Kategorie: Allgemein

Ampel-Bruch: Was sind die Konsequenzen für LGBTI?

Die Regierungskoalition aus SPD, Grüne und FDP ist Geschichte. Kritiker*innen sehen trotz Selbstbestimmungsgesetz und Aufhebung des Blutspendeverbots für schwule Männer viele queerpolitische Ziele nicht erreicht. Wie geht es damit weiter?

Geplatzte Koalition: Die Farbe Gelb hat sich aus der Ampel verabschiedet (Foto von Archee Lal auf Unsplash).

10. November 2024 | Till Randolf Amelung

Nun also ist es passiert: am Mittwochabend entließ Bundeskanzler Olaf Scholz Finanzminister Christian Lindner und besiegelte so das Aus der Ampelkoalition aus SPD, Grüne und FDP. Am selben Tag wurde außerdem bekannt, dass Donald Trump die US-Wahlen gewonnen hat und ein zweites Mal ins Weiße Haus einziehen wird. Für den Politanalysten Marc Saxer sind beide Ereignisse eng miteinander verknüpft. Denn eine erneute Präsidentschaft Trumps bedeutet auch, dass vor allem europäische Länder wie Deutschland künftig mehr finanziellen Einsatz für die Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland aufbringen müssen. Im Streit zwischen Lindner und Scholz ging es um die Aussetzung der Schuldenbremse, die Scholz verlangte und Lindner ablehnte.

Differenzen der Ampelparteien angesichts der Krisen zu groß

Die Ampelkoalition wurde zwar unter dem Eindruck der Coronakrise gewählt, aber noch vor dem Ukrainekrieg. Nach 16 Jahren verpasster Reformen und Investitionen unter CDU-geführter Bundesregierungen wollten viele Menschen einen Aufbruch, der ökologische, soziale und wirtschaftliche Innovationen miteinander verbindet. Unter den Krisen zerbröselte diese Stimmung, insbesondere da die drei Parteien zu unterschiedliche Ansichten hatten, wie darauf zu reagieren sei und es daher ständig zu öffentlich inszenierten Streitigkeiten kam.

Der Bruch nun, ist daher keine besonders große Überraschung. Vielmehr zeichnete er sich längst ab.  Wie der Journalist Stefan Laurin im Ruhrbarone-Blog feststellt, kommt nicht nur die Ampelkoalition an ihr Ende, sondern auch ein Zeitgeist, der „grün“, „woke“ und postmaterialistisch geprägt ist. Ausdruck dieses Zeitgeistes war auch ein verstärktes Interesse an LGBTI-Belangen, die sich in den letzten Jahren vor allem um mehr Sichtbarkeit und mehr Geldbedarf drehten. Was heißt der Bruch nun also für queerpolitische Vorhaben?

Erfolgreich bei Selbstbestimmungsgesetz und Blutspenden

Bei all ihrer Zerstrittenheit haben die Ampelparteien das umstrittene Selbstbestimmungsgesetz gegen jedwede Vernunft durchgeboxt und die Diskriminierung von Schwulen bei der Blutspende beendet. Andere Vorhaben, insbesondere die Reform des Abstammungsrechts, die Erweiterung von Artikel 3 des Grundgesetzes und die Umsetzung des Aktionsplans „Queer Leben“ mit dafür von den Grünen versprochenen siebzig Millionen Euro werden hingegen unwahrscheinlicher.

Bereits im September gab es Kritik am Queerbeauftragten der Bundesregierung, Sven Lehmann (Bündnis 90/Die Grünen), der die Koordination des Aktionsplans verantwortet. Kathrin Vogler (Linksfraktion) kritisierte, dass keiner der in einem intensiven Beteiligungsprozess queerer Interessensvertretungen seit 2022 erarbeiteten Empfehlungen bindend sei. Die Haushaltslage und die innerkoalitionären Spannungen um das Thema ließen auch daran zweifeln, dass es zur jährlichen Finanzierung in Millionenhöhe kommen würde. Vogler sagte damals gegenüber SCHWULISSIMO: „Ich fürchte, hier hat die Community viel Zeit und Herzblut in die Erarbeitung von Empfehlungen gesteckt, ohne dass diese dann auch umgesetzt werden.“

Eine neue Bundesregierung sollte jedoch die Empfehlungen noch einmal sorgfältig prüfen, anstatt sich alle Inhalte umstandslos zu eigen zu machen, denn so manches Detail hat es in sich: So heißt es zum Beispiel im Empfehlungspapier der Arbeitsgruppe Gesundheit zum Punkt „Medizinische Leitlinien“ für trans- intergeschlechtliche und nichtbinäre Menschen, dass das „Selbstbestimmungsrecht der Behandlungssuchenden gestärkt werden soll („Informed Consent“-Modell als Grundlage)“. In diesem Kontext meint „Informed Consent“, dass bitte keinerlei Anamnese und Diagnostik stattzufinden habe, ob eine gewollte Behandlung auch aus medizinischer Sicht geeignet ist. Das wird von einschlägigen Aktivist*innen verantwortungsloserweise als „Gatekeeping“ geschmäht.

LSVD fordert queerpolitischen Krisenplan

Der Verband Queere Vielfalt (LSVD*) fordert einen „queerpolitischen Krisenplan“. Wenn es nach diesem Verband geht, soll noch vor Weihnachten zum Beispiel das Abstammungsrecht reformiert werden. Besonders für lesbische Paare mit Kindern sei das ein wichtiges Thema. Nach dem jetzt noch geltenden Recht ist für die Anerkennung der nicht-biologischen Mutter ein aufwendiges Verfahren der Stiefkindadoption notwendig.

Weitere Forderungen des Verbandes, die vor einer Neuwahl noch umgesetzt werden sollen, sind: Ein Aufnahmeprogramm für Afghanistan und „die umgehende Ergänzung von Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes um den expliziten Schutz von LSBTIQ*“.

All diese Forderungen werden sich als unrealistisch erweisen, denn keines dieser Themen wird jetzt noch oben auf der Agenda stehen. Zudem wird die Billigung der Union benötigt. Gerade für die Änderung des Grundgesetzes ist das aber unwahrscheinlich, da CDU/CSU diese nicht für erforderlich halten, um LGBTI zu schützen. Außerdem sind – siehe Selbstbestimmungsgesetz – einige queerpolitisch grünlinke Projekte auch politisch nicht hilfreich für eine CDU/CSU im Wahlkampfmodus.

Künftige Förderung für LGBTI?

In den vergangenen Jahren bestanden queere Projekte oft daraus, Sichtbarkeit mit immer mehr Flaggenhissungen und Aktionstagen in den Fokus zu rücken, queere Zentren in Kleinkleckersdörfern zu errichten und Aufklärungsinhalte zu pushen, die inhaltlich kontrovers sind. Vor allem, wenn es um Geschlecht im Allgemeinen und Trans im Besonderen geht. Zunehmend gibt es dafür Gegenwind und Kritik.

Fraglich ist, ob die Unterstützung solcher Projekte noch eine selbstverständliche Zustimmung vieler LGBTI-Wähler*innen jenseits der Verbände sichern kann. Denn am Ende wollen auch diese, wie der Rest der Bevölkerung, von einer Regierung Klarheit über aktuelle gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die Aussicht auf und Sicherung des Wohlstands sowie Sicherheit. Da zählt dann weniger das Schwenken von Regenbogenflaggen als beispielsweise die nötige personelle und technische Ausstattung des Sicherheitsapparates oder wirtschaftliche Absicherung durch einen Arbeitsplatz mit Perspektive.

Zudem gibt es auch lesbischwule Gruppen und Einzelpersonen, die öffentlich Unzufriedenheit mit der Queerpolitik der Ampelparteien äußern, insbesondere bezüglich des Umgangs mit Kritik am Selbstbestimmungsgesetz. Kernpunkt ist, dass bei der Reduktion von Geschlecht allein auf Identität nicht mehr sinnvoll über Homosexualität gesprochen werden könne.

Man wird sehen, wie sich die Förderung von Unterstützungsstrukturen sowie Projekten für LGBTI nach einer Neuwahl gestaltet. Angesichts der großen strukturellen Probleme in Deutschland, die eine künftige Bundesregierung bewältigen muss, sollte man aber eher mit weniger, als mit mehr Geld vom Staat rechnen.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Bündnis gegen Antisemitismus in der queeren Szene gegründet

Das LGBTIQ+ Bündnis gegen Antisemitismus in unseren Communities hat sich am 28. Oktober 2024 in Berlin gegründet und will dem immer offensiver zur Schau gestellten Judenhass etwas entgegensetzen.

Die Vertreter*innen der am Bündnis beteiligten Gruppen bei der Pressekonferenz am 28. Oktober 2024 im Restaurant Feinbergs (Foto: Privat).
Die Vertreter*innen der am Bündnis beteiligten Gruppen bei der Pressekonferenz am 28. Oktober 2024 im Restaurant Feinbergs (Foto: Privat).

6. November 2024 | Till Randolf Amelung

Seit dem grausamen Massaker der palästinensischen Hamas am 7. Oktober 2023 auf überwiegend zivile Menschen im israelischen Negev zeigt sich Antisemitismus unverhohlen in allen Gesellschaftsteilen – auch in denen, die sich für diskriminierungssensibel und politisch progressiv halten. Die queere Szene bleibt davon ebenfalls nicht verschont, wie besonders die Pride Saison 2024 offenbarte.

In Berlin wollen unterschiedliche Organisationen und Gruppen dies nicht mehr hinnehmen und haben das LGBTIQ+ Bündnis gegen Antisemitismus in unseren Communities gegründet. Am 28. Oktober 2024 luden sie zu einer Pressekonferenz ins israelische Restaurant Feinbergs ein, welches ebenfalls immer wieder judenfeindlichen Angriffen ausgesetzt ist. Teil des Bündnisses sind Vereine und Initiativen wie MANEO und Wostoq Regenbogen e.V, East Pride Berlin, Lesben gegen Rechts, Dykes, Women & Queers Against Antisemitism, Jehi’Or und die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee.

Antisemitische Tiefpunkte in Berlin

Allein in Berlin gab es auch in queeren Kontexten mehrere Tiefpunkte. Anette Detering berichtete beispielsweise, wie der Dyke March zu einer Plattform für antisemitische Akteure wurde und niemand aus dem Orga-Team dagegen zu steuern schien. Bereits bei der Soliparty in der Bar Möbel Olfe war das Ausmaß des Antisemitismus offensichtlich geworden (IQN berichtete).  Anlässlich eines israelfeindlichen Instagram-Posts des Dyke* March Berlin war eine kleine Gruppe Jüdinnen und Nicht-Jüdinnen mit einem Schild „save table for israelis ans jews“ anwesend und wurden von anderen Gästen bedroht. Barpersonal und Organisatorinnen des Dyke* March hatten sie des Ortes verweisen wollen, anstatt sie vor einem sich formierenden aggressiven Mob zu schützen.

Detering organisiert außerdem zusammen mit Wolfgang Beyer den East Pride Berlin. In diesem Jahr riefen sie unter dem Motto „Ja zu Israel“ zur Teilnahme auf und erlebten viel Distanzierungen und Ablehnung, auch von der Gethsemane-Kirche, die in den Vorjahren das Pride-Motto immer an der Kirche zeigte.

Die anwesenden Vertreter*innen des Bündnisses machen deutlich, dass es insgesamt von queeren Organisationen zu wenig bis gar keine Unterstützung gegen Judenhass gegeben habe. Auch von staatlichen Akteuren fühlen sich die Beteiligten im Stich gelassen, weshalb es für das Bündnis keine Option sei, sich an den Berliner Queerbeauftragten Alfonso Pantisano zu wenden. Dieser fiel zuletzt mit jämmerlicher Islam-Apologetik, anstatt mit konsequentem Vorgehen gegen Antisemitismus auf.

Queere Organisationen versagen gegen Judenhass

Doch Pantisano befindet sich damit in schlechter Gesellschaft. Keine größere und etabliertere queere Organisation hat es seit dem 7. Oktober 2023 geschafft, eindeutig und klar gegen Judenhass Stellung zu beziehen. Das Versagen erfasst alle vom LSVD e.V. bis zur Bundessstiftung Magnus Hirschfeld, denn sie schwiegen zum sich unverhohlen zeigenden Antisemitismus. Der CSD Deutschland e.V. arbeitete gar mit sich antiisraelisch äußernden Influencer*innen wie Gialu zusammen.

Auch auf CSD-Veranstaltungen im gesamten Bundesgebiet kam es in diesem Jahr zu Vereinnahmungen für antisemitische Propaganda oder zumindest zu solchen Versuchen. Doch nicht nur Organisationen und CSD-Paraden, auch intellektuelle Szene-Ikonen wie Judith Butler offenbarten Gleichgültigkeit und Kälte gegenüber dem eliminatorischen Hamas-Terror. In Deutschland wurde gar die antisemitisch agierende und hochumstrittene Emilia Zenzile Roig mit Gesinnungsgenoss*innen zu einem Dinner ins Außenministerium geladen.

Eine umfassende Auseinandersetzung mit Antisemitismus, auch in Form von Israelhass oder „-kritik“ scheint notwendig. Hierfür warb das frisch gegründete Bündnis am Mittwoch. Klar ist, Antisemitismus wird auch den queeren Sektor noch länger beschäftigen.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Das Selbstbestimmungsgesetz ist da

Berichterstattung zum Gesetz bleibt unkritisch, obwohl viele Fragen offengeblieben sind

Am 1. November 2024 trat das umstrittene Selbstbestimmungsgesetz in Kraft. Auch jetzt schafften es die meisten Medien nicht, differenziert über das Gesetz zu berichten, was auch eine faire Darstellung der Kritik daran bedeutet hätte. Wie nachhaltig das Gesetz ist, muss sich noch zeigen.

Aktivist*in mit Prideflagge für Trans (Foto von ev auf Unsplash).

4. November 2024 | Till Randolf Amelung

Nun ist also das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft, für das Transaktivist*innen und ihre Unterstützer*innen so intensiv nach allen Regeln des NGO-Lobbyismus gestritten haben. Wie bekannt wurde, haben mit etwa mehr als 15.000 Anmeldungen weit mehr Menschen die Änderung ihres Vornamens und Geschlechtseintrags beantragt als ursprünglich erwartet. Dieses Gesetz löst das Transsexuellengesetz (TSG) und Paragraf 45b des Personenstandsgesetz für intergeschlechtliche Personen ab.

Statt Attest und Gutachten reicht eine Erklärung

Das TSG sah zuletzt noch zwei Sachverständigengutachten und ein Verfahren beim Amtsgericht vor. Transaktivist*innen fühlten sich durch die Begutachtungen in ihrer Menschenwürde angegriffen. Intergeschlechtliche Personen benötigten für eine Änderung des Vornamens und des Personenstands ein ärztliches Attest. Fortan reicht für alle Menschen eine einfache Erklärung auf dem Standesamt, ohne Nachweis über Trans- oder Intergeschlechtlichkeit. Für Minderjährige unter 14 Jahren können die Eltern diese Erklärung abgeben, ab dem 14. Lebensjahr können Jugendliche dies gemeinsam mit den Eltern tun. Eine wie auch immer geartete Beratung ist nicht erforderlich, es muss lediglich eine Versicherung abgegeben werden, dass man beraten wurde.

Keine ausgewogene Berichterstattung

Die bundesweite und lokale Medienberichterstattung zum Gesetz fokussierte sich vor und am 1. November vor allem darauf, Einzelpersonen in den Vordergrund zu rücken, die sich positiv über die Erleichterung äußern, kein Verfahren über das Amtsgericht mit zwei Gutachten mehr zu benötigen. Kritik am Gesetz kam kaum zur Sprache und wenn, wurde sie verkürzt oder verzerrt. Auch öffentlich-rechtliche Medien wurden ihrem Auftrag an ausgewogener Berichterstattung zum allergrößten Teil nicht gerecht.

In einem NDR-Beitrag beispielsweise, durfte sich die 23-jährige Transfrau Maylie aus Hamburg über das Selbstbestimmungsgesetz freuen und ausführlich darstellen, welche Erleichterung es für sie bedeutet, ihren Vornamen und Geschlechtseintrag per einfacher Erklärung auf dem Standesamt ändern zu lassen. Kritik am Gesetz wird auf „Kritikerinnen und Kritiker bemängeln, dass Menschen durch die vereinfachte Regelung leichtfertig Name und Geschlechtseintrag ändern und übereilte Entscheidungen treffen könnten“ eingedampft und schnell mit Maylies persönlicher Erfahrung abgebügelt, dass sie sich schon lange sehr sicher sei.

Vor allem kritischen Frauen geht es auch darum, dass mit den voraussetzungslosen Änderungen des Geschlechtseintrags Errungenschaften für und Sicherheit von Frauen gefährdet würden. Um zu erfahren, dass diese Befürchtungen berechtigt sind, reicht es, nach Spanien zu schauen. Dort ist seit etwas über einem Jahr ein mit dem deutschen vergleichbaren Gesetz in Kraft. Seither gab es zum Beispiel Männer, die mit dem Wechsel ihres Geschlechtseintrags von Frauenfördermaßnahmen profitieren oder sich vor höheren Strafen bei partnerschaftlicher Gewalt schützen konnten.

Kein Hinterfragen des affirmativen Ansatzes

Ebenfalls im NDR konnte Robin Ivy Osterkamp vom Queeren Netzwerk Niedersachsen und aus dem Vorstand des Bundesverband Trans* im Interviewgespräch mit Tim Krohn darlegen, warum das Selbstbestimmungsgesetz wichtig ist. Weder Krohn noch Osterkamp zeigten sonderlich viel Verständnis für Kritikpunkte. Als die Kritik der CDU/CSU an den Regelungen für Minderjährige zu Sprache kam, durfte Osterkamp erläutern, dass Transaktivisten eigentlich selbstverantwortete Änderungen ohne Sorgeberechtigte ab einem Alter von 14 Jahren wollten. Als Begründung wurde vorgebracht, dass man ansonsten transphoben Eltern ausgeliefert wäre und eine Unterdrückung von Transbedürfnissen negative Folgen für die psychische Gesundheit habe.

Diese Forderung und ihre Begründung ist Teil des gender-affirmativen Ansatzes, demzufolge man die Äußerungen über die Geschlechtsidentität auch bei Minderjährigen ohne Umschweife direkt zu bestätigen habe. Hinterfragt wird dies auch vom NDR-Moderator nicht, obwohl die internationalen Entwicklungen längst andere Erkenntnisse offenbaren. Im Ausland weiß man, dass nicht nur die Suizidzahlen von Aktivist*innen oftmals übertrieben sind, sondern dass mit einem affirmativen Ansatz Jugendliche durchs Raster rutschen, die eigentlich andere Lösungen für ihre Probleme brauchen.

Doch darüber erfährt man in den Medienbeiträgen zum Selbstbestimmungsgesetz nichts, und anscheinend fehlt es in vielen Redaktionen auch an Expertise, um Aktivist*innen die richtigen Fragen zu stellen.

Das wurde auch im „heute journal“ des ZDF im Gespräch zwischen Dunja Hayali und Influencer Fabian Grischkat deutlich. Grischkat durfte Kritik, Bedenken und Widerstand ausschließlich als Resultat von religiös-fundamentalistischen und rechtsextremen internationalen Netzwerken darstellen und dass die meisten Leute dem Ansinnen doch positiv gegenüberstünden, wenn man es ihnen richtig erkläre. Damit wiederholt er das perfide und auch sachlich falsche queeraktivistische Framing, dass eine Ablehnung dieses Gesetzes nur rechtsextremer Gesinnung entspringen könne.

Ebenso konnte Grischkat unwidersprochen behaupten, dass es überhaupt keinen bedenklichen Anstieg unter Minderjährigen gebe, die eine Transition anstreben. Dabei liegen unterschiedliche Zahlen aus verschiedenen Ländern, auch aus Deutschland, vor, die etwas anderes zeigen.

Immerhin gab es in den ZDF „heute“-Nachrichten noch einen Beitrag, wo tatsächlich auch kritische Stimmen zu Wort kamen, darunter der Erziehungswissenschaftler Bernd Ahrbeck und Teilnehmerinnen von der Protestveranstaltung der Initiative „Lasst Frauen sprechen“ in Berlin.

Umfragen und ihre Aussagekraft

Nun gab es im Vorfeld eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov  zum Selbstbestimmungsgesetz, deren Ergebnisse bedeuten würden, dass eine relative Mehrheit dafür sei. Nach YouGov befürworten 47 Prozent der Befragten das Selbstbestimmungsgesetz „nach allem, was sie darüber wissen“. 37 Prozent lehnen es ab. Im Gegensatz zur YouGov-Befragung zeigten mit Civey durchgeführte Umfragen von „Welt“ und „T-Online“ unter ihren Leser*innen, dass eine deutliche Mehrheit das Gesetz ablehnt.

Die Autorin Sigi Lieb weist in einem Kommentar auf LinkedIn darauf hin, dass solche Umfragen nur eine begrenzte Aussagekraft haben, und verweist auf die Antwort der zweiten YouGov-Frage: Dort gaben etwa drei Viertel der Befragten an, nur wenig oder nicht über den Inhalt des Selbstbestimmungsgesetzes informiert zu sein. Und auch diese Aussage beruht letztlich auf einer Selbsteinschätzung. Es ist nicht bekannt, wie gut die Befragten tatsächlich informiert sind.

Bei der „Ehe für alle“, also der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, sei das anders gewesen, so Lieb. Die Menschen wussten einerseits, was sich durch das Gesetz ändern würde. Und die Zustimmung lag im Vorfeld bei etwa zwei Drittel der Bevölkerung.

Pro-kontra-Umfragen zu komplexen Fragen, bei denen unklar ist, was die Befragten darunter verstehen, haben generell ein Validitätsproblem. Denn die Leute antworten auf das, was sie verstehen und das ist individuell sehr verschieden.

Eine tatsächlich informierte Auseinandersetzung hätte bedeutet, dass das Thema in allen Medien auch jenseits von herzerwärmenden persönlichen Einzelschicksalen aufgegriffen wird, inklusive kritisch-professioneller Distanz zum Framing queerer Aktivist*innen.

Bundestagswahl 2025 als Stimmungstest?

Wie sich nun also die gesellschaftliche Stimmung zum Gesetz entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Ebenso, ob es sich für die Ampel-Parteien 2025 an der Wahlurne positiv auswirken wird. Für die meisten Menschen mögen zwar andere Themen wie Wirtschaft am relevantesten für ihre Wahlentscheidung sein, aber ein schlecht gemachtes Gesetz, welches eine kulturell sensible Frage berührt, kann ebenfalls mitentscheiden, wo das Kreuz auf dem Wahlzettel gesetzt wird. Sollten vorher strittige Fälle viral gehen, die aus den Mängeln des Selbstbestimmungsgesetz resultieren, wird das sicherlich Einfluss auf die Stimmung unter Wähler*innen haben.

Unklar ist auch, ob die CDU/CSU das Selbstbestimmungsgesetz zumindest teilweise wieder rückgängig machen, beziehungsweise verändern werden, wenn sie wieder an die Regierung kommt. Immerhin gab es auch Bedenken von Sicherheitsbehörden, dass es das Gesetz Straftätern erleichtern könne, ihre Identität zu verschleiern. Gerade die Unionsparteien haben außerdem die Mängel beim Schutz von Kindern und Jugendlichen in den Vordergrund gestellt. Momentan sieht es nicht danach aus, als könnten SPD, Grüne oder gar FDP als stärkste Kraft aus der kommenden Bundestagswahl hervorgehen. Zu desaströs ist das Bild, das alle drei Parteien als Ampel-Regierung gerade abliefern. Daher könnte die Freude von Transaktivist*innen über dieses Selbstbestimmungsgesetz nur von kurzer Dauer sein.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Wahlen in Georgien: Alptraum für LGBT

Bei den Wahlen in Georgien hat die queerfeindliche und antiwestliche Partei Georgischer Traum (Kartuli Ozneba) die meisten Stimmen geholt, doch die Opposition erkennt das Ergebnis aufgrund von berichteten Unregelmäßigkeiten nicht an. Vor der Wahl hat der Literaturwissenschaftler Zaal Andronikashvili mit unserem Vorstandsvorsitzenden Jan Feddersen über die Bedeutung der Wahlen sowie Queerfeindlichkeit in Georgien gesprochen.

Viele Georgier*innen wollen sich nach Westen und Richtung Europäischer Union orientieren, wie dieses Bild einer prowestlichen Kundgebung aus dem Jahr 2023 zeigt (Foto von Sheldon Kennedy auf Unsplash).

28. Oktober 2024 | Till Randolf Amelung

Dieser Text erschien am 25. Oktober 2024 zuerst auf taz.de und wurde für den IQN-Blog um ein Statement zum Ausgang der Wahl ergänzt.

Georgien steht vor einer Schicksalswahl. Am 26. Oktober sind Parlamentswahlen. Die russlandfreundliche und queerfeindliche Partei Georgischer Traum hat laut Prognosen Aussichten, stärkste Kraft zu werden. Seit 2012 stellt die vom Oligarchen Bidsina Iwanischwili gegründete Partei die Regierung.

Ihre Nähe zu Russland manifestierte sich zuletzt in zwei Gesetzen: Erstens im Gesetz gegen „ausländische Einflussnahme“, mit dem die Arbeit von NGOs deutlich stärker kontrolliert und eingeschränkt werden soll. Georgiens EU-Beitrittsprozess liegt seitdem auf Eis. Zweitens hat Iwanischwilis Partei ein Gesetz zur Einschränkung der Rechte von LGBT erlassen. Konkret sind zum Beispiel Geschlechtsangleichungen oder Adoptionen von Kindern durch gleichgeschlechtliche Paare verboten. Dem russischen Vorbild folgend sind auch öffentliche Aufklärung, positive Berichterstattung oder Zusammenkünfte wie Prides verboten.

Der Literaturwissenschaftler Zaal Andronikashvili gibt im taz Queer Talk mit Jan Feddersen Einblicke in die aktuelle politische Situation des Landes und für queere Personen: „Diese Wahlen sind anders als die früheren Wahlen, weil sich entscheiden wird, ob Georgien sich endgültig zu einem autoritären Land entwickelt, sich von Europa komplett abwendet und in die russische Einflusssphäre zurückkehrt.“

Zuletzt bekräftigte der Oligarch Iwanischwili die autoritäre Ausrichtung seiner Partei, indem er ankündigte, Oppositionsparteien im Falle eines Wahlsiegs per Verfassungsänderung verbieten zu wollen. Iwanischwili, der in den 1990er Jahren in Russland zum Milliardär wurde, steht exemplarisch für die Formen des russischen Einflusses, wie Andronikashvili erläutert: „Georgien war in vielen Sachen dem russischen Einfluss, auch dem direkten Krieg ausgeliefert. Wir haben in diesen 30 Jahren unter ständiger Bedrohung gelebt und im Grunde auch in einem permanenten Kriegszustand, der am Anfang hybrider war, dann später nicht mehr so hybrid. Georgien hat es anders als baltische Staaten nicht geschafft, nach dem Zerfall der Sowjetunion das alte sowjetische Machtsystem zu demontieren. Es ist ein innenpolitischer Kampf für die Demokratie und es ist ein außenpolitischer Abwehrkampf gegen Russland.“

Verwestlichung – Verqueerung?

Teil der autoritären, antiliberalen Ideologie ist der Kampf gegen alles, was mit dem Westen verbunden wird. Dazu gehört auch der Schutz von Minderheiten. Andronikashvili zufolge platzieren der „Georgische Traum“ und Iwanischwili eine Verwestlichung, zum Beispiel durch „Verqueerung“ als Gefahr für Georgien. Eine Abwehr der Verwestlichung wird auch als Friedensgarant verkauft, im Wahlkampf wurden Bilder von Zerstörungen in der Ukraine dem unversehrten Georgien gegenübergestellt – als Warnung.

Zaal Andronikashvili sieht in dieser Politik eine eindeutige Handschrift Moskaus und eine spezifische Form von Queerfeindlichkeit, die er als politische Homophobie bezeichnet: „Ja, also es ist nicht nur einfach eine Queerfeindlichkeit, die im Alltag vorkommt und die kommt auch vor, auch in Georgien, auch im Kirchenmilieu, sondern politische Homophobie ist die Instrumentalisierung der Queerfeindlichkeit für politische Zwecke. Und diese Art der Queerfeindlichkeit oder Homophobie wurde tatsächlich in Russland erfunden.“

Das traditionelle Russland

Kerninhalt dieser Ideologie sei das traditionelle Russland, das mit Orthodoxie, traditionellen Werten in Verbindung gebracht werde, und in der Propaganda dem „verweichlichten, verqueerten Westen“ gegenübergestellt werde. Andronikashvili weist darauf hin, dass das sehr tiefe Wurzeln habe, die bis in die sowjetische Geschichte zurückreichten.

Im sowjetischen Staat spielte Gewalt eine zentrale Rolle, wie Andronikashvili erläutert: „Wenn man im Westen zum Beispiel davon ausgeht, dass Konflikte im Dialog gelöst werden können, kannte das sowjetische System nur Gewalt als Lösung eines Konfliktes. Und der Staat war natürlich der oberste Gewalttäter und der kleine Bürger war der staatlichen Gewalt ausgesetzt. Aber symbolisch in der Bildsprache war diese Figur aus dem Lager, also die Figur der sexualisierten Gewalt ausgesetzt wird, ein Symbol dessen, wer die absolute Gewalt erleidet. Dieses Bild wurde reaktiviert in Putins Russland. Das heißt, durch dieses Bild wird gezeigt, dass Russland auf Stärke, auf Männlichkeit basiert – so etwas wie diese kriminelle Gewalttätigkeit ausstrahlt, während der Westen schwach verweichlicht ist. Und eine Figur [für diese Verweichlichung] ist Queerness, um nicht zu sagen Homosexualität.“

Ein nötiges Feindbild

Die Regierungspartei „Georgischer Traum“ und ihr Chefdenker brauchen LGBT als Feindbild, da sie aufgrund der an sich hohen Zustimmungswerte zur EU in der georgischen Bevölkerung sonst wenig habe, um den Westen und insbesondere Europa zu dämonisieren, liefert Andronikashvili als einen Erklärungsansatz.

Dennoch zeigt er sich im Gespräch optimistisch: „Noch ist Georgien nicht verloren. Georgierinnen und Georgier können etwas machen. Das Mindeste, was sie machen können, ist wählen gehen. Aber auch die Unterstützung aus Europa ist sehr wichtig, sei es symbolische, sei es, dass man überhaupt weiß, was in Georgien vor sich geht.“

Ist der Wahlsieg redlich errungen?

Andronikashvili kommentiert gegenüber IQN den Ausgang der Wahlen so: „Große Zweifel bestehen darüber, ob die Parlamentswahlen in Georgien am 26.Oktober 2024 fair und frei waren – die Staatspräsidentin und die Opposition haben diese nicht anerkannt. Sollte der georgische Traum an der Macht bleiben, wird die georgische EU – Integration suspendiert und das Land wird in die russische Einflusssphäre geraten. Diese Entwicklung ist auch für die EU und ihre Ostpolitik ein herber Rückschlag.“

Hintergrund für die Vorwürfe sind Berichte über Manipulationen in Wahllokalen, Einschüchterungen von Wähler*innen, Gewalt gegen Beobachter*innen, die auch von Wahlbeobachter*innen der OSZE vorgebracht werden. Bei einer Wahlbeteiligung von knapp 60 Prozent, seien laut Wahlbehörde 54,8 Prozent auf die regierende Partei „Georgischer Traum“ entfallen. Die Opposition bereitet sich auf Proteste vor und fordert von westlichen demokratischen Staaten Unterstützung in der Form, dieses Wahlergebnis ebenfalls nicht anzuerkennen.

Auch die Staatspräsidentin Salome Surabischwili ruft die georgische Bevölkerung zu Protesten auf und beklagt laut taz.de: „Wir sind Zeu­g*in­nen und Opfer einer russischen Spezialoperation geworden, einer neuen Form eines hybriden Krieges gegen unser Volk und unser Land.“ Noch ist der weitere Verlauf dieser Auseinandersetzung offen.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Leihmutterschaft ist kein LGBTIQ-Recht!

In Italien wurde das gesetzliche Verbot von Leihmutterschaft verschärft. Italiener*innen dürfen nun auch nicht mehr im Ausland einen Kinderwunsch mit Leihmutter umsetzen. Kritik*innen nehmen das als Beleg für Giorgia Melonis LGBTIQ-Feindlichkeit. Doch das ist falsch.

Beleuchteter Umriss einer schwangeren Frau als Symbolbild für den Artikel zu Leihmutterschaft
Wie progressiv ist Leihmutterschaft? (Foto: Glitch Lab App auf Unsplash)

21. Oktober 2024 | Till Randolf Amelung

In Italien hat die Regierung unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni das gesetzliche Verbot von Leihmutterschaft verschärft. Künftig ist Leihmutterschaft und deren Inanspruchnahme nicht nur in Italien selbst verboten, sondern für italienische Staatsbürger*innen auch im Ausland. Bei Verstoß gegen das Gesetz können bis zu zwei Jahre Haft oder eine Geldstrafe von bis zu einer Million Euro fällig werden.

Opposition kritisiert Gesetz

Auf dem Kurznachrichtendienst X kommentiert Meloni die Gesetzesänderung: „Mit der heutigen endgültigen Verabschiedung im Senat ist der Gesetzentwurf, der die Vermietung der Gebärmutter unter Strafe stellt, endlich Gesetz. Eine vernünftige Regelung gegen die Kommerzialisierung des weiblichen Körpers und von Kindern. Menschliches Leben hat keinen Preis und ist nicht verhandelbar.“

Für die Opposition ist das Gesetz „mittelalterlich“ und nehme homosexuellen und unfruchtbaren Paaren die Möglichkeit, sich einen Kinderwunsch zu erfüllen. Einige deutsche Medien griffen diesen Spin auf und titelten z.B. „Meloni-Regierung  schränkt LGBTIQ-Rechte ein“. Die „Spiegel“-Journalistin Ann-Kathrin Müller twitterte: „Die ,gemäßigte‘ Frau Meloni, jaja“ und stellte dabei einen Zusammenhang zwischen dem Leihmutterschaftsthema und der Auslagerung von Asylverfahren nach Albanien her.

Doch diese Verknüpfung ignoriert, dass es fundierte Kritik am Leihmutterschaftskonzept gibt, auch eine, die aus linker und feministischer Richtung kommt.  Die Kritiker*innen sehen es so, dass es kein „LGBTIQ-Recht“ auf ein leibliches Kind gibt, wenn dies zu Lasten Dritter geht.

Leihmutterschaft ist Ausbeutung

Zur Erläuterung: Leihmütter finden sich zumeist in den ärmeren Teilen dieser Welt, und für viele Frauen ist es wirtschaftliche Not, die sie dazu treibt, sich auf ein solches Geschäft einzulassen.  Eine Schwangerschaft verlangt dem Körper einer Frau alles ab. Und selbstverständlich will die Kundschaft zumeist nicht einfach nur ein Kind, sondern es soll das Glück durch Makellosigkeit vervollkommnen. Doch dies geht nicht immer auf, und so gab es bereits Fälle, wo die Klientel die bestellte Ware nicht abgenommen hat, weil zum Beispiel eine Behinderung vorlag oder das Geschlecht nicht passte.

Beziehungsaufbau ist zumutbar

Melonis Regierung hat diesem Geschäftsmodell nun einen Riegel vorgeschoben. Dies ist begrüßenswert. Zumal es homosexuellen Paaren durchaus zuzumuten ist, sich für einen Kinderwunsch um zwischenmenschlichen Beziehungsaufbau zu bemühen.  Das meint mitnichten, Heterosex zu haben, sondern vielmehr Bündnisse auf Augenhöhe zu schließen und sich die Fürsorge zu teilen. Der biologisch notwendige Vorgang der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle lässt sich schließlich auch mit künstlicher Befruchtung regeln.

In modernen und aufgeklärten Gesellschaften können sich Sorgegemeinschaften auch jenseits der heterosexuellen Kleinfamilien organisieren.  Längst weiß man, dass diese kein Glücksgarant ist. Ebenfalls wären für gleichgeschlechtliche Paare Adoptionen möglich.  Doch diese sind nicht überall erlaubt, zum Beispiel in Melonis Italien.  Zudem hat die Regierung Melonis erwirkt, dass Individualentscheidungen, bei denen gleichgeschlechtliche Paare als Eltern in die Geburtsurkunde eingetragen werden, nicht mehr möglich sind und bereits erfolgte angefochten werden.

Israel gibt Leihmutterschaft für gleichgeschlechtliche Paare frei

Israel hingegen nimmt nun dank zweier Entscheidungen des von der rechtspopulistischen Netanjahu-Regierung unabhängigen und deutlich liberaleren Obersten Gerichtshofs eine gegensätzliche Entwicklung. Leihmutterschaft ist dort bereits legal, jedoch konnten bislang nur heterosexuelle Paare einen Kinderwunsch auf diese Weise umsetzen. Nun steht dies auch homosexuellen Paaren offen, die vorher eine Leihmutter im Ausland suchen mussten. Ebenso hat das Oberste Gericht geurteilt, dass gleichgeschlechtliche Paare nicht von einer Adoption ausgeschlossen werden dürfen.

Dass Israel im Gegensatz zu Italien Homos und Heteros mit Kinderwunsch gleichstellt, ist richtig. Denn Kinder brauchen rechtlich abgesicherte Sorgeberechtigte. Adoptionen sollten daher auch gleichgeschlechtlichen Paaren möglich sein, denn sie sind dem Kindeswohl nicht abträglicher, als es Heteropaare sind. Das konnte auch durch Studien belegt werden. Doch reproduktive Ausbeutung von Frauen als Leihmütter gehört nicht zu dem, was geschützt werden muss.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Eine Niederlage des feministischen Denkens – nach bestem Wissen und Gewissen 

Koschka Linkerhands neuer Essayband entsexualisiert Lesbischsein

In „Feministisch streiten 2“, ihrem neuen Sammelband, wirbt Koschka Linkerhand für Definitionen von „Frau“ und „lesbisch“, die mit den Dogmen des queeren Transaktivismus im Einklang zu stehen haben. IQN-Autorin Chantalle El Helou erläutert, warum dieses Vorhaben grotesk ist.

Das war auch auf dem diesjährigen Dyke* March Berlin unerwünscht: Ein klares Bekenntnis zur lesbischen Sexualität (Foto: Güleren E.)

16. Oktober 2024 | Chantalle El Helou

Ein Zitat Koschka Linkerhands bringt den Zustand desjenigen Feminismus, für den auch diese Autorin einzustehen bereit ist, auf den Punkt. Ihr geht es um eine Harmonisierung mit den ideellen Grundlagen des Transaktivismus: „Manchmal kommt sich eine cisweibliche Feministin im selben Raum mit schillernden Drag Queens und trans Frauen, die ihre Schönheit zelebrieren und sich politisch artikulieren, wie eine graue Maus vor. […] Warum erfährt diese andere Frau so viel politische und erotische Aufmerksamkeit? Hier wäre es kein guter Ausweg, der Schillernden ihre Weiblichkeit abzuerkennen, sich selbst als richtige Frau zu setzen und dabei in transfeindliche Ressentiments zu flüchten“ (Linkerhand 2023, S. 16). Immerhin: Dass burschikose Frauen hässlich, frustriert und missgünstig sind, darin sind sich sowohl Feministen als auch Antifeministen einig.

Ein als gemeinsam unterstelltes Leiden an der biologischen Binarität soll Ausgangspunkt sein, von feministischen Grunderkenntnissen und Kritiken abzuweichen und sich auf die Forderungen des Transaktivismus zuzubewegen. Konkret heißt das bei Linkerhand eine Neudefinition von Homosexualität und des Frauseins.

Linkerhands Geschlechtsbild

Linkerhand möchte den Frauen weismachen, dass die Leugnung der geschlechtlichen Binarität auch in ihrem Interesse wäre und arbeitet dafür vor allem mit Pappkameraden: „Die ‚volle Identifikation‘ mit einem Geschlecht und einem Geschlechtscharakter weist keinen Weg zur Befreiung, sondern richtet sich letztlich immer projektiv gegen Andere“ (Ebd., S. 12). Die Kritik am Transaktivismus wäre außerdem das „autoritäre Beharren auf einem Identischsein mit der Weiblichkeit […]“ (Ebd., S. 15).

Dass die Einsicht in die eigene Geschlechtlichkeit auf der projektiven Abgrenzung des Selbst vom Anderen beruhen würde, ist eine bloße Setzung Linkerhands, in der die Möglichkeit, eine Frau zu sein, ohne sich damit zu identifizieren, ausgeschlossen ist. Die Umstände des Frauseins als Frau zu kritisieren, setzt jedoch voraus, dass keine „volle Identifikation“ mit den sexistischen Geschlechtscharakteren stattgefunden hat.

Für Linkerhand besteht indes das Frausein als auch das Mannsein in der Harmonisierung mit dem sexistischen Stereotyp: Die Aussage, dass „männlich gemeinte Sozialisation auf ein Kind treffen kann, das trotz Penis und Hoden nicht die Möglichkeit hat, zum Mann zu werden, sondern vielmehr zur Frau wird […]“ (Daria Majewski 2018, zitiert nach Linkerhand 2023, S. 8, Hervorheb. i.O.), unterstellt, dass es Menschen gibt, die der geschlechtlichen Anforderung total entsprechen, eine „volle Identität“ aufweisen und das diejenigen, die das nicht tun, auch keine Männer bzw. Frauen sind, es also in Harmonie lebende stereotyp-männliche Männer und stereotyp-weibliche Frauen gibt. Führt man diesen Gedanken konsequent zu Ende, würde das auch bedeuten, dass „binäre“ Menschen nicht unter geschlechtlichen Rollen leiden, schließlich verwirklicht sich in ihnen die geforderte Stereotyp-Werdung.

Wieso ist Linkerhand dann aber als Frau – ihrer Definition nach ein Mensch, bei dem die weiblich gemeinte Sozialisation  fruchtete – selbst zur Kritik an sexistischen Verhältnissen in der Lage? Eine Kritik würde schließlich die Differenz einer Frau – also eines bereits geschlechtlichen Wesens – zu der potenziellen Bedeutung ihrer Geschlechtlichkeit in einer sexistischen Gesellschaft voraussetzen. Die Antwort ist, dass Linkerhand die Distanz zwischen dem konkreten Frausein und dem Klischee annehmen muss, ohne ihre Herkunft begründen zu können. Sie muss stillschweigend die Nichtidentität der Frau mit dem Klischee über die Frau voraussetzen – was bedeutet, dass auch für Linkerhand eine vorgesellschaftliche, eine körperliche Frau existiert.

Koschka Linkerhand: Feministisch streiten 2, Berlin: Querverlag 2024, ISBN: 978-3-89656-348-4, 240 Seiten, broschiert, 20 Euro.

Um nun aber ihren Schlag gegen die biologische Binarität auszuführen, muss sie die Ermöglichungsbedingungen ihrer eigenen Kritik leugnen und ihre Annahmen verleumderisch gegen andere richten. Nicht sie selbst, sondern die anderen würden die Geschlechterzwänge reproduzieren: „Das Beharren auf Binarität verlangt eine geschlechtliche Eindeutigkeit, die die Geschlechterzwänge des kapitalistischen Patriarchats wiederholt“ (Linkerhand 2023, S. 11).

Tatsächlich ist es gerade die Behauptung, es gäbe kein biologisches Geschlecht, die die Geschlechterzwänge reaktiviert. Wenn Geschlecht nichts Materielles ist, dann ist Geschlecht zwangsläufig nicht außerhalb des geschlechtlichen Stereotyps denkbar. Wenn man danach fragt, was eine Frau ist, zur Beantwortung dieser Frage aber nicht mehr auf den Körper referieren kann, bleibt nur die Antwort: Eine Frau ist das, was die sexistische Gesellschaft darunter versteht. Dann sind nur noch die Geschlechterzwänge geschlechtlich.

Die Behauptung, dass „Binarität […] Weiblichkeit und Männlichkeit als zwei säuberlich voneinander getrennte, übergangslose Phänomene“ (Ebd.) setzt, ist unbegründet fatalistisch. In ihrer Vorstellung hat die biologische Binarität des Geschlechts zwangsläufig polare Geschlechtscharaktere zur Folge, sie kann sich die Binarität nicht mit anderen oder ohne Folgen vorstellen. Deswegen dürfen die Körper nicht binär sein. Was hier als Vorwurf an die sogenannten Radikalfeministinnen gedacht ist, zeugt von Linkerhands eigener Verwirrtheit: Nicht der gesellschaftliche Umgang mit der binären Differenz der Körper gilt ihr als diskriminierend, sondern die Differenz selbst, weswegen diese geleugnet werden muss.

In diesem Sinne betreibt Linkerhand selbst Biologismus. Ihre Annahme ist: Wäre der Geschlechtskörper binär, hätte diese Binarität auch totale Wirkungsmacht.

Die Wiederkehr des Phallozentrismus

Damit aber nicht genug: Die Versöhnung mit dem Transaktivismus erfordert auch die Erledigung der Homosexualität. Linkerhand bemängelt, dass es im transkritischen Feminismus nicht vorrangig um die Feier von Vulven, sondern „um die Abwehr der Penisse von trans Frauen […]“ ginge (Ebd., S. 7). Warum Penisse nicht abgelehnt werden dürfen, ist fraglich: Lesbischsein heißt immerhin nicht nur einen sexuell-positiven Bezug zu Vulven zu hegen, sondern Penisse abzulehnen.

Die Lesbe begehrt ja nicht nur auch Frauen neben Männern, sondern ausschließlich Frauen. Die Frauen, die beides begehren, nennt man Bisexuelle. Die Lesbe steht dem männlichen Körper auch nicht neutral gegenüber. Im Phänomen der weiblichen Homosexualität ist die sexuelle Anziehung zum weiblichen Körper genauso inbegriffen wie die Ablehnung des männlichen. 

Linkerhand hat aber ihren Ausführungen entsprechend einen „[…] großen Widerwillen dagegen, Lesbischsein auf den expliziten Ausschluss von Männern oder trans Frauen zu gründen. Ich möchte es auf Lust gründen und ein offenes und lebendiges Zugehen auf Menschen und auf die Welt. Ich möchte es auf Neugier und ein Begehren gründen, das in erster Linie anderen Frauen gilt und möglichst frei ist von heteronormativen, frauen­- und sexualfeindlichen Beschränkungen; ein Begehren, das durchlässig ist in Richtung Sympathie, Freundschaft, spannende Alltagsbegegnungen, politische und kollegiale Zusammenarbeit“ (Linkherhand 2024, S. 331f.).

Weltoffenheit ist gut und schön. Weder ist aber eine unbeschränkte Sexualität notwendige Bedingung für Weltoffenheit noch ist das umgekehrt der Fall (Feddersen 2018, S. 184 f.). Für das Phänomen der Weltoffenheit gibt es bereits einen Begriff, nämlich „Weltoffenheit“ und keinen Grund, dasselbe Phänomen nun „lesbisch“ zu nennen.

Vergeistigung des Lesbischen

Damit das Lesbischsein möglichst inklusiv ist, muss es alles beinhalten, außer der Sexualität. Linkerhand betreibt hier die für ihr Projekt der Transinklusion notwendige Entsexualisierung des Sex: „Mit einem solchen weit offenen Sinn für Liebesobjekte will ich mein weibliches Begehren verstehen […]“ (Ebd., S. 332) – und genau das ist es; die Reproduktion der Erzählung vom Weibchen. Offen und flexibel wird die Sexualität bis hin zur allgemeinsten Regung und Beziehung ausgeweitet. Exemplarisch dafür ist die Tabuisierung des sexuellen Akts selbst. Für Sex müsste man sich schließlich eine konkrete körperliche Interaktion vor Augen führen, die Linkerhands Vergeistigung des Lesbischen diametral entgegensteht.

Das Lesbischsein soll zu höherem als Sex bestimmt sein. Diese Argumentation ist so perfide, weil sie behauptet, sich selbst längst nicht mehr mit Sex und der dazugehörigen Geschlechtlichkeit abzugeben, zielt aber auf die Sexualität von Lesben ab. Der Aktivismus von Transfrauen in Lesbenräumen ist eben einer des Anspruchs gegenüber Frauen, Teil ihrer Sexualität zu sein. Lesben werden im Transaktivismus nicht ausgeschlossen, es ist ein Projekt, sich in ihre Sexualität zu inkludieren. Die Aussage „Transfrauen sind Frauen“ zielt immer schon darauf ab, eine Transfrau auch als potenzielles Objekt lesbischen Begehrens zu definieren.

Mit der Ausgrenzung von Transfrauen würde man sich somit „verschanzen […] gegen eine offene, welthaltige Auseinandersetzung“ (Linkerhand 2023, S. 11). Lesben seien verstockte Partikularisten und damit ein Hindernis auf dem Weg zu einem besseren Leben für alle. Die Homosexualität muss dementsprechend für ein „utopisches feministisches Denken […]“ (Ebd., S. 15) geopfert werden – natürlich nach bestem Wissen und Gewissen, nicht zuletzt in ernster Sorge um die Lesben selbst.

Mutlose Thematisierung des Frauenkörpers

Mutlos kommen dagegen Linkerhands Forderungen einher, Frauenkörper zu thematisieren. Das ist nur folgerichtig: Wer seitenweise Text darauf verwendet, die Nichtigkeit des Körpers für Geschlechtlichkeit und Sexualität zu behaupten, gerät am Ende dieser Ausführungen gegenüber jenen in eine Bettelposition, bei denen man sich über diese Zugeständnisse Legitimität verschaffen will. Und so hofft Linkerhand, der Transaktivismus möge nicht allzu konsequent sein: „Einzubeziehen, dass nicht alle Frauen eine Vulva haben, darf nicht bedeuten, Vulven und cisweibliche Körpererfahrungen zu dethematisieren. Hier müssen die jahrzentelangen Kämpfe älterer Feministinnen, die Kategorie Frau auf allen Ebenen der Gesellschaft zu etablieren, ernstgenommen werden […]“ (Ebd., S. 16).

Warum sie vom Transaktivismus allerdings ernst genommen werden sollten, kann Linkerhand selbst nicht begründen. Es scheint: Aus Nostalgie und reinem Respekt vor dem Alter, nicht jedoch, weil die Körperlichkeit selbst von Belang wäre.

Literaturverzeichnis

Feddersen, Jan, »Es gibt kein queeres Begehren«. Jan Feddersen im Gespräch mit dem Sexualwissenschaftler Martin Dannecker, in: Jahrbuch Sexualitäten 2018, hrsg. v. Janin Afken, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen und Benedikt Wolf,  Göttingen 2018, S. 175-200.

Linkerhand, Koschka, Gegen das Beharren auf Binarität, 2023.

Linkerhand, Koschka, Feministisch streiten 2, Berlin 2024.


Chantalle El Helou, geb. 2000, B.A. in Politikwissenschaft, zurzeit Masterstudium in Gesellschaftstheorie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; auf Ideologiekritik fokussiert, Publikationen zur Kritik an Prostitution, Queertheorie und Antizionismus, engagiert im lesbischen Nachtleben Berlins.


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Offene Briefe und Heuschrecken gegen Evidenz

Transaktivisten unterdrücken Debatte um Pubertätsblocker

Transaktivist*innen und ihre Verbündeten wünschen offenbar keine sachlichen und differenzierten Debatten um das gender-affirmative Modell mit Pubertätsblockern, obwohl wissenschaftliche Untersuchungen im Ausland längst ihre schwache Evidenzbasis aufgezeigt haben. Mittel der Wahl sind Lenkung von Debatten, Offene Briefe und zuletzt auch Heuschrecken.

Debattenkultur im Transaktivismus: Unangenehme Fakten sollen bitte schnell von der Bühne verschwinden (Bild von freepik).

13. Oktober 2024 | Till Randolf Amelung

Die immer noch nicht veröffentlichte, in Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz dann gültige S2k-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und -dysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik und Behandlung“, die unter der Leitung des Psychiaters Georg Romer erarbeitet wurde, sorgt weiter für Kontroversen. Grund ist insbesondere der Umgang mit Pubertätsblockern und einer zügigen Bestätigung der minderjährigen geschlechtsdysphorischen Patient*innen in ihrem Streben nach einer Geschlechtsangleichung.

Wichtige Fachgesellschaften lehnen affirmative S2k-Leitlinie ab

Vor allem im Laufe dieses Jahres haben sich vermehrt auch aus der Ärzteschaft kritische Stimmen zu Wort gemeldet. Mindestens zwei medizinische Fachgesellschaften, die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V.  (DGPPPN) und die Schweizerische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (SGKJPP), haben im Juni verkündet, die Leitlinie in der vorliegenden Form nicht akzeptieren zu wollen.

Nun sollte auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP), der vom 18. bis 21. September in Rostock stattfand, zum Thema „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie – wie sollte die klinische Versorgung gestaltet werden?“ diskutiert werden. Eingeladen waren von den Befürwortenden der neuen Leitlinien Georg Romer und Sabine Maur, die Kritikerseite sollte von Florian Zepf und Veit Roessner vertreten werden.

Keine Diskussion auf DGKJP-Kongress

Doch die Diskussion kam nicht zustande, weil Roessner und Zepf ihre Teilnahme zurückzogen. Grund war, dass ihnen kurz vorher plötzlich Vorgaben gemacht wurden, die gerade sie als Kritiker der Leitlinien benachteiligt hätten – insbesondere deutlich kürzere Redezeit und Vorgaben, zu welchen Aspekten überhaupt etwas gesagt werden darf. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung heißt es, Zepf sollte lediglich sieben Minuten Redezeit erhalten, Rössner nur wenig mehr. Maur und Romer hätten dagegen 15 bzw. 20 Minuten sprechen dürfen. Es seien auch Vorgaben gemacht worden, zu welche Punkten sie sich äußern sollten und welche Themen auszulassen sind.

Allerdings war dies nicht die einzige Merkwürdigkeit. Nachdem die Diskussion nun mangels Kritiker auf dem Podium zu einer Präsentationsveranstaltung wurde, traute man sich anscheinend dennoch nicht in den offenen Austausch mit dem Publikum. Wie in der FAZ berichtet und in Hintergrundgesprächen bestätigt wurde, seien gar die Diskussionsfragen vorgegeben worden, d.h. auf Power-Point-Folien vorbereitet eingeblendet.

Ein Arzt, der anonym bleiben will, betonte im Gespräch mit IQN, dass ihn diese Vorgänge sehr irritiert hätten und es etwas Vergleichbares im fachwissenschaftlichen Kontext noch nie gegeben habe. Dies sei kein Vorgehen, was man in einer wissenschaftlichen Fachgesellschaft erwarte. Tobias Banaschewski, Klinikdirektor aus Mannheim und ehemaliger Präsident der DGKJP, äußerte sich dazu in einem YouTube-Video: „Offensichtlich sind wir in Deutschland nicht in der Lage, differenziert einen Schritt zurückzutreten und uns von ideologischen Positionen zu verabschieden.“

Umstrittene Pubertätsblocker

Der gender-affirmative Ansatz, der bei Minderjährigen auf die schnelle Bestätigung der biographisch aktuellen Geschlechtsidentität inklusive Gabe von Pubertätsblockern setzt, ist inzwischen weltweit umstritten. Zumal andere mögliche Ursachen für das Empfinden von Geschlechtsdysphorie nicht ergebnisoffen mit den Klient*innen in einem psychotherapeutischen Setting erkundet werden sollen. Das wird gerade von Transaktivist*innen als „Konversionstherapie“ verschrieen, aber auch Sabine Maur, eine an der S2-Leitlinie beteiligte Psychotherapeutin, vermittelt eine solche Auffassung.

Mehrere Untersuchungen der Evidenzbasis in verschiedenen Ländern haben jedoch gezeigt, dass die medizinische Tauglichkeit für diesen Ansatz nur unzureichend gegeben ist. Das bedeutet, das Verhältnis von Nutzen und Risiken dieses Behandlungskonzept kann nicht gut dargestellt werden. Länder wie Großbritannien, Schweden, Finnland oder Dänemark haben den gender-affirmativen Ansatz daher längst wieder aufgegeben. Auch in weiteren Ländern, darunter Frankreich, Italien, Norwegen und die Niederlande wachsen die Zweifel.

Die Verfasser*innen der deutschen S2-Leitlinien betonen, sie hätten sich mit alldem auseinandergesetzt; die Kritik, es würde zu vorschnell mit Pubertätsblockern behandelt, sei unbegründet. Fraglich ist, warum man dann offenbar Schwierigkeiten hat, über all das souverän mit Kritikern offen zu diskutieren?

Offener Brief gegen missliebige Berichterstattung

Nicht nur fachwissenschaftliche Konferenzen, auch Fachmedien sollen auf ideologische Linie gebracht werden: Im August dieses Jahres veröffentlichte ein Zusammenschluss von Transaktivist*innen und ihnen verbundenen Ärzt*innen einen Offenen Brief, in dem sie sich gegen ihnen nicht genehme Berichterstattung im Deutschen Ärzteblatt wandten. Im Fokus der Kritik stehen besonders Artikel von Martina Lenzen-Schulte, die darin wiederholt auch unterbelichtete, da Schattenseiten von geschlechtsangleichenden Behandlungen thematisierte.

Die Journalistin Berit Uhlmann attestierte den Aktivist*innen in der Süddeutschen Zeitung ein „eigenartiges Verständnis davon, wer sich zu einem Thema äußern darf und wer nicht“. Bereits im März wurde versucht, Druck auf das Deutsche Ärzteblatt auszuüben, dass Lenzen-Schulte dort keine kritischen Texte zu Transthemen mehr veröffentlichen soll.

Eine offene Debatte wäre aber gerade in der Wissenschaft und vor allem in der Medizin wichtig, um mögliche Fehlentwicklungen und Schwächen von Ansätzen zu erkennen und entsprechend in die Entwicklung von Leitlinien sowie die Behandlungspraxis einfließen zu lassen. Die Erkenntnisse zu der schwachen Evidenz des gender-affirmativen Ansatzes mit Pubertätsblockern bei Minderjährigen zeigen die Dringlichkeit einer solchen Auseinandersetzung mehr als deutlich auf. Doch sie ist offenbar von Transaktivist*innen und einigen Ärzt*innen nicht gewünscht.

Diskursblockade auch in US-amerikanischen Fachgesellschaften

Diese offensichtlich politisch-ideologisch motivierte Diskursblockade, die bis in medizinische Fachgesellschaften hineinreicht, ist jedoch keine deutsche Ausnahme. In den USA betrifft es zum Beispiel die American Academy of Pediatrics (AAP). In einem Gastkommentar in der Zeitung The Hill beklagt der Arzt Christopher Kaliebe, dass auch in dieser Fachgesellschaft nicht sachlich und offen über den aktuellen Evidenzstand des gender-affirmativen Modells diskutiert werden kann.

Auf der diesjährigen Konferenz der AAP wurde Rachel Levine, stellvertretende Gesundheitsministerin der USA, zur Hauptrednerin auserkoren. Laut kürzlich in einem Gerichtsverfahren enthüllter E-Mails habe Levine im Jahr 2022 Druck auf die World Association for Transgender Health (WPATH) ausgeübt, um das Mindestalter für geschlechtsangleichende Operationen aus den Standards of Care zu streichen. Es gab schon damals ausreichend Hinweise, dass dies unverantwortlich ist.

Cass-Report stellt Genderambulanz vernichtendes Zeugnis aus

Im April 2024 erschien in Großbritannien der Abschlussbericht des Cass-Reports. Die Autorin, Hilary Cass, hatte den Auftrag erhalten, die Behandlungsqualität der damals einzigen Ambulanz für Minderjährige mit Geschlechtsdysphorie in der Londoner Tavistock-Klinik zu untersuchen. Cass stellte dieser ein vernichtendes Ergebnis aus, mit der Folge, dass diese Ambulanz schließen musste und der National Health Service (NHS) die Versorgung für diese Patientengruppe neu strukturiert hat.

Ein wichtiger Punkt war, dass es in den letzten Jahren zu einem starken Anstieg unter biologisch weiblichen Teenagern gekommen ist, die eine Transition wollten. Bisher weiß niemand, woher dieser starke Anstieg kommt. Cass ermittelte in ihrer Untersuchung, dass viele aus dieser Gruppe eine Reihe erheblicher Begleiterkrankungen sowie schwerwiegender biografischer Umstände mitbrachten, die nicht angemessen in der Behandlung gewürdigt wurden. Statt intensivere, explorative Psychotherapie wurde auf die zügige Gabe von Pubertätsblockern gesetzt. Auch intern gab es deshalb Kritik, doch ehemalige Mitarbeiter*innen der Londoner Ambulanz klagten, dass darüber keine Diskussion möglich war.

Zunahme von Transitionsbegehren auch in Deutschland

Auch für Deutschland ist ein Anstieg in dieser Patientinnengruppe belegt. Das zeigt zum Beispiel eine Analyse von Daten der gesetzlichen Krankenversicherung, über die auch das Wissenschaftsmagazin Spektrum der Wissenschaft berichtete. Ein Team um Psychiater Christian Bachmann vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf wertete Abrechnungsdaten für die Jahre 2013 bis 2022 aus. Gezählt wurden alle vergebenen Diagnosen einer „Störung der Geschlechtsidentität“ und verwandter Diagnosen. Unter fünf- bis 24-Jährigen Versicherten stiegen die Zahlen auf rund das Achtfache. Sehr auffällig war der Anstieg bei 15- bis 19-jährigen biologisch weiblichen Teenagern.

Bemerkenswert war auch, dass bei vielen die Diagnose nicht dauerhaft war, wobei Gründe hierfür nicht aus den Daten entnommen werden konnten. Ebenso auffällig war, dass viele der Patientinnen begleitende psychische Erkrankungen aufwiesen. Besonders häufig waren Depression, Borderline-Störung, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder posttraumatische Belastungsstörung. Dies deckt sich mit den Befunden von Hilary Cass, aber auch anderer Untersuchungen, wie zum Beispiel in Schweden oder Finnland. Um dies für Deutschland einzuordnen, wäre eine seriöse fachwissenschaftliche Auseinandersetzung umso wichtiger.

Heuschrecken gegen Konferenz von Homosexuellen

Da unter diesen geschlechtsdysphorischen Jugendlichen auch viele mit einer krisenhaften homosexuellen Entwicklung sind, distanziert sich seit einigen Jahren eine wachsende Zahl Lesben und Schwule von dem gender-affirmativen Modell. Dazu zählt auch die 2019 in Großbritannien gegründete Organisation LGB Alliance. Um den Austausch zu fördern, hält die LGB Alliance jährlich eine eintägige Konferenz ab.

In diesem Jahr fand sie am 11. Oktober in London statt. Im Programm angekündigt war auch die US-amerikanische Krankenpflegerin Jamie Reed, die selbst in einer Genderklinik gearbeitet und schließlich Missstände öffentlich gemacht hatte. Darunter zum Beispiel die miserable Betreuung von Jugendlichen mit erheblichen Begleiterkrankungen und denjenigen, die gesundheitliche Probleme durch die Behandlung mit Pubertätsblockern und gegengeschlechtlichen Hormonen bekommen haben. Als Reeds Panel beginnen sollte, ließen sechs weibliche Teenager, die sich unter das Publikum gemischt hatten, 6000 Heuschrecken frei, die sich im gesamten Konferenzsaal verteilten.

Faika El Nagashi, österreichische Nationalratsabgeordnete für die Grünen, war vor Ort und hätte ebenfalls noch in einem Programmteil sprechen sollen. Während Reeds Auftritt kurzerhand in einen anderen Raum verlegt wurde, musste ihr Auftritt abgesagt werden, dieser Punkt soll online nachgeholt werden. „Diese ganze Aktion war so unnötig! Ich sehe das als klaren Angriff auf eine Veranstaltung von und für Homosexuelle, aber wir werden uns davon nicht einschüchtern lassen! Diese jungen Menschen wurden offensichtlich für den homophoben Angriff auf die Konferenz instrumentalisiert. Diejenigen, die dahinterstehen, werden sich verantworten müssen“, sagte El Nagashi gegenüber IQN.

Attacke gegen Vortrag von Jamie Reed

Inzwischen bekannte sich die Organisation Trans Kids Deserve Better in einem Instagram-Video mit einer als Heuschrecke verkleideten Person zu der Störaktion, wie queer.de berichtete.  Es wurde deutlich, dass Jamie Reeds Vortrag das Ziel dieser Aktion gewesen ist: „Unsere Quellen vor Ort sagen uns, dass die Rede von Jamie Reed über die Abschaffung der Gesundheitsfürsorge für trans Menschen von diesen mutigen Insekten gestoppt wurde, wobei Tausende von sechsbeinigen Freunden aus Protest herumhüpften.“ Und: „Diese Insekten haben beschlossen, Transfeindlichkeit zu bekämpfen, und setzen sich gerade jetzt für trans Jugendliche ein, mit hochgehaltenen Fühlern.“

Die jungen Frauen wurden von der Security festgehalten, die Polizei nahm die Personalien auf und ließ sie von den Eltern abholen. Die zu erwartenden Reinigungskosten und mögliche Schadensersatzforderungen seitens des Veranstaltungsortes werden den Täterinnen und ihren Familien sicherlich noch Freude bereiten. Gegenüber der britischen Tageszeitung The Telegraph sagte die Vorsitzende der LGB Alliance, Kate Barker: „Sie versuchen, eine vernünftige Debatte mit albernen Taktiken zu unterdrücken. Ich bedaure auch die Grillen, die zerquetscht wurden. Wir haben viele Veganer und Vegetarier, die darüber sehr unglücklich sind.“

Unrechte Methoden

Festzuhalten ist: Wem keine besseren Mittel einfallen, als fachwissenschaftliche Veranstaltungen in bester Politbüro-Manier lenken zu wollen, Medien mit Offenen Briefen unter Druck zu setzen oder gar Konferenzen mit Heuschrecken zu sabotieren, hat Unrecht und weiß höchstwahrscheinlich selbst, auf welch tönernen Füßen die eigenen Argumente stehen.

Es bleibt zu hoffen, dass sich immer mehr Menschen davon nicht einschüchtern lassen und solche Aktivist*innen in die Schranken verweisen, damit endlich eine fachlich angemessene Auseinandersetzung über den bestmöglichen Umgang mit Geschlechtsdysphorie bei Minderjährigen beginnen kann.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Will Alfonso Pantisano Probleme unter den Teppich kehren?

Sprechen über Tätergruppen bei Homophobie und sexueller Belästigung unter Rassismusverdacht

Alfonso Pantisano, der Queerbeauftragte Berlins, hat seinen Parteigenossen Kevin Kühnert für Äußerungen über Tätergruppen, von denen häufiger aggressive Homophobie ausgeht, scharf angegriffen. Nun wird er selbst mit Kritik überschüttet.

Probleme verschwinden nicht, wenn man sie nicht sehen will (Foto von Taras Chernus auf Unsplash).

9. Oktober 2024 | Till Randolf Amelung

Der Berliner Queerbeauftragte Alfonso Pantisano steht mal wieder im Kreuzfeuer der Kritik, nachdem er seinem Parteigenossen Kevin Kühnert am 4. Oktober vorwarf, mit Äußerungen über Tätergruppen aggressiver homophober Attacken rassistische Ressentiments zu bedienen.

Grund sind Äußerungen des inzwischen aus gesundheitlichen Gründen zurückgetretene SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel.  Kühnert sagte:

„Klassische Treiber von Homophobie sind unter anderem streng-konservative Rollenbilder und religiöser Fundamentalismus. Außerdem hat aggressive Homophobie ein klar männliches Gesicht. Und so kommt es in meinem Erleben aus muslimisch gelesenen Männergruppen häufiger zu einem homophoben Spruch, als man es sonst auf der Straße erlebt. Natürlich ist der Großteil der Muslime in meinem Wahlkreis nicht homophob. Aber die, die es sind, schränken meine Freiheit ein und haben kein Recht darauf. Und darüber werde ich nicht aus taktischen Gründen schweigen.“

Pantisanos Reaktion auf Kühnerts Interview

Pantisano  reagierte noch am selben Tag auf seinen Social-Media-Profilen scharf:

„Lieber Kevin, echt jetzt? Wir wollen hier alle nichts verharmlosen, denn die Gefahr, die durch Queerfeindlichkeit ausgeht, ist für unsere Community mehr als real. Doch während Du hier behauptest, ein Großteil der muslimischen Community sei nicht „schwulenfeindlich“, erzeugst Du genau dieses horrende Bild. […] Die Queerfeindlichkeit ist überall präsent. Diese hat auch viel mit Religionen zu tun, ja – aber warum wir uns immer die Muslime als singuläres Phänomen rauspicken, bleibt mir schleierhaft.“

Besonders störte sich Pantisano an Kühnerts Formulierung „muslimisch gelesen“ und postete noch ein älteres Foto von sich in Kufiya, was aus seiner Zeit als Model für Werbekampagnen stammt. Da er auch Werbefotografien im arabischen Raum zierte, wollte er damit demonstrieren, dass er auch muslimisch gelesen und unter Generalverdacht gestellt werden könne.

Alfonso Pantisano auf Instagram (Foto: Eigener Screenshot).

Cem Özdemirs Tochter und Unsicherheit im öffentlichen Raum

Vor Kühnert äußerte sich der grüne Landwirtschaftsminister in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und sprach darüber, dass seine Tochter und ihre Freundinnen im öffentlichen Raum zunehmend Unsicherheit aufgrund aggressiver sexueller Belästigung vornehmlich durch junge Männer aus dem arabischen Raum erleben. Auch dies tut Pantisano verächtlich ab: „Dient es der Rhetorik und dem Storytelling eines Cem Özdemir, der jetzt plötzlich eine Veränderung in der Wahrnehmung von Frauen durch migrantische Männer feststellen will – eine Veränderung, die früher anders, also besser, gewesen sein soll? Und die es bei den Männern ohne Migrationsbiographie nicht gibt? Wirklich?“

Der umstrittene Tweet vom 22. Januar 2022 (Foto: Screenshot auf X).

Dass für Pantisano die Wahrnehmung von Frauen nicht viel zählt, bewies er schon ein Jahr vor seiner Ernennung als Queerbeauftragten, als er Redakteurinnen der „Emma“ auf X als „Hündinnen“ bezeichnete. Alice Schwarzer und das von ihr gegründete Blatt sind im aufgrund ideologisch nicht genehmer Äußerungen zum Thema „Trans“ ein Dorn im Auge. Der Tweet wurde kurze Zeit danach von ihm gelöscht, inklusive Entschuldigung.

Sachliche Diskussion über Tätergruppen nicht möglich

Pantisanos Haltung und die Verunmöglichung einer sachlichen, aber präzisen und konstruktiven Problembeschreibung, von wem im öffentlichen Raum aggressive Homophobie sowie sexuelle Belästigung häufig ausgeht, waren in den vergangenen Jahren der Sound im linksprogressiv geprägten Aktivismus. Inklusive krudem Gefasel von einem vermeintlichen Homonationalismus.

Doch inzwischen haben immer mehr Menschen auch in linken und queeren Kreisen die Nase voll davon, nicht über den Elefanten im Raum sprechen zu dürfen. Unter Pantisanos Instragram-Postings kann man eine Vielzahl Kommentare finden, die Kühnert beipflichten. Auch Prominente wie der ehemalige Bundestagsabgeordnete für die Grünen, Volker Beck, meldeten sich zu Wort. Auf Facebook kommentierte er unter Pantisanos Beitrag: „Aber Problemlagen verleugnen oder aufhübschen ist halt gefährlich. Bin froh, dass die SPD Berlin hier ihren Kurs neu justiert. Linke Politik muss die Probleme lösen, um die Hegemonie der Rechten zu verhindern oder zu brechen.“

Der CDU-Politiker und ehemalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sprang Kühnert nun ebenfalls im Tagesspiegel bei: „Der reflexhafte Rassismus-Vorwurf ist Unsinn. Es ist schlicht die Realität: Deutschland ist durch irreguläre Migration homophober, frauenfeindlicher und gewaltaffiner geworden.“

Und LSVD-Bundesvorstandsmitglied Erik Jödicke antwortete Pantisano auf Instagram: „Ich sehe deinen Punkt, aber gleichzeitig sehe ich, dass wir die Debatte um alle Formen von LGBTIQ*feindlichkeit und auch Antisemitismus, auch derjenigen, die von muslimisch sozialisierten Menschen ausgeht, als Demokrat*innen in einem demokratischen Diskurs führen. Das tut weh das weiß ich. Aber wenn das Thema von den Nazis von rechts übernommen wird, dann wird das der Schade von all den Muslim*innen sein, die überhaupt kein Problem mit LGBTIQ* oder Juden haben.“

Auch der Islamismus-Experte Ahmad Mansour äußerte sich auf X dazu: „Die SPD, genauso wie die Grünen, täten gut daran, gerade jetzt die identitätspolitischen Kräfte in den eigenen Reihen zu erkennen und kritisch zu hinterfragen. Es gibt auch andere Wege, Antirassismus und sexuelle Selbstbestimmung zu fordern, ohne dass jede Kritik an Missständen in der muslimischen Community sofort als islamophob oder als „Wasser auf die Mühlen der AfD“ abgestempelt wird. Mit diesen Kräften ist eine offene Debattenkultur kaum möglich.“

Rücktrittsforderungen aus der SPD

Inzwischen werden aus der Berliner SPD Rücktrittsforderungen an Pantisano laut, der schon bei seinem Amtsantritt als umstritten und egozentrisch galt. Dem Tagesspiegel liegt ein Offener Brief vor, in dem es heißt: „Wir sagen ganz deutlich, Du vertrittst uns als Schwule, Lesben und Bisexuelle, die wir in der SPD jenseits der AG Queer Politik machen, nicht mehr.“ Der „Tagesspiegel“ zitiert weiter: „Kühnert habe ausdrücklich eine Mehrheit der muslimisch Gläubigen in Deutschland von seiner Aussage ausgenommen, beschreibe aber eine Realität, „die jeder und jede von uns erleben musste“.“ Schließlich warfen die Parteigenoss*innen Pantisano vor, „Debatten zu verhindern und Menschen mundtot zu machen“.

Von der woken Diskursabwürgung profitiert allein eine rechtspopulistische und in Teilen bereits rechtsextreme Partei namens AfD. Wir brauchen eine Politik, die Probleme klar ansprechen kann. Denn nur so können sinnvolle Lösungen entwickelt werden. Das erwarten Menschen mit und ohne Migrationshintergrund in unserem Land.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Opferrolle statt Einsicht – Tessa Ganserer tritt zur Bundestagswahl 2025 nicht mehr an

Tessa Ganserer wird sich nicht mehr für die Bundestagswahl 2025 aufstellen lassen. In ihrer Pressemitteilung beklagt sie, menschenverachtenden Hass für ihr Sein ausgesetzt gewesen zu sein. Dass sie mit ihrem häufig unpassenden Auftreten als Mandatsträgerin selbst dazu beigetragen hat, wird nicht reflektiert.

Artikel der BILD Zeitung über das Foto von Tessa Ganserer in BH und Hot Pants mit Hand in den Schritt.
War dies das eine schlüpfrige Foto zu viel? BILD-Bericht über die Empörung vom 19. September 2024 (Foto: Eigener Screenshot).

3. Oktober 2024 | Till Randolf Amelung

Tessa Ganserer, das wohl bekannteste Gesicht für das Selbstbestimmungsgesetz, hat am 2. Oktober 2024 verkündet, zur nächsten Bundestagswahl nicht mehr kandidieren zu wollen. Ganserer zog 2021 für die Grünen über einen Frauenlistenplatz der bayrischen Landesliste in den Bundestag ein, wofür es vehemente Kritik von einigen Frauenorganisationen gab. Zuvor war sie acht Jahre lang Landtagsabgeordnete dieser Partei im Freistaat.

In ihrem Pressestatement schreibt Ganserer unter Anderem, dass ihr immer klar war, nicht bis zur Rente im Parlament sitzen zu wollen und es auch ein Leben nach der Politik geben solle. Auch schreibt sie: „In dem Mandat als Abgeordnete bin ich voll und ganz aufgegangen. Es hat mich einerseits erfüllt, andererseits aber auch stark vereinnahmt und der menschenverachtende Hass, der mir nicht wegen meiner politischen Inhalte, sondern aufgrund meines Seins entgegen gebracht wurde, ist mir gewaltig an die Nieren gegangen.“

Gesicht für das Selbstbestimmungsgesetz

Niemand sonst steht so sehr für das politische Vorhaben eines Selbstbestimmungsgesetzes wie Ganserer. 2019 outete sie sich als trans und verkündete anschließend, dass sie ihren Vornamen und Geschlechtseintrag nicht über das Transsexuellengesetz ändern lassen werde, da sie sich nicht der vermeintlich „menschenverachtenden“ Begutachtung unterziehen wolle. Vielmehr warb sie für eine Abschaffung des Transsexuellengesetzes zugunsten einer neuen Regelung ohne jedwede Auflagen für die Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags.

Ganserer konnte zwar nicht erreichen, ausschließlich mit dem Wunschnamen auf dem Wahlzettel zu erscheinen, dafür aber im Deutschen Bundestag den gewählten Namen und die Berücksichtigung als „weiblich“ in der Statistik. Neben Ganserer zog noch eine weitere Transfrau für die Grünen in den Bundestag ein, Nyke Slawik.

Ganserer polarisiert

Doch niemand polarisierte so sehr wie Ganserer. Im Bundestag selbst gab es Attacken der AfD-Abgeordneten Beatrix von Storch, die sich weigerte Ganserers selbst gewählten Vornamen und die weibliche Anrede zu verwenden. Darüber hinaus gelangte Ganserer mehrmals in die Schlagzeilen, weil sie während ihrer Tätigkeit mit unpassender Kleidung auffiel, so zum Beispiel im vergangenen November bei der Sachverständigenanhörung zum Selbstbestimmungsgesetz im Familienausschuss des Deutschen Bundestages. Dort trat sie im Negligé auf, was Kristina Schröder (CDU), ehemalige Bundesfamilienministerin, in der Welt so kommentierte: „Tessa Ganserer nimmt sich heraus, was für biologische Frauen undenkbar wäre“.

Tessa Ganserer im Negligé bei der Sachverständigenanhörung zum Selbstbestimmungsgesetz 2023 (Foto: Eigener Screenshot).
Tessa Ganserer im Negligé zwischen ihren Parteikolleginnen Nyke Slawik und Ulle Schauws bei der Sachverständigenanhörung zum Selbstbestimmungsgesetz 2023 (Foto: Eigener Screenshot).

Doch das blieb nicht der einzige Fauxpas, für den Ganserer öffentlich scharf kritisiert wurde. 2022 kursierten Saunafotos, die im Rahmen des Podcasts Splitternackt entstanden sind. Im Februar 2023 postete sie ein Foto eines Tattoos mit einem eindeutig zweideutigen Motiv. Das Kippbild zeigt sowohl eine Frau, die sich an den Hals fasst, als auch einen Griff in die Genitalregion. Zuletzt ließ sie sich am Rande des diesjährigen Folsom in Fetischkleidung ablichten und steckte sich dabei keck eine Hand in die Hot Pants. Auch dieser Auftritt wurde von vielen als unangemessen für ein Mitglied des Deutschen Bundestags empfunden.

Selbstbestimmungsgesetz linkes Kernanliegen

Nun tritt das Selbstbestimmungsgesetz, Ganserers Kernanliegen, am 1. November 2024 in Kraft. Seit 1. August kann man sich dafür beim Standesamt anmelden, dies hat Ganserer bereits getan und öffentlichkeitswirksam auf Instagram verkündet. Doch was bleibt jenseits dieses erreichten Ziels auch für die Grünen als Gewinn aus dieser Personalie? Möglicherweise nicht viel.

Nach den krachenden Wahlschlappen in drei ostdeutschen Bundesländern scheinen in der Partei Umbauprozesse in Gang gekommen zu sein. Der Realo-Flügel um Robert Habeck vergrault nun offenbar linksaußenprogressive Kräfte. Die derzeitige Doppelspitze der Partei, Ricarda Lang und Omid Nouripour hat ihren Rücktritt verkündet, ebenso der gesamte Vorstand der Grünen Jugend.

Das Selbstbestimmungsprojekt ist vor allem ein Herzensanliegen dieses linken Lagers gewesen und Ganserer eine ihrer Identifikationsfiguren. Gerade aber der letzte Shitstorm um ein Foto mit anzüglicher Geste dürfte der Grünenspitze um Habeck klargemacht haben, dass Ganserer nicht hilfreich wäre, um Wählerstimmen aus der Mitte zurückzugewinnen. Es ist daher gut vorstellbar, dass parteiintern auf Ganserer eingewirkt wurde, bei der nächsten Bundestagswahl nicht noch einmal anzutreten.

Unangemessenes Verhalten als Problem

Mit der öffentlichen und medial breit aufgegriffenen Verkündung, nicht mehr für den Bundestag zu kandidieren, bekam Ganserer nochmal die Möglichkeit für den großen Auftritt und die Opferinszenierung. Die Grünen hingegen bekamen das ersehnte frühe Signal, dass diese schwierige Personalie künftig erspart bleiben dürfte.

Fakt aber ist, Ganserer hat sehr deutlich aufgezeigt, dass nicht Transsein das Problem ist, sondern Verachtung von Institutionen, indem man Konventionen wissentlich ignoriert. Nyke Slawik war keiner vergleichbaren öffentlichen Berichterstattung ausgesetzt. Sie fiel auch nicht wiederholt derart unangenehm auf wie ihre Parteikollegin.

Ein türkisches Sprichwort besagt: „Wenn ein Clown in einen Palast einzieht, wird er kein König. Stattdessen wird der Palast zum Zirkus.“ Treffender lässt sich Ganserers Wirken nicht auf den Punkt bringen. Daraus lassen sich aber für Transpersonen und andere Queers auch Lehren ziehen. Zum Beispiel die, dass es auch an uns liegt, Achtung vor gesellschaftlichen Institutionen zu haben, wenn wir Anerkennung wollen.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Ein Sammelband bietet Einblick in den intellektuellen Zustand des Transaktivismus

Der Sammelband Einfach selbst bestimmt.Texte zur Lebensrealität jenseits der Geschlechternormen will über die Notwendigkeit des Selbstbestimmungsgesetz aufklären. Versprochen wird, dies differenziert und unaufgeregt zu tun. Leider ist das im Ergebnis nicht gelungen.

Bereichert das rezensierte Buch die eigene Bibliothek? (Foto von Luisa Brimble auf Unsplash).

Till Randolf Amelung | 27. September 2024

Julia Monro und Janka Kluge, zwei Transaktivistinnen aus dem Umfeld der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V., haben einen Sammelband herausgegeben, der laut Verlagsbeschreibung „ein differenziertes und unaufgeregtes Bild“ vom „Leben jenseits der Geschlechternormen“ entwerfen will. Zusammen mit 13 weiteren Autor*innen wollen Monro und Kluge in 19 Beiträgen „sachlich auf die Auseinandersetzung um das geplante Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) reagieren“.

Bemerkenswert am Rande ist, dass der Sammelband der beiden Transaktivistinnen im KiWi-Verlag erscheint, der zwei Jahre zuvor den Sammelband von Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer und Chantal Louis publizierte und damit gerade bei Transaktivist*innen für Empörung sorgte. Petra Weitzel, die Vorsitzende der dgti e.V., schrieb in diesem Sinn einen Werbebeitrag auf der Vereinswebsite: „Er möchte ein differenziertes Bild von dem schaffen, was jenseits der Geschlechternormen liegt und kann so dem diffamierenden Sammelband von Alice Schwarzer und Chantal Louis, der im selben Verlag erschienen ist, entgegentreten.“ 

Selbstbestimmungsgesetz erntet harsche Kritik

Das Selbstbestimmungsgesetz, dass nun zum 1. November 2024 in Kraft treten wird, sorgt aus mehreren Gründen für harsche Kritik. Die wichtigsten Gründe sind: Erwachsene können auf dem Standesamt eine Änderung ihres Vornamens und Geschlechtseintrags vornehmen. Es findet keine Überprüfung statt, ob man tatsächlich zur Personengruppe gehört, für die das Gesetz gedacht ist. Gerade Frauen fürchten, dass Räume sowie Angebote für biologische Frauen in ihrer Existenz gefährdet sind.

Minderjährige können mit ihren Eltern diese Änderungen vornehmen, auch hier ist keine Überprüfung oder Beratung vorgesehen, ob dieser Schritt dem Kindeswohl am besten entspricht. Dabei zeigen die jüngsten Entwicklungen um die S2k-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und -dysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik und Behandlung“, dass es erhebliche Kontroversen darum gibt, als wie gesichert ein Transitionsbegehren im Kindes- und Jugendalter angesehen werden kann. Die medizinische Evidenzbasis für frühe identitätsbestätigende Maßnahmen erweist sich als schwach. Vor allem im Ausland setzt deshalb bereits ein Umdenken ein.

Wie verhalten sich Texte des Sammelbands zu diesen Einwänden? Alle Beiträge wehren kritische Punkte an einem Selbstbestimmungsgesetz oder dem gender-affirmativen Ansatz bei Minderjährigen in toto ab. Zudem wird jede Kritik in die Nähe von Rechtsextremismus und Rückständigkeit gestellt. Der Zustand der Debatte und der transaktivistischen Positionen lässt sich beispielhaft an drei ausgewählten Beiträgen dieses Sammelbands demonstrieren.

Selbstbestimmungsprinzip als einzig richtiger Weg

Das Prinzip des Selbstbestimmungsgesetz, Änderungen des Vornamens und Geschlechtseintrags, ohne jedweden Plausibilitätsnachweis zu ermöglichen, wird durchweg als einzig richtigen Weg dargestellt. In ihrem Essay Der lange Weg zur Selbstbestimmung, der exemplarisch die Auffassung im zeitgenössischen Transaktivismus widerspiegelt, fragt die Aktivistin Nora Eckert in dramatisch anmutender Pose: Warum aber erst vierundsiebzig Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes? Warum erst jetzt die Verwirklichung elementarer Menschenrechte, wie sie die ersten drei Artikel unserer Verfassung formulieren, dem unbestritten Wertvollsten unserer Rechtsordnung?“

Eckert schreibt folgerichtig, dass das Selbstbestimmungsgesetz Ausdruck eines Paradigmenwechsels ist, „der darin besteht, der Geschlechtsidentität eines Menschen (alle Menschen besitzen eine solche, auch wenn es manche leugnen) bei der Frage nach der Geschlechtszugehörigkeit den Vorrang zu geben.“ Dies bedeute eine „überfällige Anerkennung von Lebenswirklichkeiten“.

Janka Kluge, Julia Monro (Hg.): Einfach selbstbestimmt. Texte zur Lebensrealität jenseits der Geschlechternormen, Köln: Kiepenheuer & Wisch 2024, ISBN: 978-3-462-00585-1, 304 Seiten, broschiert, 15 Euro.

Beschränkungen durch biologische Geschlechtsdefinition inakzeptabel

In diesem Sinne schließt der Essay „Warum auch trans* Menschen Selbstbestimmung brauchen“ der Herausgeberin Julia Monro an. Für Monro sei dem Selbstbestimmungsprinzip in jedem gesellschaftlichen Bereich Vorrang einzuräumen. Einschränkungen, wie z.B.  in verschiedenen Sportarten durch Testosteronobergrenzen sind für sie nicht akzeptabel: „Fakt ist jedoch, egal um welches Merkmal es geht, jeder Versuch, natürliche Merkmale zu normieren, ist auch immer ein Versuch, die Menschen in unterschiedliche Kategorien einzuteilen. Und es ist immer ein Versuch von Menschen, die in der Mehrheit sind, über das Leben einer Minderheit zu entscheiden. Sie wollen über die Natur anderer entscheiden. Sie versuchen, fremdzubestimmen. In anderen Worten: sie versuchen, zu herrschen.“ Triftige Gründe für Regelungen und Unterscheidungen werden erst gar nicht seriös in Erwägung gezogen.

Kritik kann nur transfeindlich sein

Diese Herangehensweise findet sich auch im zweiten Text von Monro, Verschwörungsmythen in der politischen Kommunikation — Begriffe und Widerstände — Transfeindlichkeit entlarvt. In diesem will sie entlarven, dass alle Kritik auf Transfeindlichkeit zurückzuführen sei. Monro behauptet beispielsweise: „So wird gut gemeinten progressiven Vorhaben schnell »Cancel Culture« unterstellt, sobald sie Gleichberechtigung verlangen. Der Fokus wird bewusst und auf heimtückische Art verlagert: Es findet eine Täter-Opfer-Umkehr statt und die gesellschaftliche Benachteiligung wird relativiert oder gar vollständig geleugnet.“ Hier gibt sie nicht nur eine irreführende Darstellung von „Cancel Culture“, sondern versäumt es auch, konkrete Beispiele für Kritik zu bringen. Stattdessen will sie suggerieren, dass offenbar unbegründet „Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Forderungen dieser Minderheit“ aufkommen. Für Monro ist dies nur so erklärbar: „Aber eine privilegierte Mehrheit gibt von ihrem Wohlstand ungerne etwas ab.“

Schließlich kommt Monro zu Personen und Organisationen, die trans- und queeraktivistische Begriffe und Positionen aus verschiedenen Hintergründen kritisieren. Dabei setzt sie die Kritik der konservativen Publizistin Birgit Kelle und des Vatikans an „Gender“ mit der von Lesben und Schwulen gegründeten LGB Alliance gleich. Während es Kelle und dem Vatikan um das christliche, heteronormative Familienbild geht, stehen für die LGB Alliance die Negierung des biologischen Geschlechts als Grundlage für sexuelles Begehren sowie ein unkritischer Umgang mit medikamentösen Transitionsmaßnahmen wie Pubertätsblockern bei Minderjährigen im Vordergrund. Doch so viel Sorgfalt in der Differenzierung nimmt Monro nicht vor.

Störende Detransitioniererin

Im deutschen Ableger der LGB Alliance sei auch die deutsche Detransitioniererin Sabeth Blank aktiv, die inzwischen mehrfach in Medien über ihre Erfahrungen berichtete. Monro ätzt gegen die junge Frau und verweist darauf, sie habe „Ratschläge der trans*Community ignoriert, sich nicht an die vorgeschriebenen Therapien gehalten und nach Alternativen gesucht, um Hormontherapie und Brust-Operation vorzeitig durchzuführen.“  Monro wäre gut beraten, sich zu fragen, ob alle in der „trans*Community“ nur den vorgeschriebenen Weg empfehlen oder wie Blank überhaupt auf die Idee kam, Abkürzungen zu nehmen. Wer sich jahrelang im Transaktivismus tummelt, dürfte schon auf den Begriff „Zwangstherapie“ gestoßen sein, mit dem die für eine Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung obligaten Psychotherapiesitzungen geschmäht werden.

Stattdessen beklagt sich Monro in ihrem Essay, dass Detransition immer häufiger als Argument gegen das Selbstbestimmungsgesetz verwendet werde und zunehmende Medienberichterstattung dazu geführt habe, dass ein Übereilungsschutz im Selbstbestimmungsgesetz integriert worden sei. Aus Sicht der Aktivistin sei das nicht fachlich fundiert, da das Gesetz mit medizinischen Maßnahmen nichts zu tun habe. Dies ist ein beliebtes aktivistisches Argument, was aber bewusst ignoriert, dass jede Maßnahme den Weg zu einer anderen verfestigen kann.

Genozidvorwurf aus zweifelhafter Quelle

Stattdessen fährt Monro nun ein schweres Geschütz auf und verweist darauf, dass das US-amerikanische Lemkin Institut für Genozidprävention die gesamte gender critical (GC)-Bewegung sogar als faschistisch eingestuft habe.

Hier sind nun mehrere Aspekte klärungsbedürftig: als „gender critical“ werden Personen bezeichnet, die trans- und queeraktivistische Inhalte kritisieren, teils auch sogar ablehnen. Unter dieser Sammelbezeichnung finden sich Konservative, Rechtsextreme, aber auch Homosexuelle und Feministinnen. Von einer homogenen und einheitlichen Bewegung kann nicht die Rede sein. Auch die von Monro angeführte Referenz, das „Lemkin Institut für Genozidprävention“, ist eine nähere Betrachtung wert. Der ehrenwerte polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin, der den „Völkermord“-Begriff maßgeblich prägte, hat mit diesem erst 2017 gegründeten Institut nichts zu tun. Wie es um die Seriosität dieser Quelle steht, davon zeugen die willkürliche Behauptung eines „Anti-Trans Genocide“ sowie die Behauptung, Israel verübe einen Genozid gegen die Palästinenser.

„Frauenschutzraum“ als manipulativer Begriff

Doch Monros Text gewinnt im weiteren Verlauf nicht an Substanz, aber nun zumindest benennt sie einige Streitpunkte um das Selbstbestimmungsgesetz, so zum Beispiel Kritik von Frauen, ihre Schutzräume würden gefährdet. Monro dazu: „Besonders gefährlich ist die Umdeutung von WCs und Umkleidekabinen zu »Schutzräumen« und die Behauptung, dass mit dem geplanten Selbstbestimmungsgesetz eine Gefahr für Frauen entstünde.“ Für Monro ist bereits der Begriff „Frauenschutzraum“ manipulativ, denn: „Männer betreten Frauen-WCs auch heute schon und das ganz ohne Selbstbestimmungsgesetz.“ Als Beispiel führt sie Väter, die ihr Baby wickeln müssen, an. Zunächst einmal hat kaum eine Frau etwas gegen diese Gruppe Männer einzuwenden, wobei sich in den meisten Fällen der Wickeltisch im barrierefreien WC befindet, was ohnehin unisex ist.

Doch Monro setzt ihre zweifelhafte und faktenarme Argumentation fort: „Mit der Verwendung des Begriffs »Schutz« werden Lesende bewusst getäuscht. Denn ein WC oder eine Umkleidekabine sind nicht dafür gedacht, Menschen vor Gewalt zu schützen.“ Interessanterweise ist es in der internationalen Entwicklungsarbeit ein Baustein, nach Geschlecht getrennte Toiletten zu errichten, um eben Frauen mehr Schutz zu bieten. In diesem Stil werden noch weitere Kritikpunkte der Gegenseite werden von Monro aufgegriffen, aber nicht redlich wiedergegeben.  

Autorin beriet Böhmermann-Redaktion

Schließlich kommt Monro auf Finanznetzwerke religiös-fundamentalistischer und rechtsextremer Akteure zu sprechen, die mit 700 Millionen Dollar angegeben wird. Dem stellt sie gegenüber, dass es keine von diesen Kreisen behauptete „Genderlobby“ gebe, da Transpersonen nur etwa 0,6 Prozent der erwachsenen Bevölkerung ausmachten und überproportional viele arbeitslos seien. Allerdings unterschlägt Monro, dass in westlichen Ländern in den letzten 10 Jahren deutlich mehr Fördermittel von staatlicherseits oder von Stiftungen in LGBTI-Projekte und Organisationen geflossen sind.

Ob diese Förderung an die 700 Millionen Dollar der Gegner heranreicht, müsste addiert werden, aber LGBTIQ-Vereine sind keine „armen Hascherl“ ohne jedwede Förderung und Einfluss, wie Monro suggerieren möchte. Ohne sich des Widerspruchs zu ihren vorherigen Ausführungen bewusst zu sein, brüstet sie sich zum Schluss mit ihrer Beteiligung an der Folge der Böhmermann-Show „ZDF Magazin Royale“, die sich mit Transfeindlichkeit beschäftigt hat. Diese Sendung stand in Substanzlosigkeit und Unredlichkeit in der Auseinandersetzung mit Kritik am Transaktivismus Monros Text in nichts nach.

Zerrbilder der Kritik

In die aktivistischen Fragwürdigkeiten reiht sich auch das dritte Beispiel, der Essay der Psychotherapeutin Sabine Maur ein. In »Ich möchte einfach nur mein Leben leben« — Erfahrungen aus der Psychotherapie mit trans*Kindern und Jugendlichen verteidigt sie den gender-affirmativen Ansatz bei Kindern und Jugendlichen gegen die zunehmende Kritik. Zunächst aber leitet sie ihren Text mit der Feststellung ein, dass in der aktuellen Debatte Zerrbilder von Transpersonen gemalt würden und malt wiederum ihrerseits Zerrbilder von vermeintlichen Positionen ihrer Kritiker*innen. So behauptet Maur: „Unterstellt wird dabei, dass trans*Menschen sozial und geschlechtlich transitionieren, um andere gefährden zu können bzw. um die »Genderideologie« und ihre (vermeintliche) »internationale Macht« auszubauen.“ Belege, wo solcherlei gesagt oder geschrieben wurde, werden nicht angegeben.

Schließlich konstatiert sie: „Wir haben durch die Coronapandemie schmerzlich lernen müssen, dass keine Verschwörungstheorie zu absurd und kein rabbit hole zu tief ist, als dass Menschen nicht darin voll tiefster Überzeugung verschwinden könnten, völlig immun gegen Fakten und emotional aufgeladen genug, (politisch) aktiv zu werden und im Zweifelsfall auch noch mit Rechtsextremen an einem Strang zu ziehen.“

Manipulatives Framing von Kritik als „rechts“

Damit setzt die Autorin, die hier offenbar mehr Aktivistin, als Psychotherapeutin ist, die Stimmung, indem sie jede Kritik in die Nähe von Verschwörungsideologien und Rechtsextremismus rücken will. Entsprechend fährt Maur in ihrem Text fort und behauptet, dass Medien „False Balance“ betreiben, „empathie- und erfahrungsfrei vor sich hinschwurbeln“ und „medizinische Außenseiterpositionen durchreichen“ würden. Außerdem werde „Biologismus auf Grundschulniveau propagiert“. Auch hier bleibt sie Belege für die angeprangerten Verfehlungen schuldig.

Wer die Debatten um den medizinischen Umgang mit geschlechtsdysphorischen Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren verfolgt hat, ahnt, dass Maur auf kritische Feministinnen und Ärzte wie den Münchener Psychiater Alexander Korte anspielen will. Diese Feministinnen, darunter Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer, weisen darauf hin, dass mit einem Selbstbestimmungsgesetz eben gar nicht mehr nach den Motiven für einen Wechsel des Geschlechtseintrags gefragt wird oder in den letzten Jahren die Zahl biologisch weiblicher Teenager mit Transitionsbegehren enorm zugenommen hat. Der Mediziner Korte wiederum, weist auf die ungeklärten Risiken bei der zum gender-affirmativen Ansatz gehörende Behandlung mit Pubertätsblockern hin.

In allen skandinavischen Ländern und in Großbritannien ist man in den letzten Jahren nach eigener Prüfung der Evidenzbasis für den gender-affirmativen Ansatz bei Minderjährigen zu dem Schluss gekommen, dass diese ungenügend ist. Daher sind Pubertätsblocker bei Minderjährigen in diesen Ländern zumeist nur noch im Rahmen von klinischen Studien zugelassen. Eines dieser skandinavischen Länder ist Schweden. Zuletzt berichtete der schwedische Psychiater Sven Roman in einer Expertenanhörung vor dem US-amerikanischen Supreme Court im Rahmen des Prozesses gegen gesetzliche Einschränkungen von gender-affirmativen Behandlungen bei Minderjährigen im Bundesstaat Tennessee, wie es zur Kehrwende in seinem Land kam.

Diese Entwicklungen lassen die von Maur so geschmähten „Außenseiterpositionen“ nicht mehr als solche erscheinen. Daher vermeidet sie es, diese konkreter zu erwähnen. Stattdessen beklagt sie: „Es verstärkt den Minoritätenstress von trans*Menschen und beeinflusst ihre psychische Gesundheit negativ. Es spielt denjenigen in die Hände, deren politische Agenda durch gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bestimmt wird.“

Auseinandersetzung mit Kritik am gender-affirmativen Ansatz fehlt

Nun ist Maur zumindest dahingehend zuzustimmen, dass ein öffentlicher Diskurs respektvoll sein sollte, doch Kritik am gender-affirmativen Ansatz ist nicht automatisch diskriminierend. Allein in diesem Jahr sind weitere Publikationen erschienen, die die Berechtigung dieser Kritik erhärten. Hervorzuheben ist zum Beispiel des Abschlussbericht von der britischen Pädiaterin Hilary Cass, die die Behandlungsqualität des mittlerweile abgewickelten Gender Identity Developement Service (GIDS) der Londoner Tavistockklinik untersuchte. Der GIDS behandelte nach dem affirmativen Ansatz und ignorierte ebenfalls jahrelang Warnhinweise, bis es schließlich nach dem Gerichtsprozess der ehemaligen Patientin und Detransitioniererin Keira Bell zur unabhängigen Untersuchung durch Cass kam.

Ebenfalls 2024 veröffentlichten deutsche Psychiater um Florian D. Zepf eine Übersicht zur Evidenzlage bei Pubertätsblockern, die an britische Arbeiten von 2020 anknüpft und feststellt, dass die Studienlage sich nicht verbessert hat. International Aufsehen erregten zudem die sogenannten WPATH-Files, Auszüge aus internen Chats von Mitgliedern der World Professional Association for Transgender Health, in denen deutlich wurde, dass auch dort die teils erheblichen Risiken des Ansatzes mit Pubertätsblockern und gegengeschlechtlichen Hormonen bekannt sind. In Fachkreisen sorgte auch eine Studie für Diskussionen, die bei biologischen Jungen schon nach kurzer Zeit durch Pubertätsblocker beeinflusste Gewebeveränderungen in den Hoden nachwies, die irreversibel sein können.

Es gäbe also einiges aufzuarbeiten, anstatt weiterhin jedwede Kritik braun anzumalen oder mit dem Etikett der irrationalen Verschwörungsideologie zu versehen. Doch diese Chance verpasst nicht nur Sabine Maur in ihrem Beitrag, sondern der gesamte Band.

Korrekturhinweis vom 27. Oktober 2024: Im Absatz „Beschränkungen durch biologische Geschlechtsdefinition inakzeptabel“ wurden in der ersten Fassung die Äußerungen Nora Eckert zugeschrieben. Dies ist jedoch nicht korrekt und wurde daher geändert – die Passage zum Sport bezieht sich auf den Essay von Julia Monro. Wir bitten, diesen Fehler zu entschuldigen.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Das Selbstbestimmungsgesetz kommt – trotz Risiken für Minderjährige und Frauen

In Deutschland tritt am 1. November das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft. Warnungen vor Sicherheitsbedenken bei Minderjährigen und Frauenschutz wurden von der Ampel-Regierung weggewischt. Dabei werden im Ausland gerade in diesen Feldern längst Konflikte sichtbar.

Dieses Foto ist aus den USA, aber die Botschaften auf den Schildern sind sinngemäß überall zu finden, wenn es um die Verteidigung des gender-affirmativen Ansatzes bei Minderjährigen oder Selbstbestimmungsgesetzen geht (Foto von Aiden Craver auf Unsplash).

16. September 2024 | Till Randolf Amelung

Am 1. November tritt das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft, mit dem das über 40 Jahre alte Transsexuellengesetz (TSG) abgelöst wird. Das Gesetz regelt die Änderung des amtlich registrierten Vornamens und Geschlechtseintrags, mit dem neuen Gesetz sind dafür keine ärztlichen Atteste oder Gutachten mehr notwendig. Seit dem 1. August sind bereits Anmeldungen möglich – das Selbstbestimmungsgesetz sieht eine dreimonatige Frist zwischen Antragsstellung und Wirksamwerden der Änderung vor.

Mehr Antragssteller als erwartet

Nun ergab eine Recherche des Magazins Der Spiegel, dass die Nachfrage nach Änderung der Einträge zum Geschlecht deutlich höher ist als zunächst angenommen – etwa 15.000 Personen haben bereits bei Standesämtern eine solche Änderung angemeldet, unter ihnen sind ca. fünf Prozent, also 750 Personen, minderjährig. Die Bundesregierung ging von 4.000 Personen pro Jahr aus.

Gerade bei Minderjährigen sorgt der Wegfall von Begutachtungen oder vergleichbaren Absicherungen für kontroverse Debatten. So ist zwar noch die Zustimmung der Eltern erforderlich, diese müssen jedoch lediglich eine Zusicherung abgeben, beraten worden zu sein. Ein Nachweis über eine erfolgte Beratung muss nicht vorgelegt werden.

Geschlechtsdysphorie bei Minderjährigen oft nicht dauerhaft

Umstritten ist, ab welchem Alter es als gesichert gelten kann, dass eine Transition das Richtige für eine Person ist. Dabei ist inzwischen klar, dass die unterschiedlichen Schritte einer Transition, d.h. soziale, juristische und medizinische Maßnahmen, nicht isoliert voneinander betrachtet werden können. Jede Maßnahme stellt Weichen für weitere, was gerade in einer so vulnerablen Entwicklungsphase wie der Pubertät kritisch sein kann.

Denn bekannt ist ebenso, dass Geschlechtsdysphorie, also ein tiefgehendes und leidvolles Unbehagen mit dem eigenen Geschlecht, nicht allein auf ein Transsein zurückzuführen ist. Auch eine krisenhafte homosexuelle Entwicklung kann beispielsweise Geschlechtsdysphorie verursachen, aber hier wären weitere Transitionsschritte, insbesondere pharmakologisch-medizinisch bewirkt irreversible, fatal.

Eine niederländische Studie zeigte, dass sich bei sehr vielen Minderjährigen Geschlechtsdysphorie im weiteren Verlauf der Pubertät wieder legt, wenn nicht eingegriffen wird. In den USA hat das konservative Manhattan Institute Daten von Krankenversicherungen ausgewertet, wie viele Diagnosen im Zusammenhang mit Geschlechtsdysphorie bei Minderjährigen vergeben wurden und wie sich dies im Verlauf entwickelt hat. Bei knapp über 50 Prozent war die Diagnose offenbar nicht dauerhaft. Eine deutsche Studie mit Auswertung von Krankenversicherungsdaten kam auf ungefähr 60 Prozent Minderjährige, bei denen die Diagnose nach fünf Jahren nicht mehr fortbestanden hat.

Gender-affirmativer Ansatz wird zunehmend kritisiert

Doch ungeachtet solcher Erkenntnisse, die in Sachen Transitionsmaßnahmen bei Minderjährigen für mehr Zurückhaltung sprächen, hat sich international der gender-affirmative Ansatz durchgesetzt, der auf eine schnelle Bestätigung einer geäußerten Geschlechtsidentität zielt. Das bedeutet neben der Einleitung eines sozialen Rollenwechsels und Änderung von Geburtsurkunden und Ausweisen, sondern auch zügige Gabe von Pubertätsblockern und gegengeschlechtlicher Hormone sowie späterer chirurgischer Eingriffe. Dieses Modell beruht jedoch auf einer schwachen Evidenzbasis, d.h. es gibt zu wenig Daten, um Nutzen und Risiken gut gegeneinander abwägen zu können.

International wurde längst sichtbar, dass das affirmative Modell Schäden anrichten kann, da Begleit- und Vorerkrankung sowie andere Faktoren bei den transitionswilligen Minderjährigen zu wenig berücksichtigt werden. Besonders eindrücklich wird dies für Großbritannien im Cass-Review dokumentiert, der die Qualität der inzwischen geschlossen Ambulanz für geschlechtsdysphorische Minderjährige in der Londoner Tavistockklinik untersuchte. In der Folge wird dort der Umgang mit dieser Patientengruppe neu aufgestellt, eine Behandlung mit Pubertätsblockern ist nur noch auf medizinische Studien beschränkt. Diese Entwicklungen bleiben auch unter der neuen Labour-Regierung bestehen.

Für Deutschland soll es für Minderjährige neue Leitlinien geben, die diesem so umstrittenen affirmativen Ansatz entsprechen. Die finale Fassung wird für diesen Herbst erwartet, trotz massiver Kritik – sowohl von einzelnen Ärzt*innen, als auch Fachgesellschaften an der affirmativen Ausrichtung. Von der Kritik lassen sich Befürworter*innen in Medizin und Politik jedoch kaum beeindrucken. Unklar ist, was dies für die Endfassung der Leitlinien bedeuten wird. Für das Selbstbestimmungsgesetz wurden solche Aspekte ebenfalls von den Ampel-Parteien ignoriert.

Schutzbedürfnisse von Frauen missachtet

Ignoriert wurden auch mögliche Konflikte für Frauen, wenn es um nach Geschlecht getrennte Einrichtungen oder Schutz vor Gewalt geht. In Spanien gibt es nun seit etwas mehr als einem Jahr ein solches, mit Deutschland vergleichbares Gesetz. Auch dort sind medizinische Nachweise entfallen sowie eine dreimonatige Frist zwischen Antragsstellung und Wirksamwerden vorgesehen. Nun gibt es wiederholt Meldungen, dass gerade Männer das Gesetz aus unterschiedlichen Gründen missbrauchen.

Zuerst machte eine Gruppe Soldaten in der spanischen Enklave Ceuta Schlagzeilen, weil sie mit einem amtlichen Geschlechtswechsel in den Genuss von Frauenfördermaßnahmen, inklusive eines höheren Gehaltes kommen wollten. Nun wurde bekannt, dass auch mehrere Gewalttäter das Selbstbestimmungsgesetz nutzten, um nicht unter schärfere Gesetze für geschlechtsspezifische Gewalt zu fallen. Diese wurden ebenfalls in Spanien erlassen, um gegen Frauen gerichtete Gewalt von Männern, sehr häufig in Familien und Partnerschaften, vorzugehen. Ebenso wurden Fälle bekannt, wo Männer sich legitimiert durch einen weiblichen Geschlechtseintrag Zutritt zu Frauenräumen, wie Umkleiden verschaffen und dort Frauen belästigen. Effektive Mittel, um solchen Missbrauch einzudämmen, hat das spanische Gesetz ebenso wenig vorgesehen wie das deutsche Pendant.

In Schottland ist die Einführung eines Selbstbestimmungsgesetzes 2023 durch Blockade der damaligen britischen Tory-Regierung unter Rishi Sunak gescheitert, aber das Prinzip, der geäußerten Geschlechtsidentität den Vorrang einzuräumen, hat weite Verbreitung gefunden. So kam es, dass die Transfrau Mridul Wadhwa 2021 die Leitung des Frauenhauses in Edinburgh übernehmen durfte. Drei Jahre später muss Wadhwa jedoch zurücktreten, nachdem es massive Beschwerden gegeben hat, dass Bedürfnisse von schutzsuchenden Frauen nicht berücksichtigt worden seien, nur von biologischen Frauen betreut werden zu können.

Für Deutschland bleibt zu hoffen, dass es durch das Selbstbestimmungsgesetz nicht zu Konflikten kommt, aber dies ist angesichts der Ignoranz, die queere Aktivist*innen und Ampel-Politiker*innen gegenüber Kritik gezeigt haben, wohl nur ein frommer Wunsch.

