Der britische Cass Review offenbart gravierende Mängel bei der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie. Fazit: Die Evidenzbasis für den gender-affirmativen Ansatz mit Pubertätsblockern ist sehr dünn, der Umgang mit vulnerablen Patient*innen nicht sorgfältig genug gewesen.


Wie Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie am besten geschützt werden, darüber wird gestritten. Der Cass Review sagt etwas anderes, als queere Aktivist*innen. (Foto: Aiden Craver auf Unsplash)



22. April 2024 | Till Randolf Amelung


Der 12. April 2024 war für alle ein bemerkenswerter Tag, die sich mit den Entwicklungen um das Transthema befassen: Denn an jenem Tag wurde nicht nur in Deutschland das Selbstbestimmungsgesetz durch den Bundestag gewinkt, sondern auch in Großbritannien der Abschlussbericht des sogenannten „Cass Review“ im britischen Unterhaus besprochen. Dieser Bericht, von der Pädiaterin Hilary Cass koordiniert und verfasst, untersuchte die Behandlungspraxis von Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie in der Tavistockklinik, wurde am 10. April der weltweiten Öffentlichkeit vorgestellt.


Zum Hintergrund: Im Zuge des 2020 von der ehemaligen Patientin Keira Bell angestrengten Gerichtsverfahrens wurde diese Untersuchung vom staatlichen Gesundheitsdienstleister National Health Service (NHS) in Auftrag gegeben. Über mehrere Jahre gab es wiederholt Beschwerden, dass die Minderjährigen, die sich im Gender Identity Developement Service (GIDS) der Tavistockklinik vorstellten, fahrlässig behandelt würden, weil zu schnell auf den Pfad einer geschlechtsangleichenden, vor allem pharmakologischen und chirurgischen Behandlung gesetzt. Doch der NHS reagierte jahrelang genauso wenig, wie die Politik. Kritikerinnen und Kritiker wurden kaltgestellt, wie nun auch Politiker*innen im britischen Unterhaus einräumten. Labour-Politikerin Rosie Duffield sagte, es sei nun an der Zeit für Entschuldigungen.


Umstrittene Behandlungen mit Pubertätsblockern

Im Zentrum von Cass‘ Untersuchung stand der gender-affirmative Ansatz, ein Behandlungsmodell für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie und Geschlechtsinkongruenz, d.h. einem tiefgreifenden Unbehagen mit dem biologischen Geschlecht und einer Diskrepanz zwischen Identität und Körper. „Gender-affirmativ“ heißt, grob zusammengefasst, die Aussage über die eigene Identität nicht zu hinterfragen, sondern zu bestätigen. Daraus folgt auch, so früh wie möglich Pubertätsblocker und gegengeschlechtliche Hormone einzusetzen und weitere verlangte medizinische Eingriffe zu ermöglichen. Doch, auch das arbeitet Cass heraus, die Evidenzlage für diesen Behandlungsansatz mit Pubertätsblockern ist bemerkenswert dünn. In Ihrer Einleitung wendet sie sich direkt an die Kinder und Jugendlichen: „Erstens müssen für euch die gleichen Standards gelten wie jeder andere im NHS, und das bedeutet, dass Behandlungen auf fundierten Erkenntnissen beruhen müssen. Ich war enttäuscht über den Mangel an Erkenntnissen über die langfristigen Auswirkungen der Einnahme von Hormoneinnahme in jungen Jahren; die Forschung hat uns alle im Stich gelassen, vor allem aber euch.“


Konzepte für den Umgang mit Geschlechtsdysphorie

Hilary Cass skizziert in ihrem Bericht zutreffend, wie sich der Umgang mit geschlechtsdysphorischen Kindern und Jugendlichen über die Jahrzehnte verändert hat:  Das erste Modell, vertreten von Dr. Susan Bradley und Ken Zucker, geht davon aus, dass kleine Kinder sozusagen formbare geschlechtsspezifische Gehirne haben , und dass die Behandlungsziele darin bestehen können, einem kleinen Kind zu helfen, das Geschlecht zu akzeptieren, das dem Geschlecht entspricht, das ihm bei der Geburt zugewiesen wurde. Das zweite Modell beruht auf der Forschung von niederländischen Ärzt*innen und besagt, dass ein Kind bereits in jungen Jahren Wissen über seine Geschlechtsidentität haben kann, aber bis zur Pubertät warten sollte, bevor es sich auf einen vollständigen Übergang von einem Geschlecht zum anderen einlässt. Das dritte Modell, das aktuell von einem internationalen Konsortium geschlechtsaffirmativer Theoretiker und Praktiker vertreten wird, sieht vor, dass ein Kind in jedem Alter seine authentische Identität erkennen und von einem sozialen Übergang in jedem Entwicklungsstadium profitieren kann.

Das dritte Modell sieht zugleich vor, dass diese selbst erkannte Identität nicht mit psychiatrischer Differenzialdiagnostik hinterfragt werden dürfe, solche Maßnahmen gelten besonders in aktivistischen Kreisen als „Gatekeeping“ bis hin zu „Konversionstherapie“.

Im GIDS  der Tavistockklinik hatte dies zur Folge, dass ein ganzheitlicher Blick auf die jungen Patient*innen fehlte – einer von Hilary Cass‘ wichtigsten Kritikpunkten. Ein ganzheitlicher Blick bedeutet, dass eine sorgfältige psychiatrische und somatische Diagnostik vorgenommen wird und auch der bisherige biografische Werdegang, die sexuelle Entwicklung, die familiären und sozialen Rahmenbedingungen in den Blick genommen werden.


Vulnerable Patientengruppen in Gefahr

Warum dies wichtig ist, zeigt eine im Cass-Report erwähnte systematische Studie zu Patientenprofilen, die an Gender-Ambulanzen überwiesen werden. Demnach gebe es nur wenige Studien, in denen ungünstige Kindheitserfahrungen berichtet würden. Diejenigen, die dieses Thema aufgriffen, hätten ergeben, dass es unter den überwiesenen Minderjährigen einen verhältnismäßig hohen Anteil mit folgenden Merkmalen gebe:

  • Vernachlässigung oder Missbrauch (11-67 Prozent)
  • körperliche Misshandlung (15-20 Prozent)
  • sexueller Missbrauch (5-19 Prozent)
  • Emotionaler Missbrauch (14 Prozent)
  • Psychische Erkrankung oder Drogenmissbrauch der Mutter (53 und 49 Prozent)
  • Psychische Erkrankung oder Drogenmissbrauch des Vaters (38 Prozent)


Auch Keira Bell, die 2020 das Gerichtsverfahren gegen den GIDS anstrebte, war eine Jugendliche mit einem Risikoprofil, sie beschrieb ihre familiären Verhältnisse als prekär. Hinzu kam, dass sie in eine Krise geriet, weil sie aufgrund ihrer sich entfaltenden lesbischen Sexualität nicht in ihr heteronormatives Schulumfeld passte. Das Erleben von Geschlechtsdysphorie ist dann nicht ungewöhnlich. Auch das ist durch frühere Forschung gut belegt. Grundsätzlich ist die Pubertät eine herausfordernde Lebensphase, für einige junge Menschen nochmal umso mehr. Gerade deshalb sollten irreversible medizinische Behandlungen nur mit äußerster Zurückhaltung überhaupt in Erwägung gezogen werden. Auch Hilary Cass hält in ihrem Report fest, dass bei den meisten minderjährigen geschlechtsdysphorischen Patient*innen Maßnahmen wie Pubertätsblocker und Geschlechtshormone nicht die geeigneten Mittel sind.

Wiederholt hat es für den GIDS Warnungen gegeben, dass junge vulnerable, das heißt seelisch labile Patient*innen gefährdet werden, weil sie zu schnell und ohne sorgfältige Differenzialdiagnostik auf einen medizinischen Pfad mit Pubertätsblockern, Geschlechtshormonen und chirurgischen Eingriffen gesetzt würden. Die Journalistin Hannah Barnes lässt in ihrem Buch „Time to think“ mehrere ehemalige Therapeut*innen zu Wort kommen, die berichteten, wie schwierig es innerhalb des GIDS gewesen sei, Kritik anzubringen.


Toxische Debattenkultur

Als „toxisch“ beschreibt Hilary Cass in ihrem Report die Auseinandersetzung um den richtigen Umgang mit geschlechtsdysphorischen Kindern und Jugendlichen: „Es gibt nur wenige andere Bereiche des Gesundheitswesens, in denen Fachleute so viel Angst haben, ihre Ansichten offen zu diskutieren, wo Menschen in den sozialen Medien verunglimpft werden und wo Beschimpfungen das schlimmste Mobbingverhalten hervorrufen. Das muss aufhören. Die Polarisierung und das Abwürgen von Debatten tragen nicht dazu bei, den jungen Menschen zu helfen, die in der Mitte eines stürmischen gesellschaftlichen Diskurses gefangen sind, und es behindert auch die Forschung, die notwendig ist um den besten Weg zu finden, sie zu unterstützen.“ Viel  dazu beigetragen habe auch eine verstärkte Einflussnahme durch aktivistische Lobbygruppen wie „Mermaids“, der gemeinnützigen Organisation für Eltern von Transkindern. Cass‘ Appell nach einer Beendigung der toxischen Debattenkultur scheint leider ungehört zu verhallen:  Am vergangenen Freitag berichtete die „Times“, dass Hilary Cass aus Sicherheitsgründen davon abgeraten worden sei, weiterhin öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen.



Reaktionen auf den Report

In Schottland setzte die Sandyford-Klinik, die auch „Tartan Tavistock“ genannt wird, die Verschreibung von Pubertätsblockern und gegengeschlechtlichen Hormonen an Unter-18-Jährige aus. In Belgien und den Niederlanden werden jetzt ebenfalls Beschränkungen für die Behandlung mit Pubertätsblockern gefordert.

In Deutschland scheint der Cass-Report direkt nach der Veröffentlichung kaum zur Kenntnis genommen worden zu sein – schon gar nicht von den Ampel-Politiker*innen, die am 12. April für das Selbstbestimmungsgesetz abstimmten. Mit dem neuen Gesetz, was im November 2024 in Kraft treten soll, können Minderjährige mit ihren Eltern den Vornamen und amtlichen Geschlechtseintrag ändern lassen, ohne fachärztliche Begutachtung. Dabei kann bereits eine soziale Transition den Weg in eine medizinische festigen. Genau darauf wies auch die Abgeordnete Sahra Wagenknecht (BSW) in ihrer Rede hin und provozierte besonders viele störende und empörte Zwischenrufe von der SPD.

Auch in den deutschen Medien findet die Berichterstattung nur verhalten statt, die Defizite sind vergleichbar, wie beim Selbstbestimmungsgesetz. Einzig die „Zeit“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ brachten je einen Artikel dazu. Auf dem Portal „evangelisch.de“ hingegen durfte kürzlich der Münsteraner Psychiater Georg Romer, der der bekannteste deutsche Verfechter des gender-affirmativen Modells ist, in vollkommener Abwesenheit kritischer Verweise auf den Cass-Report weiterhin für den gender-affirmativen Ansatz werben.

Unterdessen versuchen Transaktivist*innen die Integrität der Arbeit von Hilary Cass in Zweifel zu ziehen und behaupten, dass knapp 100 Studien überhaupt nicht berücksichtigt worden seien. Cass erwiderte auf diese Kritik, dass die Forscher jede einzelne Arbeit begutachtet hatten, aber nur die Ergebnisse derjenigen herangezogen hatten, die von hoher und mittlerer Qualität waren, das waren 60 Studien von 103. Die Journalistin Helen Lewis kommentiert treffend in der US-amerikanischen Zeitschrift „The Atlantic“: „Hat der Cass-Bericht alles richtig gemacht? Die Methodik und Schlussfolgerungen ihrer Forschung sollten wie bei jeder anderen Studie hinterfragt und kritisiert werden können. Aber es ist zweifellos das Werk seriöser Menschen, die sich ernsthaft mit einem heiklen Thema befasst haben. Wenn Sie immer noch der Meinung sind, dass Bedenken hinsichtlich des medizinischen Übergangs bei Kindern nichts weiter als moralische Panik sind, dann habe ich eine Frage: Welche Beweise würden Ihre Meinung ändern?“

In Folge der Untersuchung von Hilary Cass wurde der GIDS der Tavistockklinik geschlossen, stattdessen gibt es nun regionale Ambulanzen, die den von Cass geforderten ganzheitlichen Blick auf die minderjährigen Patient*innen gewährleisten sollen. Auch international zeichnet sich ab, dass ein Festhalten an einem gender-affirmativen Ansatz ohne sorgfältige psychologische Diagnostik und Begleitung immer schwieriger wird. In Deutschland weicht man diesen Entwicklungen aus, das zeigte auch die Pressekonferenz zu den geplanten neuen Leitlinien für Minderjährige mit Geschlechtsdysphorie. Wie lange noch?

 


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations.