Eine Umfrage auf dem schwulen Datingportal „Planet Romeo“ schockierte: die Mehrheit der befragten Männer würde bei der Europawahl die AfD wählen. Wie konnte das passieren?


Welche Partei würden Schwule bei der Europawahl wählen? (Foto von Mika Baumeister auf Unsplash)


24. März 2024 | Till Randolf Amelung

„Umfragehammer: Rechtsruck in der schwulen Szene“, titelte das Community-Medium „männer*“ am 12. März 2024. Eine von „männer*“ in Auftrag gegebene und über das Datingportal „Planet Romeo“ durchgeführte Umfrage wollte von „Romeo“-Usern wissen, welche Partei sie bei der Europawahl am 9. Juni 2024 wählen würden. An der nicht-repräsentativen Umfrage nahmen rund 10.000 „Romeos“ teil. Für die AfD entschieden sich 22,3 Prozent der Teilnehmer, für die CDU/CSU 20,6 Prozent und knapp dahinter auf Platz 3  Bündnis90/Die Grünen mit 20,5 Prozent. Für die „alte Tante“ SPD konnten sich nur 13,9 Prozent erwärmen. Das Bündnis Sahra Wagenknecht erreichte aus dem Stand mit 7 Prozent, knapp mehr Zustimmung als DIE LINKE mit 6 Prozent. Für die Freien Wähler würden 4,9 Prozent der Befragten stimmen, die FDP landete mit 4,8 Prozent auf dem letzten Platz.

 

Wichtige Informationen fehlen

Bis auf die effektheischende Überschrift und die knappe Wiedergabe der Umfrage-Ergebnisse bleibt „männer*“ eine genauere Einordnung der Ergebnisse leider schuldig. So erfährt man keine näheren Details, zum Beispiel zu demografischen Differenzierungen oder darüber, welche Themen die Auswahl bestimmt haben. Es könne auch nicht ausgeschlossen werden, dass die Umfrage manipuliert worden sei, so das Onlinemagazin „queer.de“ und die Nachrichtenplattform „DER WESTEN“. „Queer.de“ ist zudem überrascht, „dass mit der AfD und dem BSW fast ein Drittel der „Romeo“-Nutzer Parteien unterstützen würden, die am äußersten politischen Rand stehen und sich ausdrücklich gegen LGBTI-Rechte aussprechen.“ „Queer.de“ hat zudem im Januar 2024 selbst eine ebenfalls nicht-repräsentative Umfrage mit der Frage gestartet, welche Partei man bei einer Bundestagswahl wählen würde. In dieser Umfrage entschieden sich für Bündnis90/die Grünen knapp über 40 Prozent der Befragten, die AfD erreichte knapp zwölf Prozent. An der Umfrage nahmen innerhalb einer Woche rund 1.400 Personen teil. Eine repräsentative Befragung vor der Bundestagswahl 2021 bestätigt eher die Tendenz der aktuelleren „queer.de“-Umfrage. In dieser Befragung, die ein Forschungsteam des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Gießen in Kooperation mit dem Lesben- und Schwulenverband Deutschlands e.V. (LSVD) durchführte, wollten 52,6 Prozent der Teilnehmenden die Grünen wählen und lediglich 2,6 Prozent präferierten die AfD.

In Bezug auf die Europawahl jedoch zeigen aktuelle Umfrageergebnisse in der deutschen Bevölkerung allgemein, dass die CDU/CSU einen komfortablen Vorsprung gegenüber allen anderen Parteien hat. Die Gesamttendenz scheint für die Europawahl in Deutschland also eher zumindest zugunsten der Konservativen zu gehen. In der „männer*“-Umfrage kommt die Union immerhin auf den zweiten Platz, was den Gesamttrend bestätigt.

 

Was die AfD für einige Schwule attraktiv macht

Der Lesben- und Schwulenverband Deutschlands e.V. (LSVD) rief kürzlich LGBTI dazu auf, nur LGBTI*-freundliche Parteien zu wählen. „SCHWULISSIMO“ sieht diesen Aufruf mutmaßlich im Kontext der Ergebnisse der „männer*“-Umfrage, nach denen aktuell auch viele schwule und bisexuelle Männer mit konservativen und rechten Parteien zu sympathisieren scheinen. Bereits bei der Wiederholung der Berlin-Wahl hätten laut „SCHWULISSIMO“ viele Schwule die CDU gewählt.

Welche Gründe könnten hier nun eine Rolle spielen? Im vergangenen Jahr fragte „Buzzfeed“ AfD-Sympathisanten aus der LGBTI-Community, warum sie ausgerechnet eine Partei wählen würden, die sich wiederholt queerfeindlich äußert. Zwei Kritikpunkte wurden besonders stark gemacht: Fehlende Thematisierung von queerfeindlicher Gewalt durch Männer mit muslimischem Hintergrund sowie Durchdrücken eines Selbstbestimmungsgesetzes ohne öffentliche Debatte.

Die mangelhafte Thematisierung queerfeindlicher Gewalt durch Männer mit muslimischem Hintergrund konnte man zum Beispiel Ende 2022 sehen, als der Berliner Senat den zweiten Monitoringbericht zu homo- und transphober Gewalt veröffentlicht hatte. Darin wurde eine Beschäftigung mit den Täterprofilen weitgehend vermieden, obwohl genau dies für zielgerichtete Präventionsarbeit notwendig wäre. Auch Oliver L., der in Dresden einen islamistisch motivierten Anschlag schwer verletzt überlebte, sein Partner jedoch verstorben ist, beklagte in einem Interview mit dem „Weissen Ring“, dass Islamismus als Tatmotiv zu wenig gewürdigt wurde.

Das Selbstbestimmungsgesetz, welches das Transsexuellengesetz (TSG) ersetzen soll und eine amtliche Vornamens- und Personenstandsänderung ohne jedweden Nachweis über eine dauerhafte und ernsthafte Transidentität ermöglichen soll, gilt ebenfalls als umstritten. Momentan stockt dieses Gesetzesvorhaben im parlamentarischen Verfahren, denn es fehlen noch die zweite und dritte Lesung inklusive Abstimmung. Aktuell ist ungewiss, wann es weitergeht. Alle größeren LGBTI-Verbände unterstützen dieses Vorhaben, ungeachtet wachsender kritischer Stimmen, insbesondere von Schwulen und Lesben. Die von Florian Greller gegründete Interessensvertretung „Just Gay“ zum Beispiel, wehrt sich gegen eine Definition von Schwulsein, die vom biologischen Geschlecht als Referenzpunkt entkoppelt wird und fordert das Recht, sich entsprechend zu organisieren und auch „unter sich“ bleiben zu dürfen. Dementsprechend möchten sich Greller und seine Mitstreiter explizit als „schwul“ und nicht als „queer“ verstanden wissen.

Ähnlich äußerte sich auch der CDU-Politiker und Bundesgesundheitsminister a.D. Jens Spahn im November 2023 gegenüber dem rechtspopulistischen Medium „NIUS“. Spahn halte das geplante Selbstbestimmungsgesetz für ein Risiko für Frauenrechte. Zudem bezeichne er sich selbst nicht als „queer“, sondern als „schwul“. „Queer“ stehe seiner Ansicht nach für eine bestimmte Form der Identitätspolitik, die er ablehne.

AfD-Chefin Alice Weidel erregte ebenfalls Aufsehen, als sie sich 2023 im ARD-Sommerinterview dazu bekannte, „nicht queer“ zu sein, sie sei mit einer Frau verheiratet, die sie seit 20 Jahren kenne. Auch Weidel lehnt das Selbstbestimmungsgesetz ab. Gerade Weidel scheint als offen lebende lesbische Frau, die mit einer aus Sri Lanka stammenden Frau verheiratet ist, die AfD für konservativere Schwule und Lesben zu „entschärfen“ und damit wählbar zu machen.

 

Keine Illusionen über die AfD machen

Doch wie im Grimm’schen Märchen „Rotkäppchen“, hat auch dieser Wolf nur Kreide gefressen: Ungeachtet der Vorzeige-Lesbe an der Parteispitze, wurde mit Maximilian Krah für die Europawahl ein stramm-reaktionärer Katholik als Spitzenkandidat nominiert, der sich wiederholt feindlich und abwertend gegenüber allem äußerte, was nicht heterosexuell ist. Zudem zeigte der Trubel um einen Mitgliedsantrag des deutsch-türkischen schwulen Influencers Ali Utlu, dass viele Mitglieder der AfD völkisch-rechts eingestellt sind. Utlu, der sich auf Twitter dem Kampf gegen „woke“ verschrieben hat und sich für keinen Krawall zu schade ist, sollte laut vieler Kommentare lieber abgeschoben werden. Daraufhin zog Utlu seinen Antrag wieder zurück. Insofern sind Warnungen an LGBTI mehr als berechtigt, die AfD ernsthaft als Alternative an der Urne in Betracht zu ziehen.

 

Schwule wählen nicht nur als Schwule

Das Heizungsgesetz brachte viel Unmut (Foto von Anton Maksimov auf Unsplash)

Die schockierten Reaktionen auf die Ergebnisse der „männer*“-Umfrage muten allerdings mitunter realitätsfern an. Die Unzufriedenheit in Deutschland mit der derzeitigen Ampel-Koalition in der Bundesregierung macht nicht vor schwulen Männern halt. Auch Schwule sind nicht nur schwul, sondern sie können auch als Unternehmer, Eigenheimbesitzer, Arbeitnehmer oder natürlich mit Interesse an innerer Sicherheit Wahlentscheidungen treffen. Als das umstrittene Heizungsgesetz hitzig debattiert wurde und auch eine Pflichtberatung zur Heizungsart im Raum stand, konnte man sich fragen, wieso man Bürger_innen die Wahl des Geschlechtseintrags eigenverantwortlich zutrauen wolle, aber die Wahl der Heizung nicht. Es reicht eben als Partei nicht aus, Regenbogenfähnchen zu schwenken oder mit vorgestanzten identitätspolitischen Aussagen um sich zu werfen, wenn man Schwule als Wähler gewinnen möchte.

 


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations.