sich nicht mehr mit Sonderpönalisierungen (Stichwort: Paragraf 175) auseinandersetzen müssen.

Insofern ist es wenig überraschend, wenn am Ende auch schwule und bisexuelle Männer Sicherheitsfragen, Wirtschaft und dergleichen genauso wichtig finden, wie die Mehrheit aller anderen Wahlberechtigten in Deutschland auch. Heikel ist die Auseinandersetzung mit der Frage, wie man mit dem höheren Gewaltpotenzial im öffentlichen Raum durch junge Männer mit muslimischer Prägung umgehen soll, welches gerade auch Schwule zu spüren bekommen. Queere Verbände sind eher bemüht, dies zu relativieren und treffen damit wohl nicht mehr den Nerv vieler jüngerer schwuler Männer.

Brandmauer oder Sicherheit?

Die ROMEO-Umfrage wurde an einem Freitagnachmittag gelauncht und erreichte wahrscheinlich viele Männer, die gerade auf der Suche nach einem Sexdate für den Abend waren, sowie sich generell vielleicht noch ins Nachtleben stürzen wollten. Jens Schmidt dazu: „In der ersten Stunde der Abstimmung erreichte die AfD sogar 37 Prozent! Diese Stimmen kamen von Nutzern, die genau in dem Moment online waren, als die Umfrage versendet wurde. Unsere Vermutung? Je sexuell aktiver, desto mehr unterwegs, desto häufiger allein auf der Straße bei Nacht.“

Wie soll man nun jüngeren Männern begegnen, die bei der ROMEO-Wahlumfrage ihre Präferenz zur AfD bekundet hatten? Soll man „Keinen Sex mit Nazis“ haben, wie es der Berliner Queerbeauftragte Alfonso Pantisano forderte und was bereits IQN-Vorsitzender Jan Feddersen hier im Blog als nicht ernsthaft praxistauglich einstufte? Jens Schmidt wirbt dafür, die Umfrageergebnisse auf seiner Plattform als „lauten Hilferuf“ insbesondere der jüngeren Männer zu sehen und dass man ihnen „ohne Mauern im Kopf“ zuhören sollte.

Dies ist auch vor dem Hintergrund sehr ratsam, dass fortwährende Ignoranz eher die Zustimmung zur AfD fördert, also „die Blauzone ausweitet“, wie schon 2023 die Sozialwissenschaftler Maik Fielitz und Holger Marcks auf Zeit Online erläuterten. „Wo die Brandmauer überstrapaziert wird, wo diejenigen, die einen anderen Umgang auch nur erwägen, gleich der rechtsextremen Beihilfe beschuldigt werden, drohen Effekte der Abstoßung und Neuorientierung. Den Raum auf einer Seite zu verengen, bringt eben mit sich, dass er sich auf der anderen weitet“, so die beiden Forscher. Damit sollten sich auch queere Medien und Verbände auseinandersetzen, anstatt missliebige Umfrageergebnisse mit dem Vorwurf der Manipulation abzuwehren.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Neue Transkinder-Leitlinie ist da – das Ergebnis ist ein Skandal

Am 7. März 2025 wurde die S2k-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter – Diagnostik und Behandlung“ endlich veröffentlicht. Doch statt einer praxistauglichen Leitlinie ist sie zuvörderst ein Dokument ideologischer Borniertheit.

S2k-Leitlinie: In einer Demo hält jemand ein Schild hoch, auf dem steht: Conversion Therapy is Violence
Die Perspektive der an der S2k-Leitlinie Beteiligten; Alles, außer gender-affirmativ wird als Konversionstherapie betrachtet (Foto von Karollyne Videira Hubert auf Unsplash).

8. März 2025 | Till Randolf Amelung

Nach vielen Verschiebungen war es am gestrigen Freitagnachmittag endlich so weit: Die finale Fassung der S2k-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter – Diagnostik und Behandlung“ wurde auf dem Portal der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) e. V. online gestellt. Diese Leitlinie beansprucht, den medizinischen Standard im Behandlungsfeld zu setzen und soll in Deutschland, Österreich sowie der Schweiz Anwendung finden. Doch es ist fraglich, ob sie tatsächlich breite Anwendung finden wird, denn eine wichtige Fachgesellschaft verweigerte ihre Zustimmung und verlangte, dass ihre Kritik mitveröffentlicht wird.

Die richtige Behandlung gerade von Minderjährigen, die sich als Trans verstehen, weil sie unter ihrem biologischen Geschlecht leiden, sorgt für Kontroversen. Besonders dann, wenn es um den Einsatz von Medikamenten zur Pubertätsblockade geht. In den letzten Jahren ist die Zahl an Kindern und Jugendlichen mit einer Transthematik gestiegen. Umso wichtiger wäre daher eine Leitlinie, die ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen auf aktueller Evidenzbasis Orientierung gibt.

Deutsche Leitlinie ist gender-affirmativ

Doch die nun veröffentlichte Leitlinie, an der seit 2017 eine Kommission unter der Leitung des Münsteraner Psychiaters Georg Romer im Auftrag der Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) erarbeitete, ist hochumstritten. Denn: Die Leitlinien-MacherInnen haben sich von Anfang an dem gender-affirmativen Ansatz verpflichtet.

Dieser beinhaltet, dass die geäußerte Geschlechtsidentität von Beginn an bestätigt, also affirmiert wird. Dazu gehören der soziale Rollenwechsel, eine juristische Änderung von Vornamen und Geschlechtseintrag – und auf der medizinischen Ebene eine rasche Verordnung von Pubertätsblockern. Später folgen dann Geschlechtshormone sowie Operationen.

Das Erkunden von anderen möglichen Ursachen für Geschlechtsdysphorie, insbesondere eine konflikthafte homosexuelle Entwicklung, andere Pubertätskrisen oder Begleitumstände wie Autismus wird dabei vernachlässigt – schlimmer noch: in der deutschen Leitlinie wird der Eindruck vermittelt, dies sei ethisch unangemessen. Gerade deshalb wuchs auch unter deutschen MedizinerInnen Kritik.

Vor knapp einem Jahr wurde die fertiggestellte Leitlinie in einer Pressekonferenz vorgestellt und an ausgewählte Kreise zum Review übergeben. Bereits damals hieß es aus der DGKJP, es seien keine inhaltlichen Kommentierungen erwünscht. Dies führte unter ÄrztInnen zu Unmut, 14 Professoren kritisierten die Leitlinie daraufhin in einem Offenen Brief. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN), mit rund 10.000 Mitgliedern die größte medizinische Fachgesellschaft in dem Feld, hatte daher schon 2024 ihre Zustimmung zu der Leitlinie verweigert, ebenso die Schweizerische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (SGKJPP).

Kursänderungen im Ausland

Seit 2019 häufen sich international Erkenntnisse, dass die medizinische Evidenzbasis für das affirmative Vorgehen zu schwach ist. Das bedeutet, es gibt zu wenig Studien, um Nutzen und Risiken sauber abzuwägen, vor allem Langzeitrisiken durch die Behandlung mit Pubertätsblockern sind unklar. Auch in Deutschland nahm Kritik zu. Der Münchener Arzt Alexander Korte trat zunächst als einziger Kritiker an die Öffentlichkeit, später folgten seine Fachkollegen Florian Zepf und Veit Roessner, die gemeinsam mit anderen 2024 eine eigene systematische Übersicht zur Evidenzlage bei Pubertätsblockern veröffentlichten. Korte und Zepf waren ebenfalls Teil der Leitlinienkommission, bis sie jeweils aufgrund nicht auflösbarer Meinungsverschiedenheiten mit den anderen Gremienmitgliedern bezüglich des affirmativen Ansatzes austraten. 2024 gab es auf dem Deutschen Ärztetag Beschlüsse, die ebenfalls Kritik an der affirmativen Leitlinie übten.

Sicherlich dürften der DGPPN und anderen KritikerInnen die Entwicklungen im Ausland nicht entgangen sein: Länder wie Finnland, Schweden oder Dänemark haben sich aufgrund der ungenügenden Kenntnis von Risiken längst wieder vom gender-affirmativen Modell verabschiedet und setzen auf eine vorrangig psychotherapeutische Betreuung geschlechtsdysphorischer Kinder und Jugendlicher. In Großbritannien wurde mit dem Cass Report eine besonders umfassende Untersuchung des affirmativen Ansatzes vorgenommen – mit vernichtendem Ergebnis. Seit März 2024 ist die damals einzige Spezialambulanz in der Tavistockklinik geschlossen worden, die Versorgung wird nun umstrukturiert, um eine ganzheitlichere Diagnostik und Begleitung sicherzustellen.

DGPPN verweigert Zustimmung zur Leitlinie

In der jetzt veröffentlichten Leitlinie wird klar: die fachinternen Bedenken der DGPPN am affirmativen Ansatz konnten nicht abgeräumt werden. Offenbar waren es diese, die eine Veröffentlichung bislang verhindert haben. Einen sehr deutlichen Hinweis gibt es zum Abschluss der dieser Leitlinie vorangestellten Präambel:

„Sondervotum der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN): Der Vorstand der DGPPN, deren Mandatsträgerin die Präambel mitkonsentiert hat, teilte mit seinem konsentierenden Votum zur finalen Fassung der Leitlinie mit, dass er die Präambel in der o.g. beschlossenen Form nicht mitträgt. Begründung siehe Anhang.“

Damit eine Veröffentlichung der Leitlinie überhaupt noch stattfinden konnte, scheint sich die DGPPN ausbedungen zu haben, dass ihre Bedenken Teil des Dokuments werden – und diese haben es in sich! Gleich zu Beginn heißt es:

„Aus Sicht der DGPPN bedarf diese Präambel in einigen Punkten der Kommentierung und ist in der Summe der Feststellungen abzulehnen, weil einige unausgewogen sind, wichtige Aspekte fehlen und die Präambel insgesamt der unvoreingenommenen wissenschaftlichen Bewertung der Evidenzlage a priori unangemessene moralische Grenzen setzen.“

Damit ist gemeint: die Leitlinien-VerfasserInnen haben moralische Aspekte überbetont, um von der eklatant schwachen Evidenzlage für das affirmative Modell mit Pubertätsblockern abzulenken.  Das wird vor allem darin deutlich, dass Selbstverständlichkeiten wie „Respekt vor der Würde und Selbstbestimmung der Person sowie des Wohltuns und Nicht-Schadens“ in der Präambel aufgeführt sind.

Die DGPPN nimmt das jedoch auseinander:

„Die Orientierung einer medizinischen Leitlinie an allgemein anerkannten berufs- und medizinethischen Grundsätzen ist eine Selbstverständlichkeit. Dies für eine einzelne Leitlinie explizit hervorzuheben und zusätzlich auch noch im Rahmen einer Abstimmung zu konsentieren, erweckt den Eindruck, man habe sich mit den medizinethischen Problemen des Themas besonders eingehend beschäftigt bzw. sich zu Beginn der Leitlinienarbeit darauf verpflichtet. Allerdings wird dieser Anspruch nicht erfüllt. Das Kapitel X („Rechtliche Grundlagen und ethische Maßgaben für die Behandlung Minderjähriger mit Geschlechtsinkongruenz“) behandelt vorwiegend juristische Aspekte der Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger und rekurriert dabei fast ausschließlich auf ein einziges unveröffentlichtes und deshalb auch für die Adressaten unzugängliches Rechtsgutachten, welches im Auftrag des Leitlinienkoordinators Prof. Romer angefertigt wurde. Einige medizinethische Fragen werden zwar aufgeworfen, aber nicht abwägend diskutiert.“

Juristische Streitfragen um Einwilligungsfähigkeit

Offenbar scheint Romer als Leitlinien-Koordinator wichtige Informationen zurückzuhalten und trotzdem Zustimmung der DGPPN erwartet zu haben – ein skandalöser Vorgang! Von jemandem zu erwarten, in einen Vertrag einzuwilligen, ohne Kenntnis des Kleingedruckten, wäre in anderen Kontexten schon kriminell.

Gerade die Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger ist eine heikle Frage. In Großbritannien hat der von der Detransitioniererin Keira Bell angestoßene Prozess gegen die ehemalige Genderambulanz der Tavistockklinik zur richterlichen Beurteilung geführt, der affirmative Ansatz mit Pubertätsblockern sei so experimentiell, dass unter-16-Jährige höchstwahrscheinlich die Konsequenzen einer solchen Behandlung für sich nicht richtig einschätzen könnten.

2024 wurde dies durch geleakte Äußerungen von ÄrztInnen noch bestätigt, die sie auf einer internen Austauschplattform der World Professsional Association for Transgender Health (WPATH) getätigt haben – einer aktivistischen Organisation, die für den affirmativen Ansatz eintritt. So schrieben beispielsweise EndokrinologInnen (FachärztInnen für den Hormonstoffwechsel), sie könnten genauso gut mit einer Wand reden, wenn sie ihren jungen PatientInnen die negativen Konsequenzen einer Einnahme von Pubertätsblockern und Geschlechtshormonen auf die Fruchtbarkeit erklären. Später seien viele dieser PatientInnen als junge Erwachsene zurückgekommen und hätten mit dem unerfüllbaren Kinderwunsch gehadert.

Doch während Meldungen wie diese oder der Cass Report bei der DGPPN wohl schwerwiegende Bedenken gegen den affirmativen Ansatz forciert haben könnten, ließen sich Romer und seine Verbündeten offensichtlich nicht beirren und weigerten sich, von affirmativen Grundsätzen abzurücken.

Fraglich ist, ob die affirmative Herangehensweise im Ernstfall vor einem Gericht Bestand hätte – das von Romer bisher zurückgehaltene Rechtsgutachten könnte womöglich Aufschluss geben. Das Zurückhalten nicht genehmer Fakten ist aber unter gender-affirmativ behandelnden ÄrztInnen und TherapeutInnen kein Einzelfall – zuletzt wurde solches von der US-amerikanische Ärztin Johanna Olson-Kennedy berichtet, die aus Steuermitteln finanzierte Studienergebnisse zurückhielt, weil diese den affirmativen Ansatz nicht so stark unterstützen, wie erhofft.

Olson-Kennedy wiederum, wurde letztes Jahr selbst von der ehemaligen Patientin Clementine Breen, die inzwischen detransitioniert, wegen Falschbehandlung verklagt. Breen sagte, frühe Traumata und psychische Begleiterkrankungen seien vor einer Behandlung mit Pubertätsblockern und Testosteron erst gar nicht diagnostiziert und für die weitere Behandlung berücksichtigt worden.

Ausführliche Diagnostik unerwünscht

Es ist zu befürchten, dass dies in der neuen affirmativen Leitlinie von Romer et al. ebenfalls zu kurz kommen wird. In Punkt 7 der Präambel heißt es:

„Psychotherapeutische Unterstützung soll Behandlungssuchenden zur Begleitung z.B. einer ergebnisoffenen Selbstfindung, zur Stärkung des Selbstvertrauens, zur Bewältigung von Diskriminierungserfahrungen oder zur psychischen Vor- und Nachbereitung von Schritten im Prozess einer Transition niedrigschwellig angeboten und verfügbar gemacht werden. Eine Verpflichtung zu Psychotherapie als Bedingung für den Zugang zu medizinischer Behandlung ist aus Gründen des Respekts vor der Würde und Selbstbestimmung der Person ethisch nicht gerechtfertigt.“

Die DGPPN kritisiert dies:

„Auch hier gilt, dass selbstverständlich niemand zu einer Behandlung gezwungen werden darf und speziell zu einer Psychotherapie auch nicht gezwungen werden kann, weil diese Mitarbeit erfordert. Selbstverständlich ist aber auch, dass für komorbide Störungen eine umfassende psychiatrische Behandlung angeboten und verfügbar gemacht werden muss. Tatsächlich kann eine solche Behandlung auch notwendige Voraussetzung für den Zugang zu körpermodifizierenden Behandlungen sein. Es ist in der gesamten Medizin ein Standardverfahren, dass die fachgerechte Indikation zur Durchführung bestimmter Maßnahmen die Durchführungen anderer vorbereitender diagnostischer bzw. therapeutischer Maßnahmen voraussetzen kann. Es ist also durchaus in Abhängigkeit von der wissenschaftlichen Evidenz denkbar und keinesfalls a priori mit dem Hinweis auf den „Respekt vor der Würde und Selbstbestimmung der Person“ als „ethisch nicht gerechtfertigt“ zu betrachten, dass Hormonbehandlungen oder körpermodifizierende Behandlungen erst nach einer vorherigen psychotherapeutischen Behandlung durchgeführt werden sollten. Deshalb müsste in dieser Leitlinie die Evidenz für und gegen eine solche vorausgehende psychotherapeutische und ggf. pharmakologische Behandlung (z.B. assoziierter psychiatrischer Erkrankungen) gegeneinander abgewogen werden. Dies geschieht nicht und stattdessen wird schon in der Präambel eine nicht wissenschaftlich begründbare „Leitplanke“ gesetzt, die die weitere objektive Abwägung für moralisch unzulässig erklärt.“

Eine im Februar 2025 veröffentlichte Studie aus den USA zeigt, dass diese Kritik der DGPPN am affirmativen Ansatz gerechtfertigt ist: Die Analyse von 107.583 Patientendaten aus dem Zeitraum 2014 bis 2024 offenbarte, dass diejenigen, die sich einem chirurgischen Eingriff unterzogen, ein deutlich höheres Risiko für Depressionen, Angstzustände, Suizidgedanken und Substanzkonsumstörungen aufwiesen als diejenigen, die keinen chirurgischen Eingriff vornehmen ließen.

Solche Daten legen nahe, dass es auch nach Eingriffen im Rahmen einer Transition eine gute psychotherapeutische Begleitung brauchen kann. Da in den USA aber in den letzten 10 Jahren das affirmative Modell besonders um sich gegriffen hat, könnte man auch zu dem Schluss kommen, dass der Verzicht auf eine sorgfältige Anamnese von Begleiterkrankungen in Verbindung mit einer Behandlung dieser letztlich zum langfristigen Schaden vieler Transpersonen ist.

Leitlinie ist vertane Chance

Die jetzt veröffentlichte deutsche Leitlinie will jeden Zweifel am affirmativen Modell von sich weisen – das tut sie zum Beispiel, indem sie gleich auf das Deckblatt die Logos aller beteiligten und zustimmenden Fachgesellschaften eingefügt hat, obwohl es im Innenteil ohnehin eine Auflistung aller beteiligten Fachgesellschaften und ihrer entsandten VertreterInnen gibt.

Doch eine Mehrheit liegt nicht automatisch richtig. Die Kritikpunkte der DGPPN, die zur Verweigerung der Zustimmung führten, sind so fundamental und spiegeln außerdem exakt die internationalen Entwicklungen um dieses Thema wider. Unverständlich ist, warum die affirmative Fraktion nicht in der Lage scheint, aus den Entwicklungen im Ausland die angemessenen Schlüsse zu ziehen. Denn: Auch ein Leitliniendokument mit vielen bunten Logos auf dem Deckblatt wird im Ernstfall nicht vor möglichen Gerichtsprozessen wegen Behandlungsfehlern schützen.

So jedenfalls muss diese Leitlinie als verpasste Chance betrachtet werden, eine nachhaltige und solide Grundlage für den medizinischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen zu geben, die fundamental mit ihrem Geschlecht hadern. In Deutschland muss man offenbar jeden Fehler, den andere bereits gemacht haben, selbst machen. Niemand, der oder die klar bei Verstand ist, kann eine Leitlinie, die ihren fundamentalen Verriss gleich im Anhang mitliefert, als Grundlage für die klinische und therapeutische Arbeit nehmen. Das wäre glatter Selbstmord.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Journalist veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien und in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.