Der Stonewall-Mythos als Einfallstor für Illiberalität
Warum biedern sich LGBT bei reaktionären und antiqueeren Bewegungen wie der pro-palästinensischen an?
Besonders in diesem Sommer wird sichtbar, wie verbreitet die aktive Unterstützung von antisemitischem Pro-Palästina-Aktivismus in der LGBT-Szene ist. Wie konnte das passieren? Eine Antwort könnte in der permanenten Beschwörung der „Stonewall“-Aufstände liegen, die aber längst nicht mehr in die heutige Zeit passt.
7. August 2024 | Till Randolf Amelung
„Stonewall was a riot!“ heißt es alle Jahre wieder zur CSD-Saison. Die Erinnerung an den Ursprung heutiger Pride-Paraden wird vor allem dann bemüht, wenn einem, aus der Perspektiver linker Queers, die Gegenwart zu kommerziell und zu unpolitisch erscheint. Der Kontrast zwischen den Krawallen von 1969 im New Yorker „Stonewall Inn“ und den CSD-Paraden im Jahre 2024 könnte in der Tat nicht größer sein. Während vor 55 Jahren nicht-heteronormative Sexualität nur im Verborgenen mit ständiger Angst vor staatlicher Repression gelebt werden konnte, gar illegal war, so marschieren Pride-Paraden heute ganz offen nicht nur durch Großstädte, sondern auch durch Provinzkäffer. Anstatt die Teilnehmenden zu verhaften, beschützt die Polizei die Aufmärsche nun, für Politiker*innen ist es ein gern wahrgenommener Termin für die eigene Imagepflege. Früher undenkbar war ebenfalls, dass Unternehmen Pride-Paraden sponsern, gar ein eigenes internes LGBTI-Netzwerk mit eigenem Truck mitfahren lassen oder Give-aways und Regenbogeneditionen ihrer Produkte auf den Markt werfen.
Zu unpolitische Freiluftparty
Doch während die einen sich auf die jährlichen Freiluftpartys der queeren Sichtbarkeit freuen, zetern die anderen über das ihnen zu unpolitische Vergnügen. Beispielhaft für die Sehnsucht nach dem revolutionären Geist der Vergangenheit ist Dirk Ludigs sauertöpfischer Kommentar von 2022 im Berliner Szeneblättchen Siegessäule über den CSD Berlin: „Wenn dieser CSD 2022 irgendetwas war, dann noch unpolitischer, noch mainstreamiger, noch weniger queer, noch weißer, noch weniger glamourös als die CSD-Paraden davor.“
Während man einem schwulen Mann, der mit solchen Verrissen vielleicht auch seiner eigenen rebellischen Jugend hinterhertrauert, noch mildernde Umstände zuerkennen möchte, muss dennoch über die Gefahren solcher regressiven Nostalgie gesprochen werden.
Stonewall-Mystik
Niemand kann sich ernsthaft in die Zeiten zurückwünschen wollen, als sexuelle und geschlechtliche Abweichungen nur heimlich, unter großer Angst vor staatlicher und familiärer Sanktion gelebt werden konnten. Zugleich ist zutreffend, dass noch nicht alle gesellschaftlichen Fragen für ein gutes Leben vollständig abgeräumt worden sind – und möglicherweise nie ganz werden. Doch das Beschwören der Aufstände von 1969 wie einen mystischen Ursprung, den es wie einen Quell immerwährender Jugend zu bewahren gilt, wird uns nicht weiterbringen.
Rebellion und Revolution verheißen den Geist widerständiger Jugend und versprühen eine Form von Coolness. Eine Coolness, die man in den Firmenzentralen von DAX-Unternehmen oder im institutionalisierten Politikbetrieb nicht zu finden vermag.
Coolness vs. Bürgerrechte
Doch um Coolness geht es bei bürgerrechtlichen Fragen nicht, sondern um Gleichberechtigung, um die Chancen auf gleiche Teilhabe an Öffentlichkeit. Homos und Trans sollen nicht auf die Abweichung vom Heteronormativen reduziert, sondern als ganze Menschen gesehen werden und die individuellen Freiheiten und Möglichkeitsräume haben, wie andere auch. Ob nun in der Führungsetage eines Weltkonzerns arbeitend oder in einem linksautonom besetzten Haus lebend, all das soll Teil der persönlichen Vorlieben sein, wie man sein Leben gestalten will.
Doch einigen scheint diese Realität, wie sie jetzt ist, zu wenig aufregend zu sein. Daraus Kapital schlagen Gruppen, die eben genau die rebellische Coolness und ein verbindendes Gemeinschaftserleben versprechen. Allen voran wird nun antisemitischer pro-palästinensischer Aktivismus als solches platziert, in Berlin zum Beispiel notorisch auf dem „Internationalist Queer Pride“ oder deutschlandweit durch Gruppen aus dem Umfeld der türkischen marxistisch-leninistischen Jugendorganisation „Young Struggle“. Autoritäre linke Gruppen, die rote Fahnen mit Hammer und Sichel schwenken, scheinen rebellische Bedürfnisse zu befriedigen. Dem voran ging jahrelange intellektuelle Agitation, warum gegen Israel sein ein natürliches Anliegen für LGBT sein müsse, wie Corinne E. Blackmer erläutert hat.
Im sich als rebellisch und progressiv verstehenden Milieu sind nun Wassermelone und Pali-Tuch die Trendaccessoires der Sommermode, inklusive dem Schlachtruf „Yallah, Intifada“. Doch wie beim Berliner Dyke March zu sehen war, zieht das eine Klientel an, der an tatsächlicher Emanzipation insbesondere von Lesben und anderen Frauen nicht gelegen sein dürfte.
Ankommen im Heute
Mit einem aufgeräumten Verhältnis zur eigenen Geschichtlichkeit sowie zum Status Quo, könnte man sich fragen, ob es tatsächlich im eigenen Interesse ist, Antisemiten die eigene Plattform zu überlassen, die LGBT eigentlich ablehnend gegenüberstehen. Ein Blick in die Geschichtsbücher sollte genügen, um zu erkennen, dass sich der Traum von Revolution auch in einen Alptraum verkehren kann, wo mitnichten persönliche Freiheit wartet.
Daher: Werdet endlich erwachsen und akzeptiert, dass „Stonewall“ einen Platz in den Geschichtsbüchern, aber nicht in der Gegenwart hat.
Till Randolf Amelungist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.
Geschlechterdiskussion bei den Olympischen Spielen geht weiter
Die Debatte um die Teilnahme von mutmaßlich intersexuellen Boxerinnen am olympischen Wettkampf der Frauen nimmt kein Ende. Hat das IOC aus ideologischen Gründen die Fairness im Frauensport untergraben?
4. August 2024 | Till Randolf Amelung
Die Kontroverse um den Sieg der algerischen Boxerin Imane Khelif durch Aufgabe der Kontrahentin aus Italien, Angela Carini, am 1. August bei den Olympischen Spielen in Paris hält weiter an. Insbesondere deshalb kommt die Diskussion nicht zum Ende, weil Khelif nun die Halbfinals erreicht und damit eine olympische Medaille sicher hat.
Der internationale Boxverband IBA – der nicht das Dirigat über die Regeln des Boxturniers bei diesen Olympischen Spielen inne hat – gießt nun auch noch Öl ins Feuer, da den unterlegenen Boxerinnen Prämien gezahlt werden sollen, die in der Höhe denen für Olympiasiegerinnen entsprechen. Es ist davon auszugehen, dass die IBA die Auseinandersetzung weiter befeuern wird, um dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) eins mitzugeben. Der IOC hat den Verband wegen Korruption ausgeschlossen und ist daher in Paris nun selbst Veranstalter der Boxwettkämpfe. Zudem gilt der IBA-Präsident Umar Kremlev als korrupt und politisch putinnah.
Nicht bestandener Geschlechtstest
Für Diskussionsstoff sorgt weiterhin, dass der Boxverband IBA – eben anders als das IOC nun beim olympischen Turnier – Khelif wegen eines nicht bestandenen medizinischen Geschlechtstests von der WM 2023 ausgeschlossen hatte. Dabei sei es nicht um den Testosteronwert gegangen. Inzwischen wurde der Brief der IBA an das IOC veröffentlicht, mitsamt der darin befindlichen sensiblen Informationen, den Ergebnissen der Chromomentests.
Zu lesen war in der Berichterstattung auch, dass Khelif gegen den Ausschluss eine Klage beim Internationalen Sportgerichtshof CAS eingereicht, diese dann aber doch wieder zurückgezogen habe. Die zweite umstrittene Person, die taiwanesische Boxerin Lin Yu-ting verzichtete auf eine Anrufung der höchsten Sportgerichtsbarkeit gegen den WM-Ausschluss.
Sigi Lieb, Kommunikationsberaterin und Autorin des Buchs Alle(s) Gender, kritisiert gegenüber IQN den Umgang des IOC: „Die Eskalation war vorhersehbar. Khelif konnte nicht gewinnen. Entweder sie verliert beim Boxen. Oder sie gewinnt und sie erntet massenweise Diffamierungen und Ablehnung.“
Lieb fügt hinzu: „Bereits im März kritisierte das Forschungsteam um Thommy R. Lundberg aus Schweden die IOC-Kriterien als unfair gegenüber Frauen. Hier hätte das IOC sowohl zum Schutz der beiden mutmaßlich intergeschlechtlichen Boxer*innen wie zum Schutz der Frauen valide, wissenschaftliche Kriterien heranziehen müssen. Weder allein der Pass noch allein der Chromosomensatz können das leisten. Geklärt werden muss, ob aufgrund einer Vermännlichung des Körpers oder aufgrund von höheren Testosteronwerten unlautere Vorteile da sind.“
Neue Regeln ab 2022
Beginnend ab März 2022 hat das IOC neue Regeln für den Umgang mit trans- und intergeschlechtlichen Athlet*innen erlassen. Anstatt wie zuvor einen grundsätzlichen Testosterongrenzwert festzulegen, wurden Details in die Verantwortung der jeweiligen Sportverbände gelegt.
Begründung: Ein pauschaler Testosteronwert würde den unterschiedlichen Erfordernissen der Vielzahl an Sportarten nicht gerecht. Zugleich war es dem IOC wichtig, dass Teilnahmebeschränkungen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren und dabei die Würde von trans- und intergeschlechtlichen Personen berücksichtigt wird.
Testosteron ist gerade im Leistungssport der entscheidende Faktor für Kraft und Ausdauer. Besonders in der Pubertät sorgt es für bleibende Leistungsunterschiede zwischen biologischen Männern und Frauen. Das stellt auch der von Lieb erwähnte Sportwissenschaftler Tommy Lundberg vom Karolinska Institut der medizinischen Universität in Stockholm in seiner im März dieses Jahres zusammen mit weiteren Autor*innen veröffentlichten Kritik am IOC heraus.
IOC-Regeln nicht wissenschaftlich fundiert
Lundberg et al. kritisieren, dass der IOC-Rahmen nicht mit dem aktuellen wissenschaftlichen und medizinischen Wissen übereinstimme. „Der IOC-Rahmen bietet den Sportbehörden keine geeigneten Leitlinien zum Schutz der weiblichen Kategorie im Sport“, lautet das Urteil der Wissenschafter*innen.
Die biologischen Unterschiede zwischen Frauen und Männern finden sich in Bezug auf Skelettgröße und -form, Muskelmasse und -funktion, Lungenfunktion und Herz-Kreislauf-Funktion. Der Geschlechtsdimorphismus ist hauptsächlich auf die hohen Testosteronwerte zurückzuführen, die während der männlichen Pubertät in den Hoden produziert werden, obwohl geschlechtsspezifische Gene und postnatale Hormonunterschiede auch schon vor der Pubertät zu geschlechtsspezifischen Unterschieden im Phänotyp beitragen können.
Dagegen sagt das IOC, dass es „keine Vermutung eines Vorteils“ aufgrund von „biologischen oder physiologischen Merkmalen“ geben solle und dass die Zulassungskriterien individuelle Unterschiede bei Faktoren, die sich auf die Leistung und Sicherheit auswirken, berücksichtigen sollten.
Die Wissenschaftler*innen um Tommy Lundberg insistieren, dass die IOC-Linie nicht dem Stand der Wissenschaft entspreche: „Insbesondere die männliche Entwicklung führt zu so großen physischen und physiologischen Leistungsvorteilen, dass für Sportarten, die Kraft, Stärke, Schnelligkeit und Ausdauer erfordern, eine separate Kategorie erforderlich ist, um Eigenschaften auszuschließen, die aus der normalen männlichen Entwicklung resultieren.“
Intersex-Variante 5-ARD
Diesen grundsätzlichen Stand der Wissenschaft bestätigte auch Ilse Jacobsen, Professorin für Mikrobielle Immunologie an der Friedrich-Schiller-Universität zu Jena, gegenüber IQN. Jacobsen sagt: „Wir stehen vor dem Problem, dass die medizinischen Fakten nicht wirklich bekannt sind. Aus den vorhandenen Angaben kann man die begründete Vermutung anstellen, dass bei Khelif eine DSD vorliegt. Äußerungen des algerischen Verbandes deuten darauf hin, dass Khelif die DSD 5-ARD hat, dies wurde aber nicht explizit bestätigt.“
DSD steht für „Differences of Sexual Developement“, zu Deutsch auch „Varianten der Geschlechtsentwicklung“. Eine Untergruppe von DSD sind Varianten von Intergeschlechtlichkeit, womit gemeint ist, dass „ein Teil der Geschlechtsmerkmale auf das eine, ein Teil auf das andere Geschlecht verweisen“. Bei „5-ARD“ (5α-Reductase deficiency) handelt es sich Jacobsen zufolge um eine Variante, wo jemand XY-Chromosome hat und Testosteron wirkt, aber aufgrund eines Enzymdefekts nicht in Dehydrotestosteron umgewandelt werden kann.
Das führt so Jacobsen dazu, dass sich in einem frühen Stadium der Embryonalentwicklung das angelegte männliche äußere Genital nicht wie gewöhnlich weiterentwickelt. So kann, je nach Ausprägung, das äußere Genital bei Geburt typisch weiblich ausgebildet sein oder einem unterentwickelten männlichem Genitale mit Mikropenis entsprechen. In der Pubertät kommt es durch die große Menge an gebildetem Testosteron zu den für eine männliche Pubertät typischen Veränderungen, einschließlich Wachstum des Mikropenis oder Vergrößerung der Klitoris, allerdings in individuell unterschiedlich starker Ausprägung. Ein Brustwachstum tritt nur sehr selten auf.
Biologisch männlich?
Die Evolutionsbiologin Carole Hooven, Autorin des Buches „T wie Testosteron“, erklärt auf X, dass die spezifischen Gegebenheiten dieser DSD-Variante die Einordung als „biologisch männlich“ rechtfertigen.
Die spezifischen Besonderheiten von 5-ARD machen nachvollziehbar, wie es überhaupt passieren kann, dass eine vermännlichte Person als Frau im Spitzensport landet. In der Regel liegt dem auch keine Betrugsabsicht zugrunde, sehr oft ist den betreffenden Personen ihre körperliche Besonderheit nicht bewusst, die sie so von biologischen Frauen trennt. Zumal viele sozial als Mädchen erzogen werden.
Dennoch ist der Unterschied durch die testosterongeprägte Pubertät derart fundamental, dass die in dieser Debatte häufig zu lesenden Vergleiche mit körperlichen Vorteilen wie beim Ausnahmeschwimmer Michael Phelps ins Leere laufen und sogar grob irreführend sind.
Weitere Fälle in der Sportgeschichte
Neben der Leichtathletin Caster Semenya kennt die Sportgeschichte weitere Fälle. Da wären zum Beispiel Dora/Heinrich Ratjen (Olympische Spiele 1936) oder die Polin Ewa Klobukowska (Goldmedaillengewinnerin bei Olympia 1964 in Tokio), die 1967 als erste durch damals erstmalig verpflichtende Geschlechtsuntersuchung gefallen war und daher gesperrt wurde. 1968 führte das IOC verpflichtende Geschlechtstest für die Frauenwettkämpfe bei Olympischen Spielen ein.
Auch die sowjetischen Sportlerinnen und Schwestern Tamara und Irina Press, die von 1960 bis 1964 die Leichtathletik mit zahlreichen Weltrekorden dominierten, stehen bis heute unter Verdacht, dass sie einen unfairen Vorteil hatten. Vor allem bei Tamara Press gab es stets Mutmaßungen, sie könnte intersexuell sein und von einem überdurchschnittlichen Maß an Testosteron profitieren.
Bewiesen oder von Tamara Press selbst zu Lebzeiten offengelegt wurde das nie. Weiter angeheizt wurden die Spekulationen, als die in westlichen Medien auch „Press Brothers“ genannten Schwestern 1966 plötzlich ihre Teilnahme an der Europameisterschaft in Budapest zurückzogen – angeblich sei die Oma erkrankt. Bei der Europameisterschaft in der ungarischen Hauptstadt wurde damals erstmalig ein Geschlechtstest eingeführt.
Ein weiterer Fall, der international Bekanntheit erlangte, war der um den österreichischen Skifahrer Erik Schinegger. Als Erika wurde er Weltmeisterin. Erst danach erfuhr er von seinem eigentlich biologisch männlichen Geschlecht und beschloss nach einer Operation, fortan als Mann zu leben. Seine Goldmedaille von der Weltmeisterschaft wollte er später der damals Zweitplatzierten übergeben, die es aber ablehnte.
Schinegger hätte auch das Zeug gehabt, in Männerwettbewerben mitzuhalten, aber weder seine Familie noch der österreichische Skiverband konnten mit dem sozialen Geschlechtswechsel umgehen. So fand seine Sportkarriere ein jähes Ende. Gerade auch diese soziale Komponente sorgt für individuelle Verwicklungen, die unbedingt in Umgang und Berichterstattung berücksichtigt werden sollen. Diese Situation ist für die Betroffenen hochgradig belastend, zumal man mit so intimen Fragen des Körpers plötzlich in der Öffentlichkeit steht.
Sicherstellung fairer Wettkampfbedingungen
Die Historie der olympischen Spiele wird auch davon geprägt, faire Wettkämpfe sicherzustellen, woran auch die Immunologin Jacobsen nochmal erinnert: „Es gibt im Leistungssport verschiedenste Regelungen, die der Fairness dienen. Dazu gehören das Dopingverbot und Dopingtests zur Überwachung, Regeln zu Sportgeräten bspw. im Bobsport, der Sportkleidung (wir erinnern uns um die jährliche Diskussion zum Schnitt der Anzüge beim Skispringen oder auch vor einigen Jahren zum Material von Schwimmanzügen). Altersklassen, Gewichtsklassen und auch die Einteilung in Wettbewerbe für Männer und Frauen dienen dazu, einen ausgewogenen sportlichen Vergleich zu ermöglichen.“
Gerade bei der Einteilung in Männer- und Frauenwettbewerbe ist das biologische Geschlecht unabdingbar. Der Umgang mit Intersexualität sowie medizinische Verfahren zur Feststellung haben sich über die Jahrzehnte weiterentwickelt. Parallel zu den Fortschritten im medizinischen Bereich gab es aber auch Entwicklungen im politischen Bereich, als Menschen mit DSD sich zu organisieren und menschenrechtliche Forderungen zu stellen begannen.
Menschenrechtsaktivismus von Intersexuellen
Gerade innerhalb der letzten zehn Jahre haben Aktivist*innen für Menschen mit DSD viel erreicht: Frühkindliche operative Eingriffe sind inzwischen nicht nur verpönt, sondern zum Beispiel in Deutschland auch gesetzlich untersagt. Personenstandsrechtlich werden auch Geschlechtseinträge jenseits von „männlich“ und „weiblich“ angeboten – in Deutschland darf der Eintrag divers gewählt werden oder frei bleiben.
Das individuelle Wohlbefinden der betreffenden Person steht viel mehr im Fokus, als noch in der jüngeren Vergangenheit, wo es mit der sogenannten „Optimal Gender Policy“ darum ging, frühzeitig das männliche oder weibliche Geschlecht zuzuweisen – ohne Rücksicht auf die mögliche spätere tatsächliche Entwicklung oder auch körperliche Unversehrtheit.
Vor diesem Hintergrund sind auch die seit 2022 geltenden Regeln des IOC einzuordnen. Sie sind vor allem menschenrechtlich begründet. Damit wird allerdings ein fairer Wettkampf im Frauensport gefährdet, denn aus ideologischen Gründen werden naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu biologischen Geschlechtsunterschieden verdrängt, faktisch ignoriert.
So ist es kein Wunder, dass der Shitstorm gegen die Boxerin Imane Khelif und das IOC kein Ende findet. Allerdings kam es dabei in vielen Fällen zunächst zu Falschdarstellungen, dass es sich bei Imane Khelif um eine Transfrau handele. Ebenso ist die Berichterstattung von Unkundigkeit in Bezug auf DSD geprägt, was sowohl Sigi Lieb als auch Ilse Jacobsen kritisieren. Damit wurden sowohl Empörung als auch Hass befördert.
Lieb beobachtet die Kontroversen rund um den Frauensport schon länger: „Feministinnen beobachten seit Längerem, dass in Sportwettbewerben Transfrauen, die zuvor bei Männern im Mittelmaß landeten, als Transfrau auf das Treppchen der Frauenkategorie steigen. Ihre Einwände werden nicht gehört. Das macht wütend. Zudem war die Berichterstattung über die beiden Boxer*innen im Vorfeld fehlerhaft. Fast alle Medien, darunter auch queer-aktivistische wie das Szene-Medium queer.de bezeichneten die beiden als Transgender, was sie nicht sind, sondern intergeschlechtlich.“
Ein Faktencheck, der keiner ist
Versagt hat hierbei auch der Volksverpetzer, ein selbsternannter „Faktenchecker“. Deren Artikel wird von der links-woken Bubble überall eifrig verlinkt, so als könne der Inhalt jede Diskussion beenden.
Die Volksverpetzer-Autoren erklärten Khelif flugs zur „Cis-Frau“, weil sie sich mit dem Geschlecht identifiziere, das bei der Geburt ihr zuerkannt wurde. Die Aussagen des vom IOC suspendierten Boxverbands IBA zum biologischen Geschlecht der beiden umstrittenen Teilnehmerinnen werden als Lügen abgetan, weil die IBA massive Korruptionsvorwürfe umgeben, die Putinnähe des Präsidenten gilt ebenfalls als schlagendes Argument.
Bemerkenswert am Volksverpetzer-Text ist, wie bei vielen queeraktivistisch-woken Akteuren, die arrogante Attitüde der moralisch-überlegenden Wissenden und die genervt wirkende Verachtung des unwissenden Pöbels. Diese destruktive Haltung bewirkt nun genau das Gegenteil von sachlicher Aufklärung und befeuert einen kulturkämpferischen Hass, der am Ende vor allem Menschen mit DSD schaden wird.
Umso wichtiger ist es, dass Institutionen wie das IOC in Geschlechterfragen zurück zur Wissenschaft finden und identitätspolitische Erwägungen außen vor lassen. Das IOC ist nun gefordert, Verantwortung zu übernehmen, den Frauensport zu schützen, ebenso wie das Wohlergehen der mutmaßlich intersexuellen Athlet*innen.
Till Randolf Amelungist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.
Ein Boxkampf in der Frauenkategorie bei den olympischen Sommerspielen in Paris entfacht die Auseinandersetzung neu, ob trans- und intergeschlechtliche Athlet*innen an Frauenwettkämpfen teilnehmen dürfen sollten.
2. August 2024 | Till Randolf Amelung
Nur 46 Sekunden dauerte das Achtelfinal-Duell im olympischen Frauenboxwettbewerb in der Klasse bis 66 Kilo am 1. August 2024 zwischen Angela Carini (Italien) und Imane Khelif (Algerien). Dann gab Carini auf, um ihre Gesundheit zu schützen. Sie sagte, sie habe noch nie so harte Schläge bekommen. Noch während des Kampfes habe sie ihrem Trainer zugerufen, es sei nicht fair.
„Das ist gefährlich, was hier passiert. Ich will nicht für das Olympische Komitee urteilen und ich weiß, dass das Thema schwierig ist. Aber dieser Kampf war unfair“, sagte auch der Trainer der Italienerin, Emanuele Renzini laut der Welt. Denn dies ist kein gewöhnlicher Boxkampf unter Frauen gewesen.
Umstrittene Teilnehmerin aus Algerien bei WM 2023 disqualifiziert
Imane Khelif wurde 2023 bei der Weltmeisterschaft disqualifiziert – wegen zu hoher Testosteronwerte. Auf die Olympiateilnahme von Khelif hatte dies bemerkenswerterweise keine Auswirkungen. Offenbar weil der WM-Ausrichter, der Internationalen Box-Verband IBA, vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) nicht anerkannt wird. Musste Angela Carini bei Olympia also mit einem biologischen Mann in den Ring steigen?
Hierzu ist ausweislich der bisherigen Berichterstattung auch in internationalen Medien unklar, ob es sich bei Khelif um eine Transfrau oder um jemanden mit einer Variante aus dem Bereich der Intersexualität handelt. Das IOC kritisierte den medialen Umgang mit dem Fall und stellte schließlich klar, dass es nicht um Trans, sondern um Inter geht. Unstrittig ist jedoch, dass Khelif erhebliche Vorteile durch einen hohen Testosteronspiegel, vielleicht sogar schon von der Pubertät an zu haben scheint.
Empörung ist groß
Entsprechend empört fallen viele Reaktionen aus. Das feministische Magazin Emma kommentierte: „Olympia hat den ersten Skandal. Er ist ein Schlag ins Gesicht für alle Frauen.“ Die ehemalige deutsche Boxweltmeisterin Regina Halmich kommentierte auf Instagram: „Meine Meinung: das geht leider gar nicht. Ein Mann hat eine andere Genetik, mehr Muskulatur. Für mich dürfen solche Kämpfe nicht stattfinden.“
Der „Zeit“-Journalist Jochen Bittner schrieb auf dem Kurznachrichtendienst X: „Auch wenn sie intersexuell ist, gilt: Es muss nüchtern geprüft werden, ob ihr Antreten im Frauensport fair ist.“
Die weltbekannte Autorin J.K. Rowling schrieb, ebenfalls auf X: „Könnte ein Bild unsere neue Männerrechtsbewegung besser zusammenfassen? Das Grinsen eines Mannes, der weiß, dass er von einem frauenfeindlichen Sportestablishment beschützt wird, das sich am Leid einer Frau erfreut, der er gerade auf den Kopf geschlagen hat und deren Lebensambitionen er gerade zerstört hat.“
Sharron Davies, ehemalige britische Schwimmerin und Medaillengewinnerin bei Olympischen Spielen, schrieb auf X, dass es bei den Geschlechtstest vor allem um die Chromosomen gehe, der Testosteronspiegel sei als wichtiger Hinweisgeber zu verstehen. Sie forderte eine sachlich korrekte Berichterstattung, damit das Problem überhaupt erfasst werde.
IOC verteidigt Teilnahme
Das IOC verteidigte hingegen seine Entscheidung, Imane Khelif und die zweite umstrittene Person, die taiwanesische Boxerin Lin Yu-ting, antreten zu lassen. Der Sprecher Mark Adams sagte laut Welt: „Es sind Menschen involviert, wir sprechen über das Leben von Menschen. Sie sind in Frauenwettbewerben angetreten, sie haben gegen Frauen gewonnen und sie haben gegen Frauen verloren über die Jahre.“ Und das, sowohl Khelif als auch Yu-ting grundsätzlich die Voraussetzungen für eine Zulassung erfüllen würden, da sie in ihren Pässen als „weiblich“ eingetragen seien. Auch Yu-ting wurde 2023 bei der WM wegen zu hoher Testosteronwerte disqualifiziert.
Auch aus der Politik kamen Reaktionen, so zum Beispiel von Italiens Ministerpräsidentin Georgia Meloni: „Ich stimme nicht mit dem IOC überein. Ich denke, Athletinnen mit männlichen genetischen Merkmalen sollten nicht an Frauen-Wettbewerben teilnehmen dürfen. Nicht, weil wir jemanden diskriminieren wollen, sondern um das Recht der weiblichen Athleten zu schützen.“
Inter im Frauensport
Gerade Trans und Inter sorgen in den Frauenriegen des Spitzensports immer wieder für hitzige Debatten. Im Zentrum steht die Frage, wie groß die Vorteile durch eine vermännlichende Pubertät sind und später bleiben, selbst wenn es bei Transfrauen eine feminisierende Hormontherapie erfolgt.
Bei Varianten von Intersexualität mit deutlich erhöhtem Testosteronspiegeln wird inzwischen verlangt, dass dieser medikamentös gesenkt wird, so geschehen bei der südafrikanischen Mittelstreckenläuferin Caster Semenya. Die Mittelstrecklerin verfügt eine genetische Anomalie – ihre Leistungen in Frauenwettbewerben sind grundsätzlich allen anderen stark überlegen, zugleich kann sie nicht mit Männern leichtathletisch konkurrieren, dafür reicht es allen Trainingsmühen zum Trotz nie. Ihre Versuche, gegen diese pharmakologische Auflage vorzugehen, waren bislang erfolglos. Nun ist eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig.
Intersexualität als Herausforderung für Frauensportwettbewerbe ist kein neues Phänomen. Testosterongrenzwerte und andere Auflagen, wie zum Beispiel bis in die 1960er Jahre hinein Genitalinspektionen und Chromosomentests, wurden deshalb eingeführt. Heutzutage ist vor allem der Testosteronwert das entscheidende Kriterium.
Teilnahme von Transfrauen an Frauenwettbewerben
Die Teilnahme von Transfrauen an Frauenwettbewerben bekam durch die Teilnahme von Lia Thomas an Schwimmwettbewerben im College-Bereich international Aufmerksamkeit. 2022 entschied der Welt-Schwimmverband FINA, dass nur noch in der Frauenkategorie startberechtigt ist, wer nie eine männliche Pubertät durchlaufen hat. Bei Transfrauen hieße dies, einen frühen Einsatz von Pubertätsblockern anzustreben. Diese sind international inzwischen hochumstritten oder, je nach Land, verboten, weil langfristige Risiken für die Gesundheit bei Heranwachsenden bislang nicht ausreichend geklärt werden konnten.
Auch andere Sportverbände zogen nach und regelten die Zugangsvoraussetzungen zu den Frauenwettkämpfen neu: Die Weltverbände für Leichtathletik, Rugby und Radsport haben vergleichbare Einschränkungen wie der Schwimmverband erlassen. Das IOC überlässt es den von ihnen zugelassenen Verbänden, Regelungen zu treffen.
Biologisches Geschlecht als Risikofaktor
Der Weltboxverband hat Transfrauen von Frauenwettkämpfen ganz ausgeschlossen. Im Boxen ist nicht nur die Fairness zu berücksichtigen, sondern auch ein erhöhtes Verletzungsrisiko. „Laut einer Studie von British Journal of Sports Medicine sind Frauen im Kampfsport einem höheren Risiko für Gehirnerschütterungen und andere schwere Verletzungen ausgesetzt, wenn sie gegen physisch überlegene Gegner antreten“, heißt es auf dem Portal Boxen1.
Dies bestätigt der Fall um Fallon Fox. Fox, eine US-amerikanische Transfrau und ehemalige Mixed-Material-ArtKämpferin. 2014 trat sie in einem Kampf gegen ihre Landsfrau Tamikka Brents an. Brents verlor nicht nur, sondern erlitt auch noch eine Schädelfraktur. Später klagte Brents, vergleichbar wie nun 2024 Angela Carini, dass sie noch nie so harte Schläge in einem Kampf unter Frauen erhalten habe und dies kein fairer Kampf gewesen sei.
Inklusion kommt an ihre Grenzen
Der aktuelle Fall von den Olympischen Spielen in Paris zeigt: Inklusion hat Grenzen, und biologische Faktoren können bei Geschlecht weder wegdiskutiert noch kleingeredet werden. Schon gar nicht sollte mit Inklusion die Toleranz anderer strapaziert werden, deren Wettbewerbe mit solchen Belastungen für faire Bedingungen ruiniert werden.
Dies fördert Frustration und Abwehr und trägt nicht zur gesellschaftlichen Akzeptanz von Trans- und Interpersonen bei. Die Grenzen, die durch biologisch-körperliche Bedingungen auferlegt werden, können für Betroffene aus dem Trans- oder Interbereich persönlich eine Zumutung sein. Man kommt aber nicht umhin, diese anzuerkennen – wenn vielleicht auch zähneknirschend.
Till Randolf Amelungist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.
Dyke* March Berlin 2024 – Lesbische Sichtbarkeit unerwünscht
Teil 2 der IQN-Berichterstattung
Am 26. Juli fand der elfte Dyke* March Berlin statt. Die Veranstaltung am Vorabend des CSD wurde einst gegründet, damit Lesben sichtbar werden können. Doch während an einem Ende des diesjährigen Dyke* March Berlin die Vernichtung Israels propagiert wird, wird am anderen Ende des Umzugs der Verachtung für homosexuelle Frauen freien Lauf gelassen.
30. Juli 2024 | Chantalle El Helou
Der Dyke* March Berlin startete dieses Jahr auf dem Karl-Marx-Platz in Neukölln. Aufgeheizt ist die Stimmung schon aufgrund der Aggressivität antizionistischer Aktivisten von Anbeginn.
Eine kleine Gruppe von ungefähr 17 Lesben möchte dennoch dem eigentlichen Anliegen des Dyke* March nachkommen und läuft als feministisch-lesbische Gruppe mit. Auf ihren Transparenten steht „My Vulva is a female only space“, „kompromisslos lesbisch“, „Solidarität mit Lesben aller Länder“, „Not your Porn“, „Gender ist the cause of dysphoria not the solution“, „Dyke XX March“ und „unendlich frauenzentriert“.
Sie rahmen ihre kleine Gruppe mit Bannern ein: „Frauenliebe ist unsere Stärke – Lesbenfront“ und „Wir Lesben sind überall“. Das verschränkte Venussymbol und die Doppelaxt sind auf Schildern und zwei Flaggen präsent. Sie rufen: „Viva viva Lesbiana“. Damit bildet die Gruppe den wohl sichtbar lesbischsten Teil auf dem Dyke* March, der ansonsten sehr farblos oder mit Pro-Palästina-Sympathiebekenntnissen daherkommt.
Vorwurf der Transfeindlichkeit
Diese offene und klare Präsentation des eigenen Lesbischseins erregt auf dem Dyke* March Anstoß. Das Verständnis von Homosexualität als auf den geschlechtlichen Körper des anderen Menschen bezogenes Begehren, ist schon lange nicht mehr Konsens in dieser Community. Stattdessen wird die Innerlichkeit, die Geschlechtsempfindung, die Geschlechtsidentität hervorgehoben. Das heißt: Auch männliche Körper sollen im lesbischen Begehren auftauchen können. Somit gelten die Transparente und Motti der lesbisch-feministischen Gruppe als transfeindlich.
Von der breiten Karl-Marx-Straße einbiegend in die engere Anzengruberstraße sehen sich die Frauen bald einem wütenden Mob von etwa 50 Transaktivisten gegenüber, der versucht, die Gruppe vom Dyke* March durch Blockade und Einschüchterung zu vertreiben. Sie werden schließlich von einer anwachsenden Traube aus mindestens 100 Personen eingekesselt und eine halbe Stunde lang am Weitergehen gehindert. Die Aktivisten rufen: „Terfs, verpisst euch, keiner vermisst euch“ – Terf ist das Akronym für Trans-Exclusionary Radical Feminist –, „Haut ab“ und „Macht sie platt“.
In der Einkesselung bilden die Frauen mit ihren Händen das feministische Vulva-Symbol und die Menge bricht in verärgertes Grölen aus.
Mehrmals wird erfolglos versucht, den Lesben das Banner mit der Aufschrift „Frauenliebe ist unsere Stärke – Lesbenfront“ zu entreißen. Ein Schild mit der Aussage „Lesbe – gleichgeschlechtlich liebende Frau“ gelangt hingegen in die Hände der Transaktivisten. Sie zerreißen das Schild und versuchen, es anzuzünden.
Positiver Bezug auf das Lesbischsein
Um es klar zu sagen: Die Lesbengruppe trug keine transfeindlichen Sprüche bei sich, sondern vor allem Schilder mit positivem Bezug auf das Lesbischsein. Ein Schild mit besagter Aufschrift verbrennen zu wollen, bedeutet die Leugnung der weiblichen Homosexualität selbst. Die Lesben veröffentlichen später auch in einem Statement ihre Motivation: „Es ist uns bewusst, dass es aus der Mode gekommen ist, Frauen Vorrang einzuräumen, gerade – und ironischerweise – innerhalb der Lesbenkultur. Es ist Ausdruck von Lesbenhass, wenn die ausschließlich auf Frauen bezogenen, women-only, sexuellen und politischen Grenzen von Lesben in Frage gestellt oder verletzt werden. Frauenhasser weigern sich, Grenzen von Frauen zu akzeptieren oder lesbische Autonomie zu respektieren.“
Erst durch verstärkte Polizeipräsenz löst sich die Blockade durch die Transaktivisten auf und die lesbische Gruppe kann ihre Teilnahme am Dyke* March unter Polizeieskorte fortsetzen. Es kommt auf der Erkstraße zu einer zweiten Blockade – diesmal ist eingehakt in der Menschenkette gegen die Lesben auch die bekannte Journalistin und Transfrau Georgine Kellermann. Die Gruppe wieder in den Zug zu integrieren, bleibt aufgrund von Sicherheitsbedenken unmöglich, sodass die Frauen schließlich nach der Hälfte der Strecke die Demo verlassen.
Die Reaktion von der Dyke* March Organisation, sowie von der berichtenden Presse wird den tatsächlichen Geschehnissen nicht gerecht und verfolgt eine ähnliche Täter-Opfer-Umkehr wie sie beim israelhassenden Mob vorgenommen wurde.
So behauptet die taz: „Die ungefähr 15 Menschen mit transfeindlichen Schildern versuchten zeitweise den hinteren Teil der Demo zu blockieren.“ Was daran transfeindlich sein soll, wird nicht erläutert. Dafür wird aber behauptet, die Lesben, die am Dyke* March teilgenommen haben, hätten diesen blockiert. Tatsächlich waren es aber die Transaktivisten, die die Demo durch das Blockieren der Lesben aufhielten.
Organisatorin beschuldigt Lesben
Diese irreführende Darstellung wird auch von Manuela Kay, der Initiatorin des Dyke* March Berlin und Co-Verlegerin von Siegessäule und L-Mag, bei Radioeins verbreitet.
Kay macht in ihrer Erzählung aus einer kleinen Lesbengruppe mehrere Gruppen, die transfeindlich gewesen seien. Deren Ziel sei ihrer Meinung nach: Provokation und Spaltung. Kays Darstellung der Konflikte auf der Demo lässt es so aussehen, als ob feministische Lesben, Israelsolidarische und Israelhasser ähnlich stark auf dem Dyke* March vertreten gewesen wären.
Sowohl die feministischen Lesben als auch die israelsolidarischen beliefen sich auf eine geringe Anzahl, während mindestens 500 Antizionisten lautstark beteiligt waren. Die Lesbengruppe in der hinteren Mitte der Demo wird also aufgebauscht, während der judenfeindliche Mob an ihrer Spitze heruntergespielt wird.
Bemerkenswert zudem: Wesentliche Blockaden während der Demo wurden von den Hundertschaften an Israelhassern im zweiten, vorderen Block verursacht, weil sie regelmäßig stoppten, durch verbotene Parolen wie „From the river to the sea“ Polizeieinsätze verursachten und dadurch große Lücken zwischen Demospitze und dem Rest rissen.
Thematisierung von Lesbenfeindlichkeit und Antisemitismus unerwünscht
Die Reaktion der Organisation des Dyke* March ist dieselbe wie auf die Antizionisten: Nicht die Frauen- und Lesbenfeindlichkeit der queeren Szene ist das Problem, sondern deren Thematisierung. Wer es also wagt, das Lesbischsein als zentriert auf Frauen und den biologisch weiblichen Körper darzustellen, gilt als Provokateur und Spalter.
Dabei ist fraglich, ob eine dieser transaktivistischen Lesben jemals mit männlichen Körpern oder Genitalien verkehren wollen würde. Ihre Reaktion auf die lesbisch feministische Gruppe zeigt aber: Es ist ein Tabu, genau das auszusprechen. Dass die exklusive Hingezogenheit zum weiblichen Körper selbstverständlich als transfeindlich gilt, kann ebenso dem Erfahrungsbericht zum Dyke* March Berlin von Christian Bojidar Müller aus der Siegessäule entnommen werden.
Hier schreibt Müller über die Reaktion auf die lesbisch feministische Gruppe und ihre Transparente: „Andere Demonstrierende hielten ihre Trans*-Flaggen hoch, um die trans*-feindlichen und exkludierenden Transparente wie „My Vagina is a female place only“ zu überdecken.“ Dass auf dem Transparent tatsächlich „My Vulva is a female only space“ stand und es auch einen Unterschied zwischen Vulva und Vagina gibt, hier nur nebenbei.
Die Aussage dieses Kommentars ist: Eine Frau, die keinen männlichen Körper, keine Penisse an oder in sich haben will, ist transfeindlich. Damit gilt auch Lesbischsein als transfeindlich.
Weil die Thematisierung von geschlechtlicher Körperlichkeit in der queeren Szene vermieden wird, obwohl sie dennoch weiterhin die unausgesprochene Grundlage gelebter Sexualität bildet, stellen Frauen, die sich offen zum weiblichen Körper bekennen, den Stachel in der verlogenen Harmonie dar und müssen darum umso heftiger bekämpft werden. Sprüche wie „Terfs can suck my trans dick“ erfahren nicht den gleichen Widerspruch und dürfen ohne Probleme in der Demo gezeigt werden.
Der Transaktivismus besteht eben nicht daraus, Lesben grundsätzlich auszuschließen, sondern sich selbst mit aller Vehemenz in deren Sexualität zu integrieren. Die Reaktion auf die Gruppe beweist: Wer diesem Vorhaben keinen vorauseilenden Gehorsam zollt, sondern sich einfach auf den weiblichen Körper fokussiert, wird in dieser Szene bekämpft.
Chantalle El Helou, geb. 2000, B.A. in Politikwissenschaft, zurzeit Masterstudium in Gesellschaftstheorie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; auf Ideologiekritik fokussiert, Publikationen zur Kritik an Prostitution, Queertheorie und Antizionismus, engagiert im lesbischen Nachtleben Berlins.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.
Dyke* March Berlin 2024 – Spalten, was gespalten gehört
Teil 1 der IQN-Berichterstattung
Dass der selbstzweckhafte Ruf nach Zusammenhalt Teil des antisemitischen Problems der queeren Szene ist, konnte dieses Jahr auf dem elften Dyke* March Berlin gut beobachtet werden. Allein für die lesbische Sichtbarkeit konnte man nicht auf die Straße gehen. Verantwortlich dafür sind die Organisatoren des Dyke* March Berlin selbst, die mit ihrer offen propagierten Israelfeindschaft zur Parteinahme zwangen.
28. Juli 2024 | Chantalle El Helou
Kurz gesagt: Die Okkupation des Dyke* March Berlin durch israelfeindliche Aktivisten war ein voller Erfolg. Mindestens 500 Frauen und Männer – darunter arabische Männer, die sich spontan dem Zug anschlossen – waren mit Kufiya, Transparenten und Palästinaflaggen bestückt und bildeten einen ekstatisch wütenden Mob, der unablässig, also über drei Stunden, antisemitische Slogans an vorderster Front des Dyke* Marches brüllte.
Antisemiten führen die Demo an
Gleich zu Beginn sammelten sich die Aktivisten direkt neben dem roten Transporter des Dyke* March Organisationsteams und läuteten die Demo lautstark mit frenetischen Sprechchören zur Vernichtung Israels ein: „Free free Palestine“ und „Yallah, yallah Intifada, von Berlin bis nach Gaza“. Als eine der Organisatorinnen dann die Demonstrationsordnung vorliest und auf das Verbot zur Bewerbung der „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ hinweist, beginnen die Aktivisten wütend zu grölen.
Nach dem Start der Demo reiht sich der immer größer werdende Mob vorn ein. Sie bilden zwar den zweiten Block, sind aber sowohl zahlenmäßig als auch in Sachen Sichtbarkeit dem ersten Block weit überlegen und führen mit ihrer starken Sichtbarkeit faktisch den Dyke* March an. Sie laufen mit einem ihrer größten Frontbanner „No pride in Genocide“ direkt neben dem Dyke* March Transporter, der laut Partymusik abspielt und auf dessen Frontseite das Banner mit dem diesjährigen Slogan „DYKES* united – against fascism “ steht.
Antizionistische Slogans
Eingerahmt wird der Block von großen Seitenbannern und den Slogans „generation after generation/ until total liberation“, „Dykes 4 palestine/ our pride ist the resistance“ und „no pride in apartheid“. Neben den „Dykes for palestine“ ist auch die „Alliance of Internationalist Feminists“ mit dabei, die „Our Revolution is Coming“ androht. Dass der Antizionismus Vehikel eigener Befindlichkeiten ist, wurde offensichtlich bei „Yeah I’m into BDSM/ Boycott, Divest, Sanction, Movement “, „We are all palestinians/ up with love, down with zionism“, „FLINTIFADA“ und „Made the Middle-East non-binary again!“ (gekennzeichnet mit einer Wassermelone und Magen David).
Der wohl krasseste Fall vereinnahmt eines der bedeutendsten Symbole der Schwulenbewegung: Der rosa Winkel der Act Up-Bewegung und ihres Slogans „Silence = Death“ befindet sich auf dem Schild eines Aktivisten. Der rosa Winkel zeigt mit der Spitze nach unten und imitiert somit ein Hamas-Dreieck. Unter „Silence = death“ steht „Zionism = Racism“.
Zum Vergleich: Dem riesigen, wütend israelfeindlichen Mob, der in den Straßen Neuköllns Pogromstimmung verbreitete, setzten sich sichtbar nur eine winzige israelsolidarische Gruppe (ca. 20 Personen) entgegen, die mit Davidstern auf Regenbogen nach Block vier, also ans mittlere Ende des Dyke* March verlegt wurden.
Antisemitische Vereinnahmung des Dyke March
Es muss hier klargemacht werden: Das hätte nicht zugelassen werden dürfen und es gibt nur zwei Erklärungen wie es dazu kommen konnte, dass der Dyke* March Berlin – keine Provinzveranstaltung, sondern der, der den Dyke March nach Deutschland brachte – zum Hort des Judenhasses werden konnte.
Entweder die Dyke* March Organisation steht hinter den Vernichtungswünschen gegen Israel, dann sind sie selbst antisemitisch. Oder die Dyke* March Organisation steht nicht dahinter, dann sind sie Kollaborateure der Antisemiten und zu rückgratlos, um die notwendigen Schritte einzuleiten. Sich nicht vereinnahmen zu lassen, hätte in diesem Fall bedeuten müssen, die Demo vorher abzusagen, während dessen abzubrechen oder den Block abzuspalten.
Dass das geht, bewies der Dyke* March von vor zwei Jahren. Eine kleine Gruppe von Frauen präsentierte ihr Lesbischsein als transexklusiv und wurde vom Orgateam sowohl auf dem March selbst als auch hinterher schwer verurteilt. Eine kleine Gruppe von Lesben, die nicht mit Männern schlafen wollen, sind auf dem Dyke* March Berlin ein Skandal, ein riesiger Mob von Antisemiten, die an vorderster Front des Zugs offen die Vernichtung Israels skandieren, sind hingegen völlig tolerierbar.
Ideologisch überzeugtes Orgateam
Die Medien-Präsenz des Dyke* March bestätigt den Eindruck, dass man nicht nur rückgratlos, sondern selbst ideologisch tief engagiert ist. Ende Juni rief der Dyke* March auf Instagram unter seinem Motto „Love Dykes* – Fight Fascism“ seine Teilnahme am globalen Kampf gegen Israel aus: Man sei nicht nur gegen Rechts, Rassismus und Antisemitismus, dieser Reihe wurde auch „settler colonialism, genocide and apartheid“ und drei Wassermelonen-Emojis angefügt. Dieser Kommentar wurde später gelöscht und durch insgesamt zwei Statements und einem Interview ersetzt, in dem die antiisraelische Haltung ebenso stark zum Ausdruck kommt.
Im ersten Statement behauptet man, sich weder vereinnahmen lassen zu wollen noch eindeutige Positionen zu vertreten. Diese Beteuerung hält jedoch nicht mal ein Statement lang, denn in einem Punkt ist man sich dann doch einig: „So verurteilen wir die derzeitigen Genozide in Palästina und anderen Teilen der Welt.“
Im zweiten Statement wird das bestärkt: „Antizionismus ist nicht Antisemitismus. Wir lehnen den rassistischen und islamophoben Diskurs ab, der Anschuldigungen des Antisemitismus nutzt, um Solidarität mit Palästina zu unterbinden“.
Mit der Verteidigung des Antizionismus hat man sich einer Haltung angeschlossen, die Israel das Existenzrecht abspricht und wiederholt das sogar ein zweites Mal im Interview mit Siegessäule. Dort freut sich eine der Organisatorinnen darüber, dass sich die Zahl der vernünftigen Homos, nämlich jene, die an der israelsolidarischen East Pride teilnahmen, auf lediglich 500 Personen beschränkte. Dass auf dem East Pride nur so wenige anzutreffen waren, ist weniger ein Armutszeugnis für die Veranstaltung, denn für die queere Szene und unterstreicht die Notwendigkeit und Legitimität des israelsolidarischen Anliegens.
Zusammenhalt um jeden Preis
Es war der Dyke* March selbst, der Israel zuerst und immer wieder zum Thema gemacht und offen Partei gegen den Zionismus ergriffen hat. Obwohl er damit alle Lesben, die am Dyke* March teilnehmen wollten, zwang, unter der Lüge des Genozidvorwurfs zu laufen, werden die Stifter des Unfriedens in der kleinen Gruppe an Israelsolidarischen gesehen, die offen Haltung am Soli-Abend in der Bar Möbel Olfe zeigten.
Die Reaktion der queeren Szene auf die israelsolidarische Aktion in der Möbel Olfe zeigte den dortigen Antisemitismus wirksam auf. Für die Dyke* March-Orga ist aber klar: Nicht die schlechte Nachricht, sondern der Überbringer schlechter Nachricht ist das eigentliche Problem. Sie finden nicht den Antisemitismus ihrer Szene verächtlich, sondern dessen Thematisierung.
Die Täter-Opfer-Umkehr, die man im Gaza-Krieg vornimmt, überträgt man gern auf sich selbst: Die gezeigte Israelsolidarität hatte aus Sicht des Dyke* March „nur eine Motivation: Provokation und Spaltung.“ In dieser Formulierung steckt selbst antisemitisches Ressentiment – nämlich der Vorwurf an Juden und Zionisten, eine eigentlich gute Welt – hier die eigentlich harmonische Welt des Dyke* March – künstlich zu spalten, Schaden um des Schadens willen anzurichten.
Kritiker des Antisemitismus sind Nestbeschmutzer
Als der Dyke* March am Oranienplatz zu seinem Ende kommt, spricht noch einmal Manuela Kay – die Initiatorin des Dyke* March Berlin – zu den Teilnehmern. Sie ruft erneut zu Zusammenhalt und gegen Spaltung auf.
Wenn eine große, sehr laute Zahl der Demonstranten Antisemiten sind und die Mehrheit der anderen Demonstranten dazu schweigen, dann ist der Aufruf zu Solidarität und Zusammenhalt zwangsläufig ein Aufruf zur Kollaboration mit dem antisemitischen Konsens und schlägt notwendig in die Diffamierung der wenigen Kritiker um. Der Nestbeschmutzer ist niemals die judenhassende Mehrheit, sondern immer der Kritiker.
Das beweist auch die Aktion einer Organisatorin des Dyke* March auf der After Show Party im „Ritter Butzke“. Dort konnte beobachtet werden, wie sie eine der Frauen, die sich auf dem Soliabend in der „Möbel Olfe“ israelsolidarisch zeigten, wegen „Diffamierung“ durch die Security von der Party entfernen ließ. Die zahlreichen Kufiya-Träger durften aber weiterhin ungestört feiern.
Einsicht in die Notwendigkeit des Zionismus
Der Dyke* March zeigt exemplarisch die Notwendigkeit des Zionismus: Wer, außer die Juden selbst, soll sich für ihr Wohl einsetzten? Etwa Menschen vom Schlage des Dyke* March Orgateams, die selbst nach dem Terroranschlag der Hamas auf Israel an ihrer Route über die Sonnenallee festhalten? Wohl wissend, dass es für sichtbare Juden dort nicht sicher ist?
Juden sind eben nur so lange erträglich wie sie keine Energie kosten. Aber Juden, die die Ohnmacht der Diaspora und damit die Auslieferung an ihre leidenschaftlichen Feinde und leidenschaftslosen Freunde nicht hinnehmen wollen und darum Zionisten sind, erklärt man zum Feind schlechthin.
Der Dyke* March und seine Organisatoren sind nicht nur zu Kollaborateuren des israelfeindlichen Mobs geworden, sondern haben für ihn durch ihre eindeutigen Statements die Arme ausgebreitet.
Was die Bewegung spaltet, soll die Ideologie nicht zusammenführen: Wenn Zusammenhalt nur um den Preis des Antisemitismus oder der Kollaboration mit ihm zu haben ist, kann man nicht nur, sondern muss man sogar die Spaltung wählen.
Chantalle El Helou, geb. 2000, B.A. in Politikwissenschaft, zurzeit Masterstudium in Gesellschaftstheorie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; auf Ideologiekritik fokussiert, Publikationen zur Kritik an Prostitution, Queertheorie und Antizionismus, engagiert im lesbischen Nachtleben Berlins.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.
Hinter dem Begriff des „Homonationalismus“ steht eine nicht durch Empirie gesättigte Vorstellung, Staaten des reichen, kapitalistischen Westens würden mit LGBT-Rechten nur von ihrem Rassismus insbesondere gegenüber Muslimen ablenken. Auch in LGBT-Kreisen gibt es Anhänger*innen dieser Behauptung. Jan Feddersen kommentiert, warum das falsch ist.
26. Juli 2024 | Jan Feddersen
In der Siegessäule, der Berliner LGBTIQ*+-Szeneillustrierten der queeren Milieus, erschien Anfang Juni ein beinah klassisch zu nennender Text von Lara Hansen, der diese Frage zu erläutern sucht: „Was ist Homonationalismus?“ Zunächst ließe sich sagen, dass die Vokabel „Homonationalismus“ zu den Kampfbegriffen der queerfeministischen Szene gehört, der auf die Theoretikerin Jasbir Puar zurückgeht.
LGBT-Rechte als Ablenkungsmanöver
Das Wort fußt auf einer Weltanschauung, der zufolge Schwule und Lesben und Trans in Ländern des „kapitalistischen Westens“ nur scheinbar in liberalisierten Verhältnissen leben. Westliche Nationalstaaten würden LGBT-Rechte ausschließlich zu rassistischen und nationalistischen Zwecken instrumentalisieren, davon würden vor allem „weiße schwule Cis-Männer profitieren“. Cis, es meint auch mich, einen biologischen Mann und Schwulen, der sich gegen jede Idee verwahrte, dass er psychiatrischen oder medizinischen Konversionen unterzogen werden sollte oder könnte. Meine Rechte seien ein bitter erkaufter Trugschluss, denn in den reichen Staaten sei diese Liberalisierung durch Hetze gegen und Diskriminierung von marginalisierten Menschen, insbesondere Migranten, Schwarze Menschen, möglich geworden. Homonationalismus meint also auch eine Kritik an der Zufriedenheit dieser LGBTI*-Szenen mit den erreichten Fortschritten in diesen Ländern.
Israel sei besonders perfide
Im Hinblick auf Israel sei Homonationalismus ein nachgerade imperialistisches Manöver der Regierung, sich eines „Pinkwashings“ zu bedienen: Mit dem Verweis auf den CSD in Tel Aviv wird kolportiert, dass diese queeren Szenen, die gut gelaunt in Tel Aviv feiern, eigentlich Agentinnen* des israelischen Besatzungsregime seien, um vor aller Welt als liberal dazustehen. Wir Homos als Aushängeschilder, damit die Hamas, die Palästinenser, der Islam weiterhin dämonisiert bleiben.
Wörtlich schreibt Lana Hansen in der Siegessäule:
„Dahinter steckt rassistisches Entweder-oder-Denken: Wer gegen den Islam sei, sei für Homosexuelle und umgekehrt. ‚Dieses Muster sehen wir auch bei uns. Etwa bei der AfD, die sich immer wieder gegen die Ehe für alle ausspricht und gegen Aufklärung zu sexueller Diversität in Schulen. Aber wenn es darum geht, den ‚guten weißen Schwulen‘ vor dem ‚bösen Moslem‘ zu beschützen, dann sind Queers wieder gut genug. Diese instrumentelle Herangehensweise zeichnet den Homonationalismus aus‘, sagt Experte Michael Hunklinger.“
Und:
„Laut Prof* Jin Haritaworn zeigt sich Homonationalismus in eben diesen schein-progressiven Bestrebungen, wie etwa Queers vor Migrant*innen zu schützen. ‚Migrantisierte Menschen werden als homophob, antisemitisch und patriarchal beschrieben – alles Eigenschaften, mit denen die weiße Mitte nichts mehr zu tun haben will‘, schreibt Haritaworn der SIEGESSÄULE.“
Lana Hansen will also sagen: „Schwule Männer und lesbische Frauen erkauften sich ihre Freiheit, indem sie Migrantinnen* verteufeln und den Islam im Besonderen.“
Gewöhnung an LGBT über Jahrzehnte gewachsen
Nichts davon ist wahr. Es handelt sich beim Text von Frau Hansen um ein Dokument schlecht gelaunter Paranoia und antiimperialistisch gesinnter Kraut-und-Rüben-Theorie. Wahr ist, dass die meisten Migrantinnen*, ob aus Afrika, den arabischen Ländern oder Osteuropa, es anfänglich stark irritiert, dass Schwule oder Lesben oder Transmenschen in reichen Ländern wie Deutschland öffentlich auftreten können. Die allermeisten gewöhnen sich aber daran, so wie sich die allermeisten Urdeutschen an uns gewöhnt haben im Laufe der Jahrzehnte.
Wahr ist aber auch, dass in Dresden ein schwules Paar von einem islamistisch gesinnten Asylbewerber angegriffen wurde, mit einem Messer. Einer der beiden Männer kam bei dieser Attacke sogar ums Leben. Der Hinterbliebene verwahrte sich Monate später gegen Initiativen, am Tatort eine Art Mahnmal gegen Homophobie aufzustellen – wichtiger sei, ein Zeichen gegen Islamismus zu setzen, betonte er.
Schwule und Lesben haben sich seit über einem halben Jahrhundert ihre gesellschaftliche Performance, die öffentlich sein kann, hart erkämpft. CSDs trugen das ihre dazu bei. So ging es in allen Ländern, in deren Gesellschaften mehrheitlich die Auffassung gelebt wird, Lesben und Schwule und Trans seien okay. Das sind politische Kampferfolge und keine imperialistischen Strategien, um als Nation besser dazustehen. Niemand stand in den Kommandozentralen und formulierte den Befehl: „Lass die weißen Schwulen ran, damit wir imagemäßig besser dastehen!“
Westliche, liberale Staaten sind Zufluchtsorte
Wahr bleibt ebenso, dass schwule Männer und lesbische Frauen und trans Menschen die Länder mit liberalen Auffassungen aufsuchen, um dort in Ruhe eben schwul oder lesbisch oder sonst wie nicht-heteronormativ zu leben. Wäre Deutschland nur rassistisch oder queerphob käme niemand. Wäre Israel so schlimm, bemühten sich Queers aus Gaza oder der Westbank nicht um Fluchten dorthin. In dem jüdischen Staat sind sie sicher, in Gaza-City nie. So oder so: Lana Hansen scheitert schon empirisch mit ihrem Text, aber Episteln wie die ihrige in der „Siegessäule“ sind in queeren Medien und bestimmten Teilen des Wissenschaftsbetriebs sehr beliebt: Sie bedienen mit einem Grundraunen die Gefühle des Verdachts, dass irgendetwas nicht stimmen könne.
„Homonationalismus“ funktioniert wie in der katholischen Kirche das Wort „Teufel“ oder „Antichrist“ – wird schon was dran sein. Schwule und lesbische Migrantinnen* haben vor allem einen Feind in Deutschland: Die linke Szene, die ihnen einreden will, dass sie nichts gegen den Islam sagen dürfen, weil das angeblich den Rechten dient. Und die eigene Familie, die es gar nicht gern hat, wenn der eigene Filius schwul wird oder die Tochter lesbisch.
Die Vulnerabilität von Migrant*innen durch bürgerrechtlich erstrittene Erfolge für LGBT wird nur behauptet, nicht belegt. Auch die lesbische Parteivorsitzende der in Teilen rechtsextremen AfD, Alice Weidel, taugt nicht als Beleg. Die AfD ist ohne Frage eine schreckliche, furchterregende Partei – beängstigender sind jedoch jene, die die neuen Heimaten der Migras* schlecht reden und suggerieren, in Deutschland sei es fast übler als in Syrien. Da lacht der eben geflüchtete Migra* – und zieht sich von solch‘ dubiosen Theoretikerinnen* eilends zurück.
Jan Feddersen ist Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.
„Dieses Jahr war mir klar, dass ich beim Dyke March nicht willkommen sein würde.“
Offener Brief einer in Berlin lebenden israelischen Lesbe an das Orga-Team
Redaktioneller Vorspann: Die antisemitisch motivierte Aggression gegen eine kleine jüdische Gruppe auf der Soli-Party des Dyke March am 8. Juli 2024 in der „Möbel Olfe“ erschüttert jüdische Queers. Dieser Vorfall steht jedoch in einer Reihe mit seit dem 7. Oktober 2023 sprunghaft angestiegenen offen bekundeten Antisemitismus – auch in linksprogressiven Kreisen. Nahezu alle größeren queeren Organisationen und Medien schweigen weiterhin zu der bedenklichen Entwicklung, die ebenso in queeren Communities sichtbar wird. Die Initiative Queer Nations will das nicht hinnehmen und dokumentiert deshalb den Offenen Brief von An, einer seit über 10 Jahren in Berlin lebenden israelischen Lesbe. Aus Angst vor Anfeindungen will sie anonym bleiben.
24. Juli 2024 | An
Hallo, Dyke March Team,
mein Name ist An und ich bin eine israelische und jüdische Lesbe, die in Berlin lebt. Ich weiß, dass Ihr vielleicht sagt, dass Euer kleines Team von Freiwilligen kein Interesse oder keine Kapazität hat, sich damit zu befassen, aber ich muss meine Meinung zu Euren jüngsten Aussagen sagen.
Dieses Jahr war mir klar, dass ich beim Dyke March nicht willkommen sein würde. Ihr habt das Thema der diesjährigen Veranstaltung als Widerstand gegen „Siedlerkolonialismus, Völkermord und Apartheid“ beschrieben und mit Wassermelonen und Bildern von der „Möbel Olfe“, wo die Dreiecke auf dem Schild rot eingefärbt waren, weitergeführt. Das rote Dreieck als Symbol für die Unterstützung der Hamas ist seit Monaten höchst umstritten und in Berlin inzwischen verboten.
95 Prozent meiner Familie wurden im Holocaust ausgelöscht, und die verbleibende Handvoll, die nicht ermordet wurde, beschloss 1951, nach Israel zu ziehen, weil Europa nicht sicher war und sie nirgendwo anders hinwollte. Das macht mich also zur Zionistin.
Meine Großeltern waren es gewohnt, Zeichen und Symbole zu sehen, die ihnen sagten, dass Juden nicht willkommen waren, aber wir schreiben das Jahr 2024. Die Hamas hat bei zahlreichen Gelegenheiten gesagt, dass sie den 7. Oktober immer wiederholen wird, wenn sie die Möglichkeit dazu hat.
In Berlin gibt es über 5000 Stolpersteine. Habt Ihr eine Ahnung, wie es sich anfühlt, im Massengrab meines Volkes zu leben und zu sehen, wie diejenigen, die angeblich Verbündete sind, ihre Veranstaltungen mit Symbolen der Judenvernichtung bewerben? Eure Behauptung, gegen Antisemitismus zu sein, ist hohl.
Ich möchte keine Palästinenser töten. Ich wünsche mir keinen weiteren Krieg. Ich bete täglich dafür, dass Netanjahu seinen Sitz aufgibt und dass Israelis und Palästinenser endlich Frieden miteinander schließen.
In Israel leben seit Jahrtausenden immer wieder Juden neben anderen Gruppen, wir sprechen eine semitische Sprache, die Archäologie und unsere DNA verbinden uns mit der Levante. Das ist kein Siedlerkolonialismus. Es gibt 152 Moscheen in Israel, und es gibt arabische Mitglieder der Knesset, so wie es sie seit 1949 immer gegeben hat. Es gibt viel zu verbessern, aber dies ist kein Apartheidstaat. Einer meiner ältesten besten Freunde in Tel Aviv ist ein schwuler Palästinenser, der aus seinem Dorf fliehen musste, um nicht geköpft zu werden. Bis heute lebt er mit seinem israelischen Freund friedlich in Tel Aviv.
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat nicht festgestellt, dass im Gazastreifen ein Völkermord stattfindet, er hat Israel lediglich geraten, sich zu bemühen, einen solchen zu vermeiden, was es auch tun sollte. Welche andere Armee ist verpflichtet, den Feind zu versorgen, der 120 seiner Leute als Geiseln hält und die letzten 17 Jahre damit verbracht hat, zivile Gebiete zu bombardieren? Ich habe unzählige Kriege und zwei Intifada miterlebt. Die meisten von Euch haben noch nie einen Krieg erlebt und behaupten aus der Ferne, sie wüssten es irgendwie besser als der IStGH. Ihr konntet Euch nicht einmal die Mühe machen, die Geiseln in Eurem Beitrag zu erwähnen.
Der Dyke March und viele andere Berliner Institutionen haben beschlossen, mich und andere Israelis, Juden und Verbündete mit diesen falschen Behauptungen auszustoßen, von denen keine notwendig war, um Unterstützung für palästinensische Queers zu zeigen. Aber anscheinend ist der Davidstern jetzt eine Provokation. Und wenn Eure Unterstützer von „Möbel Olfe“ uns physisch einschüchtern und sagen, wir seien „zionistische Schweine“, dann beschwert Ihr Euch, dass Ihr selbst angegriffen werdet. Wenn wir fragen, ob der Marsch für uns sicher sein wird, bezeichnet Ihr das als Manipulation – Eure wahre Antwort ist nur zu deutlich. Er ist nicht sicher für Juden.
Was mich wirklich erstaunt, ist das Ausmaß an Gewalt, das die Queer-Community anderen Queers in diesen Tagen zufügt. Man hat wirklich das Gefühl, dass wir zu Feinden geworden sind. Wir bekämpfen uns gegenseitig, anstatt einen Diskurs zu führen und uns für den Frieden einzusetzen. Die Geschichte war nicht freundlich zu Queers, die Antisemitismus über Verbündet sein stellten, und Ihr habt die Wahl, etwas anderes zu tun, wenn Ihr Euch traut.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.
„Wir erleben eine Eskalation antisemitischer Vorfälle“
Klaus Lederers Rede vom East Pride Berlin 2024
Der diesjährige East Pride Berlin setzte ein Zeichen gegen Antisemitismus. Auch Klaus Lederer ließ einen Beitrag verlesen. Darin ruft er vor allem auch die gesellschaftliche Linke dazu auf, Antisemitismus entschieden entgegenzutreten. IQN veröffentlicht den Redetext mit freundlicher Genehmigung.
Redaktionelle Vorbemerkung: Die queere Medienlandschaft sowie viele LGBT-Vereine versagen aktuell darin, einen angemessenen Umgang mit Antisemitismus in den eigenen Communities zu finden. Daher haben wir, die Initiative Queer Nations, es uns zur Aufgabe gemacht, hier verstärkt Impulse zu setzen, um eine notwendige Auseinandersetzung mit diesem Thema anzustoßen. Aus diesem Anlass dokumentieren wir die Rede von Klaus Lederer, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhaus für die Partei „Die Linke“ und ehemaliger Bürgermeister sowie Senator für Kultur und Europa, die er auf dem East Pride Berlin am 29. Juni 2024 in Abwesenheit verlesen ließ.
22. Juli 2024 | Klaus Lederer
Liebe Queers, liebe Anwesende auf diesem EAST PRIDE,
während meiner Zeit als Kultursenator durfte ich in Berlin den israelischen Schriftsteller Amos Oz kennenlernen. Amos Oz hat sich sein Leben lang für eine Zwei-Staaten-Lösung in Nahost eingesetzt. Oz hat auch die Friedensbewegung „Peace Now“ mitbegründet. Unbeirrt warb er für die Suche nach Verständigung und nach Kompromissen als dem einzigen Weg zum Frieden.
Amos Oz schrieb: „Wenn jemand kommt, egal von welcher Seite der israelisch-palästinensischen Barrikaden, und sagt: ‚Das ist mein Land‘ – dann hat er recht. Aber wenn jemand kommt, egal von welcher Seite der Barrikaden und sagt: ‚Dieses Land, vom Mittelmeer bis zum Jordan, gehört mir und nur mir allein‘ – dann riecht er nach Blut.“
Amos Oz ist 2021 verstorben. Heute brüllen Menschen, die sich selbst für Linke halten, Parolen wie „From the River to the Sea“, mit denen sie die Auslöschung des Staates Israel verlangen. Manche tun das vielleicht aus Ignoranz und mangelnder Informiertheit, was im Land der Shoa schlimm genug wäre.
Allzu viele tun das aber leider auch in vollem Bewusstsein dessen, was sie da fordern. Amos Oz hatte Recht: Das riecht nach Blut.
Für mich war es erschütternd, wie schnell hierzulande das Massaker der Hamas auf israelischem Territorium am 7. Oktober verblasst, ja fast schon vergessen war, der größte Massenmord an Jüdinnen*Juden seit der Shoa. Das Schicksal der entführten Geiseln ist in den Hintergrund gerückt. Dass der gesamte Norden Israels seit acht Monaten beschossen wird und evakuiert ist, spielt in der Debatte kaum eine Rolle. Welches Land auf der Welt, wenn es derart massiv angriffen wird, würde sich nicht militärisch zur Wehr setzen?
Ja, der Zweck legitimiert niemals zugleich jedes Mittel. Die Bilder des Krieges aus Gaza und die furchtbare Situation der dortigen Zivilbevölkerung beschäftigen mich ja nicht weniger. Das Ringen um die Sicherheit Israels wird noch dadurch erschwert, dass das Land sich nicht auf seine Regierung verlassen kann. Im Gegenteil, das Bündnis Netanjahus mit Rechtsextremen scheint entschlossen, die ohnehin verzweifelte Lage noch auswegloser zu machen.
Hunderttausende Israelis gehen Woche für Woche gegen diese Regierung auf die Straße – ihnen fühle ich mich verbunden.
Vieles, was sich nach dem 7. Oktober in Deutschland Bahn gebrochen hat, hat aber mit Kritik an israelischem Regierungshandeln nichts zu tun – einer Kritik, die man ohnehin nirgendwo schärfer hört als jeden Tag in Israel selbst. Wir erleben eine Eskalation antisemitischer Vorfälle und Angriffe und Terrorverherrlichung. Die Sicherheit jüdischer Menschen ist massiv bedroht. Wer in Berlin Synagogen angreift, jüdische Menschen feindmarkiert und angreift, ist kein „Israelkritiker“, sondern Antisemit – und zwar in jeder denkbaren Definition des Begriffs.
Ich habe leider den Eindruck, dass auch in den queeren Communities nicht alle begreifen, was das für jüdische Menschen, auch für queere jüdische Menschen, bedeutet und wie sich das anfühlt. Wir müssen in der Lage sein, Antisemitismus klar zu erkennen und ihm zu widersprechen – das muss auch die gesellschaftliche Linke.
„Wenn die Linke die Rückkehr des mörderischen Antisemitismus nicht spürt, ist das ihr Ende“, sagte die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz kürzlich.
Eine Linke, die an Emanzipation festhält, eine Linke, der Freiheit, Gleichheit und Solidarität etwas bedeuten, steht an der Seite der Menschen, die in Israel gegen die Netanjahu-Regierung demonstrieren, und an der Seite jener Palästinenser*innen, die einfach nur in Frieden leben wollen. An der Seite derjenigen, die in Berlin zum Ziel antisemitischer Angriffe werden ebenso wie an der Seite jener, die von rechtskonservativer Seite rassistischem Generalverdacht ausgesetzt werden.
Eine Linke aber, die eine islamofaschistische Mörderbande wie die Hamas nicht von einer Befreiungsbewegung unterscheiden kann, braucht kein Mensch. Das ist dann einfach eine moralische Bankrotterklärung.
Und so sehr auf einen Frieden für Israel und Palästina hingearbeitet werden muss: „Mit jemandem, der einen tot sehen will, kann man nicht versuchen, Frieden zu schließen.“ Das schreibt die Historikerin Fania Oz-Salzberger, die Tochter von Amos Oz, und fährt fort: „Deshalb erhebe ich meine Stimme ausschließlich für diejenigen, deren Ziel ein unabhängiges Palästina und ein sicheres und demokratisches Israel ist, die nebeneinander existieren.“
Das sollte eigentlich – meine ich – ein Mindeststandard sein, auf den sich alle einigen können sollten, denen Leben und Würde aller Menschen etwas bedeutet. Danke, dass ihr heute dafür eintretet, dass die Existenz Israels und seiner Bewohner*innen für Menschen, die sich als progressiv bezeichnen, niemals zur Verhandlung stehen kann.
Klaus Lederer ist Politiker der Partei Die Linke und Mitglied der Fraktion im Abgeordnetenhaus Berlin. Er war von 2016 bis 2023 Bürgermeister von Berlin sowie Senator für Kultur und Europa.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.
Wie eine unwahrscheinliche Allianz zwischen LGBTQ-Studies und Antizionismus die amerikanischen Universitäten erobert hat
Die Verknüpfung von „Queer“ mit Antisemitismus in Form von Antizionismus geht auf postmoderne Akademiker*innen zurück. Die einflussreichste unter ihnen ist die Philosophin Judith Butler. Corinne E. Blackmer ist bereits 2023 der Frage nachgegangen, wie das geschehen konnte und welche Folgen diese Allianz für die Sicherheit von jüdischen Queers hat.