Ergänzung vom 17. September 2024: Derzeit findet in Rostock der 38. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP) statt. Für den 18. September steht eine fachliche Debatte zum Thema „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie – wie sollte die klinische Versorgung gestaltet werden?“ im Programm. Diskutieren werden die beiden Leitlinien-Beteiligten Georg Romer und Sabine Maur sowie Veit Roessner und Florian Zepf von der Kritikerseite. Nachdem die DGKJP, in deren Auftrag die Leitlinien erstellt wurden, bei der Übergabe des finalen Entwurfs noch den Marschbefehl ausgab, dass nur noch redaktionelle, aber keine inhaltlichen Überarbeitungen erfolgen sollen, ist diese angesetzte Debatte bemerkenswert.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Nonbinary – Befreiung oder Verschleierung altbekannter Verhältnisse?

Immer mehr Menschen bezeichnen sich als Nonbinary und wollen damit ausdrücken, sich weder als Mann noch als Frau zu identifizieren. Doch kann man den Geschlechterverhältnissen einfach so entkommen – und warum ist besonders der Anteil biologischer Frauen darunter so hoch?

Auf einer CSD-Parade wird ein Schild in den Farben gelb, weiß, violett, schwarz und mit der Aufschrift "Correct Pronoun Usage Saves Lives" hochgehalten.
Vom Nonbinary-Aktivismus wird gern betont, dass die Ansprache mit Wunschpronomen das psychische Wohlbefinden einer Person erhöht. Auf Problemfelder, die möglicherweise erst zur Identifizierung als Nonbinary führen, wird aber zumeist nicht eingegangen (Foto von ingenious0range auf Unsplash).

8. September 2024 | Till Randolf Amelung

An einem spätsommerlich heißen Augusttag hatte ich im Rahmen eines von mir gehaltenen Workshops ein interessantes Gespräch mit mehreren jungen Frauen. Aus Gründen der Vertraulichkeit nenne ich weder Ort noch Namen meiner Gesprächspartnerinnen. Zwei Themen blieben mir besonders im Gedächtnis: Schwierigkeiten, Orte zu finden, an denen sich Frauen selbstbewusst auf sich selbst beziehen können und dürfen. Und alle Frauen berichteten von Phasen, in denen sie sich als „Nonbinary“ identifizierten – also nicht als weiblich gesehen werden wollten. In Momenten pubertär erlebter Belastungen haben sie einen Ausweg gesucht und sind auf das Begriffskonzept „Nonbinary“ gestoßen, was sie dann aufgegriffen haben.

Doch nicht nur biologische Frauen bezeichnen sich vermehrt als solches: Spätestens seit Nemos ESC-Sieg für die Schweiz in diesem Jahr in Malmö ist der Begriff „Nonbinary“ einem breiten Publikum bekannt geworden. Im November 2023, ein gutes halbes Jahr vor seiner ESC-Teilnahme, verkündete Nemo auf Instagram: „Ich identifiziere mich weder als Mann noch als Frau. Ich bin einfach Nemo. Ich stelle mir das Geschlecht gerne als eine Galaxie vor und sehe mich selbst als einen kleinen Stern, der irgendwo darin schwebt. Dort fühle ich mich am meisten wie ich selbst.“

Nemo verkündete nach dem ESC-Sieg, die gewonnene Popularität für die rechtliche Anerkennung von Nonbinary-Personen wie ihm selbst nutzen zu wollen. Das bedeutet, rechtlich mehr Geschlechtseinträge zur Wahl zu haben als nur männlich und weiblich, um auch auf diese Weise sichtbar zu werden. Ansonsten ist von ihm bekannt, dass er in Berlin lebt und mit einer Frau liiert ist.

Eine Begriffsdefinition

Doch was meint Nonbinary eigentlich? Auf dem vom Bundesfamilienministerium kuratiertem Regenbogenportal heißt es: „Nicht-binär“, „non-binary“ oder auch „genderqueer“ sind Selbstbezeichnungen für eine Geschlechtsidentität, die sich nicht in der Gegenüberstellung von Mann oder Frau beschreiben lässt. Damit kann eine Geschlechtsidentität „zwischen“, „sowohl-als-auch“, „weder-noch“ oder „jenseits von“ männlich und weiblich gemeint sein.

Zugleich wird nicht-binär/non-binary auch als Oberbegriff für diverse andere Geschlechtsidentitäten verwendet, die nicht (nur) weiblich oder (nur) männlich sind (zum Beispiel „neutrois“, „agender“, „genderfluid“). Nicht-binäre Geschlechtsidentitäten ergeben sich in der Regel nicht aus bestimmten Körpermerkmalen, sondern aus dem eigenen Geschlechtsempfinden.“ Zusammengefasst geht es also darum, wie man sich selbst sieht, ohne sich dabei an körperliche Merkmale oder Rollennormen gebunden zu fühlen.

Nonbinary zu sein, das verspricht frei zu sein, von Erwartungen anderer, wie man als Mann oder Frau zu sein hat. Mittlerweile gibt es eine Fülle von Identitätsbezeichnungen, die mit Nonbinary verknüpft sind, wie die Seite Nonbinary.ch beispielhaft in ihrem Glossar zeigt. Darunter befindet sich auch der Begriff „Xenogender“,  der laut Eigenbeschreibung „für verschiedene non-binäre Geschlechtsidentitäten, die mit Konzepten in Verbindung stehen, die üblicherweise nicht mit Geschlecht in Verbindung gebracht werden wie Farben, Tiere etc.“ verwendet wird. Als Beispiele werden „aliengender“, „wulfgender“ oder „watergender“ genannt.

GenZ identifizieren sich am häufigsten als Nonbinary

In den letzten Jahren ist weltweit die Zahl an Menschen gestiegen, die sich als Nonbinary identifizieren, ihr Anteil an der Weltbevölkerung wird auf drei Prozent geschätzt, heißt es auf einer Infoseite des Lesben- und Schwulenverband Deutschlands (LSVD). Besonders in der sogenannten Generation Z, also der zwischen 1995 und 2012 Geborenen ist der Anteil größer als in allen anderen Generationen, wie das Time Magazine 2023 berichtete.

In den USA wurden Daten erhoben, die Unterschiede deutlich zeigen: Unter den Babyboomern (1946 bis 1964 Geborene) bezeichnen 0,9 Prozent, unter den GenX (1965 bis 1980 Geborene) 1,2 Prozent und unter den Millenials (1981 bis 1996 Geborene) 1,7 Prozent ihre Geschlechtsidentität als Nonbinary. Unter den GenZ sind es jedoch 3,3 Prozent. Einen vergleichbaren Sprung gab es unter den Generationen auch bei der Identifikation als transgender.  Diese Zahlen dürften in anderen westlichen Ländern vermutlich ähnlich ausfallen.

Foto eines Plakats, was über verschiedene Bezeichnungen für sexuelle und geschlechtliche Identitäten informieren will.
Ein Plakat mit vielen Identitäten eines österreichischen Beratungsprojekts (Foto: privat)

Bemerkenswert ist laut Time Magazine auch: „Es gibt einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen den Generationen, wenn es um Transgender oder nicht-binäre Identität geht. Die meisten Boomer und Angehörige der Generation X, die sich als Transgender identifizieren, wurden bei der Geburt als männlich eingestuft. Bei der Generation Z wurden die meisten Transgender jedoch bei der Geburt als weiblich eingestuft.

Der gleiche Generationswechsel hin zu denjenigen, die bei der Geburt als weiblich zugeordnet wurden, zeigt sich auch bei nicht-binären Menschen. Nicht-binäre Erwachsene der Generationen Boomer, Gen X und Millennial wurden bei der Geburt etwa gleich häufig als männlich oder weiblich zugeordnet, aber bei jungen Erwachsenen der Generation Z wurden zwei Drittel der nicht-binären Menschen bei der Geburt als weiblich zugeordnet.“

Von Tumblr in den KitKat-Club

Die rasante Vervielfältigung der Geschlechtsidentitäten nahm ab den 2010 in Online-Subkulturen, insbesondere auf Tumblr ihren Anfang. Von dort erreichten sie andere soziale Plattformen und den Mainstream, darunter Bühnen wie den ESC oder von Ministerien geförderte Webseiten wie das Regenbogenportal. Auch als Partymotto trägt Nonbinary mittlerweile, zum Beispiel bei der „Gegen Binary“ im Berliner KitKat-Club. In der Veranstaltungsankündigung heißt es, dass das binäre System ein starres Konstrukt sei, das die Grenzen der Existenz vorgebe. Doch Menschen würden nun dagegen rebellieren.

Die Partywerbung des KitKatClub mit den Mastektomienarben auf der Website Resident Advisor (Foto: Screenshot).

Der Text weiter: „Der Körper wird zum Ort des Widerstands und der Transformation. Wir umarmen das Dazwischen durch gender-affirming care, performative Praxis und neue Konzepte des gegenseitigen Liebens. Letztendlich geht es darum, wie wir die Entscheidungen des anderen sehen und akzeptieren können; indem wir das Fließende und Vielfältige feiern, brechen wir die Macht der Objektivierung und Kontrolle. Wir erobern unsere Identitäten zurück und werden sowohl Subjekt als auch Objekt und dazwischen in einem Tanz der Selbsterschaffung.“ Illustriert wird die Partywerbung mit einem Foto von einem Oberkörper mit Narben nach einer Mastektomie. Im Kontext des Werbetexts gerät es zur Glorifizierung von irreversiblen chirurgischen Eingriffen.

Freiheitsversprechen einer nonbinären Identität

Doch wartet hinter „Nonbinary“ wirklich die große Freiheit von den Zumutungen des biologischen Geschlechts und ihm zugeordneter sozialer Geschlechternormen? IQN-Autorin Chantalle El Helou kritisiert in ihrem Essay Vom Queersexismus zur Emanzipation, dass die Entkörperung und Reduzierung von Geschlecht auf Gender und Identität zur Radikalisierung dessen führe, was als männlich und weiblich gilt und nicht zur Überschreitung der Geschlechtskategorien. Die sexistischen Stereotypen der Pole männlich-weiblich würden eben nicht hinterfragt, sondern stabilisiert, so El Helou. Individuelles Herausidentifizieren bricht keines dieser Stereotype. Ebenso wenig kann man das körperliche Geschlecht auf diese Weise loswerden.

Bemerkenswert ist, dass Nonbinary gerade für biologische Frauen derzeit ein attraktives Angebot zu sein scheint. Mögliche Gründe hierfür sind jedoch alles andere als leicht verdaulich. Der US-amerikanische Psychologe Jonathan Haidt hat in seinem 2024 erschienenen Buch Generation Angst eindrücklich beschrieben, wie der technologische Fortschritt mit allzeit verfügbarem Internet und Sozialen Medien via Smartphones die Lebenswelt von Heranwachsenden verändert hat.

In seinem Buch legt Haidt Zahlen vor, wie sich die psychische Gesundheit von Heranwachsenden, insbesondere der GenZ seit 2012 stetig verschlechtert hat. Zahlen, die auch die britische Pädiaterin Hilary Cass in ihrem Abschlussbericht über den umstrittenen Gender Identity Service (GIDS) für Minderjährige mit Geschlechtsdysphorie der Londoner Tavistockklinik bestätigt.

Frausein im Patriarchat

Eine wichtige Ursache ist für Haidt viel Raum einnehmende Smartphonenutzung ohne Schutz vor schädlichen Inhalten und Algorithmen. Gerade Mädchen seien durch Soziale Medien wie Instagram gefährdet. Sie neigen besonders dazu, sich mit anderen zu vergleichen, und die Struktur mit Likes tut ein Übriges, abhängig von dieser Art der Bestätigung zu machen. Überdies machen viele Mädchen Erfahrungen mit sexueller Belästigung und Missbrauch intimer Fotos im Internet oder werden früh mit reichlich Hardcore-Pornografie konfrontiert.

Hinzu kommt, dass Mädchen als anfälliger für soziogene, d.h. durch soziale Einflüsse hervorgerufene, Erkrankungen und Phänomene gelten. Das funktioniert auch über Soziale Medien, gerade wenn Influencer mit großer Reichweite ein Thema pushen. Beispielsweise häuften sich plötzlich in einigen Ländern Mädchen mit Symptomen eines Tourette-Syndroms, obwohl diese Erkrankung vornehmlich Jungen betrifft. Da sich die Symptome der betreffenden Mädchen glichen, fand man schließlich heraus, dass sie diese von einer britischen Influencerin mit Tourette-Syndrom nachgeahmt haben. Ähnlich verlief es mit der dissoziativen Identitätsstörung, die eigentlich eine seltene Erkrankung ist.

Unter dieser Rahmenbedingung kann ein soziogener Einfluss auch nicht ausgeschlossen werden, wenn es um die Zunahme von Identifikationen als trans oder nonbinary unter biologischen Mädchen und jungen Frauen geht.

Zudem liegt dem Begriff „Nonbinary“ ein fragwürdiges Verständnis zugrunde, wie beispielsweise El Helou anmerkt. Eine Identifizierung als Nonbinary könne nur funktionieren, indem man davon ausgehe, dass es Menschen gebe, „die vollständig im idealen Frau- und Mannsein aufgingen“. „Wenn man tatsächlich davon ausginge, dass das Frausein bedeutet, in idealisierter Weiblichkeit aufzugehen, dann gibt es keine empirischen Frauen“, so El Helou weiter.

Gerade die Zumutungen, denen Frauen in einer patriarchal geprägten Gesellschaft ausgesetzt sind, lassen es für Mädchen attraktiv erscheinen, sich dem mit einer Identifizierung als Nonbinary entziehen zu wollen. Anstatt jede noch so kleinteilige Identitätsbezeichnung inklusive Prideflaggen in Übersichten aufzunehmen, wie auf dem Poster einer österreichischen Beratungsstelle zu sehen, sollten eher Gesellschaft und Verhältnisse  für Mädchen und Frauen sicherer gemacht werden.

Wie Gender und Prideflaggen entstehen

Kennen Sie schon „Marmot-Neongender“ – also Murmeltier-Neongender?
Dahinter verbirgt sich folgende Definition: „It is a bi-genderous Xenogender. It is a demi-Faunagender-demi-Colorgender and related to marmots and the hate against dull colors.“
Entstanden ist es, als ich auf X verkündete, an einem Artikel über „Nonbinary“ zu arbeiten und mich gerade fühle wie ein schreiendes Murmeltier. Daraufhin fand sich ein kundiger User auf X, der dieses Gefühl treffenderweise dem Spektrum der „Faunagender“ zuordnete und die dazugehörige Prideflagge heraussuchte. Diese war in erdigen, gedeckten Farbtönen und gefiel mir daher nicht. Zum Glück hatte besagter User auch Expertise im Umgang mit Grafikprogrammen und so bekam ich eine Prideflagge, die mir gefiel. Dieser Entstehungsprozess einer neuen Prideflagge ist übrigens nicht ungewöhnlich, wie ein Blogpost im Queer Lexikon zeigt.

Männer und Nonbinary

Doch auch für Männer geht das Freiheitsversprechen nicht auf. Wahrhaftige Befreiung wäre, wenn man keine andere Identitätsbezeichnung bräuchte, um im Röckchen auf die Bühne zu gehen und in einer atemberaubenden Performance den ESC zu gewinnen oder Nagellack zu benutzen. Auf der anderen Seite kann eine Identifikation als Nonbinary Männern auch helfen, sich vor einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit Rollenmustern und Verhaltensweisen zu drücken.

Man kann sich weiterhin klassisch männlich verhalten, wie das Beispiel von „Maja T.“, einer sich als nichtbinär bezeichnenden biologisch männlichen Person, die in einem fragwürdigen Manöver von deutschen Behörden nach Ungarn ausgeliefert wurde. T. wird vorgeworfen, zusammen mit anderen im Februar 2023 in Budapest Rechtsextreme überfallen und brutal verprügelt zu haben.

So stellt sich am Ende die Frage, ob wir mit Nonbinary nicht doch allzu oft alten Wein in neuen Schläuchen serviert bekommen. Eine kritische Analyse, welche Funktion und welches Bedürfnis Identifikationen als Nonbinary erfüllen, wäre nötig. Dann könnte man sich um die gesellschaftlichen Baustellen kümmern, die dadurch offengelegt werden. Leider ist dies derzeit nicht in Sicht, stattdessen wird jede noch so skurrile Geschlechtsidentität affirmiert. Der Emanzipation erweist man damit einen Bärendienst.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.