Redaktionelle Vorbemerkung: Die US-amerikanische Professorin Corinne E. Blackmer hat bereits im Februar 2023 im jüdischen Online-Magazin „Tablet“ aus erster Hand davon berichtet, in welcher Weise das Klima im akademischen Bereich für jüdische Hochschulangehörige von wachsender Feindseligkeit geprägt ist. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Geisteswissenschaften, bei denen die seit den frühen neunziger Jahren immer einflussreicher werdende Queer Theory mit einer Feindschaft gegenüber Israel verknüpft wurde, insbesondere in Ideen der queeren Ikone Judith Butler. Auch in Deutschland prägen diese Entwicklungen bereits sowohl die akademischen Landschaften als auch den LGBTQ-Aktivismus.
Das war jedoch nicht alternativlos: Seit 2017 zum Beispiel, warnt ein loses Netzwerk unterschiedlicher Herausgeber*innen und Autor*innen in als „Kreischreihe“ verunglimpften Sammelbänden davor. Zu nennen sind insbesondere die Titel Beißreflexe (2017), Freiheit ist keine Metapher (2018), Zugzwänge (2020), Irrwege (2020) und Siebter Oktober Dreiundzwanzig (2024). Aus emanzipatorisch-bürgerrechtlich orientierter Warte lässt sich feststellen: Man hätte längst Konsequenzen ziehen können, sogar müssen.
Nach dem 7. Oktober 2023 ist Blackmers Essay noch relevanter geworden, daher macht IQN eine deutsche Übersetzung zugänglich.
19. Juli 2024 | Corinne E. Blackmer
Vor einigen Jahren war ich Ziel einer Reihe von antisemitischen, homophoben und antizionistischen Hassverbrechen auf dem Campus der Southern Connecticut State University, wo ich lehre. Abgesehen von den Morddrohungen und der Verunstaltung von Eigentum beunruhigte mich am meisten, dass die Behörden und Kollegen nur den homophoben Teil des Verbrechens anerkannten. Trotz meiner Proteste wurde der Antizionismus weggelassen und der Antisemitismus, der nicht gerade subtil war – etwa ein mit Schlamm auf mein Auto gezeichnetes Hakenkreuz – wurde stark verharmlost. Auf dem College-Campus zählen heutzutage LGBTQ-Belange (ebenso wie rassistische) immer. Antizionismus zählt nie, und Antisemitismus nur, wenn er allein auftritt – nicht in Verbindung mit anderen Formen sozialer Animosität.
Diese Serie von Hassverbrechen gegen mich fand – wie ich finde nicht zufällig – während eines der regelmäßigen Ausbrüche von Feindseligkeiten zwischen Israel und der Hamas in Gaza statt. Einige Tage später wurde meine Bürotür erneut verunstaltet, und es wurden Morddrohungen auf meinem Bürotelefon hinterlassen. Ein mir bekanntes Fakultätsmitglied, das von dem Hassverbrechen auf der Titelseite des New Haven Register gelesen hatte, beeilte sich, mir sein Mitgefühl auszusprechen, und nannte mich das Opfer des „homohassenden Patriarchats“. Ich zuckte zusammen, als mein Kollege mich in einer ideologischen Sprache bedauerte, von der ich wusste, dass sie mich auch auf andere Weise angriff.
Queer Studies und Antisemitismus
Als lesbische zionistische Akademikerin habe ich erlebt, wie meine einst soliden Allianzen zerbrachen und meine geliebten Communities, denen ich mich zugehörig gefühlt habe, in sich bekriegende Lager zerfielen. In den letzten Jahrzehnten, in denen das akademische Feld der Queer Studies sichtbarer und einflussreicher geworden ist, haben einige seiner führenden Vertreter die Idee vertreten, dass die Ablehnung der Existenz Israels eine natürliche Position für Schwule und Lesben ist. Aber natürlich ist es keineswegs offensichtlich, warum die progressiven Akademiker, die ich einst als Verbündete betrachtete und die sich selbst als Verfechter von LGBTQ-Rechten sehen, Israel – das eine hervorragende Bilanz bei den Bürgerrechten für Schwule und Lesben vorweisen kann, die vom Schutz bei der Wohnungssuche und am Arbeitsplatz bis hin zum Adoptions- und Erbrecht reicht – als „heteropatriarchalischen“, homophoben und „homonationalistischen„ Feind von Schwulen und Lesben ansehen.
Die Tatsache, dass der akademische Begriff der Queerness und die Feindschaft gegenüber dem jüdischen Staat heute praktisch gleichbedeutend sind, ist weitgehend das Verdienst einer kleinen Gruppe postmoderner linker Wissenschaftler, deren prominenteste Vertreterin Judith Butler ist. Es lohnt sich daher, die von Butler und anderen aus ihrem Lager vertretenen Ideen und die Auswirkungen, die sie auf die Universitäten und die breitere politische Kultur der Linken hatten, zu untersuchen, um mein eigenes Gefühl der Verwundbarkeit und Isolation zu verstehen.
Liberale Haltung Israels gilt als „Pinkwashing“
Meinen ehemaligen Verbündeten zufolge sollten Israels Schutzmaßnahmen für Schwule, Lesben und Transperson und seine blühende Schwulen- und Lesbenkultur in Städten wie Tel Aviv nicht als positiv betrachtet werden, sondern seien vielmehr ein Beweis dafür, dass das Land sich des „Pinkwashings“ seiner Sünden schuldig macht. Israel gewähre Schwulen und Lesben nur deshalb Rechte, um von der Misshandlung der Palästinenser abzulenken, so die Kritiker. Darüber hinaus behaupten Israels Queer-Kritiker, dass die Anpreisung der liberalen Haltung des Landes zu den Rechten von Schwulen und Lesben eine Form von Rassismus und Islamophobie ist, die dazu dient, Araber als homohassende Barbaren darzustellen. In verblüffendem Gegensatz dazu betrachten dieselben Progressiven die arabischen Länder, die staatlich geförderte, kulturell akzeptierte grausame Strafen für Homosexuelle (lange Gefängnisstrafen, Ehrenmorde oder Todesurteile) verhängen, als subalterne Verbündete.
Als ich meine Kollegen darauf hinwies, dass schwule saudi-arabische Männer tatsächlich ausgepeitscht und iranische Homosexuelle für das „Verbrechen“ der Homosexualität öffentlich an Kränen aufgehängt werden, und Beweise von Menschenrechtsorganisationen vorlegte, wurde ich mit herablassender Geringschätzung behandelt. Meine Kollegen meinten, ich hätte das „zionistische Narrativ“ übernommen – die „pro-westliche, pro-israelische, pro-siedlerkolonialistische und vor allem islamfeindliche Medienpropaganda“, die islamische Länder als barbarisch darstelle.
Westlicher Kolonialismus und arabische Homophobie
Die Reaktionen meiner Kollegen machten mich mit der postfaktischen Alice-im-Wunderland-Mentalität der akademischen Linken vertraut. Erstens war ich islamophob, weil ich es wagte, das Thema anzusprechen, da ich als „kolonisierender Westler“ „kein Recht“ habe, kritisch über islamische Kulturen zu sprechen.
Zweitens wurde mir gesagt, dass die meisten Videos und Fotos, die die Hinrichtungen, Auspeitschungen und andere brutale Bestrafungen zeigen, irgendwie gefälscht oder „Fake News“ seien. Drittens: Angenommen, einige der Darstellungen wären zutreffend, dann seien die Opfer nicht bestraft worden, weil sie schwul waren, sondern weil sie anti-islamische und pro-westliche Kollaborateure gewesen seien, die darauf aus waren, ihre Kulturen zu „korrumpieren“ und zu „zerstören“. Mit anderen Worten: Nach Ansicht dieser aufgeklärten Progressiven hatten sie es verdient.
Viertens, und damit zusammenhängend, wurde mir gesagt, dass die arabischen Länder nur wegen des westlichen Kolonialismus zu Homophobie griffen. Selbst wenn diese Männer gefoltert oder getötet würden, trügen sie also eine Mitschuld, weil sie die Gefahr heraufbeschworen hätten, indem sie „ausländische Moden“ nachgeahmt und sich nach „westlichem Vorbild“ geoutet hätten. Nach dieser quälenden Logik wurden diese Männer, wenn sie sich öffentlich als schwul oder homosexuell zu erkennen gaben, zu Komplizen des westlichen Imperialismus, was wiederum bedeutete, dass sie für ihre eigene Viktimisierung verantwortlich gemacht werden sollten.
Diese bedauerlichen Argumente stammten jedoch nicht von den selbsternannten progressiven Hochschullehrerinnen und -lehrern selbst, mit denen ich diskutierte. Vielmehr stammen diese Argumente aus den Arbeiten von drei populären postmodernen Intellektuellen: Joseph Massad (Columbia University), Jasbir Puar (Rutgers University) und, vor allem, Judith Butler (UC Berkeley). In Desiring Arabs (2007) argumentiert Massad, dass „westliche, männliche, weiß dominierte“ schwule Aktivisten unter der Ägide der „Gay International“ ein „missionarisches“ Unterfangen unternommen hätten, um die binären Kategorien von Heterosexualität und Homosexualität Kulturen aufzuzwingen, in denen solche Subjektivitäten nicht existieren würden. Massad zufolge sei die arabische Welt in Wirklichkeit „geschlechtlich fließend“ und tolerant gegenüber sexuellen Unterschieden, die sich nicht auf westliche Weise ausdrücken würden.
Puar, die antisemitischste und antizionistischste unter ihnen, treibt diese Logik sogar noch weiter und argumentiert in Terrorist Assemblages (2007) und The Right to Maim (2017), dass arabische Queers eine „differenziertere und nuanciertere“ Perspektive auf Sexualität hätten als ihre westlichen Gegenstücke, ganz zu schweigen von einer „gesunden Skepsis“ gegenüber westlichen Identitätsklassifizierungen. In Abwandlung der Pinkwashing-Behauptung argumentiert sie außerdem, dass die israelische Regierung, die pro-natalistisch [Kinderreichtum und damit Bevölkerungswachstum fördernd, Anm. d. Red.] ist, schwulen und lesbischen israelischen Juden nur deshalb Bürgerrechte einräume, weil sie sich als Eltern in das israelische „nationale Projekt“ „einfügen“ und Nachkommen zeugen würden, die Palästinenser verstümmeln oder anderweitig handlungsunfähig machen würden.
Judith Butler als antizionistische Heldin
Die einflussreichste dieser postmodernen Kritiker ist jedoch Judith Butler, eine der Begründerinnen der Queer Studies, die das heute weit verbreitete Konzept entwickelt hat, dass Geschlecht eine „Performance“ ist und dass Individuen ihre Identitäten gegen einen natürlichen Zustand der „Gender-Fluidität“ aufführen. Butler steht seit der Veröffentlichung von Gender Trouble (1990) an der Spitze der Queer und Gender Studies: Feminism and the Subversion of Identity (Feminismus und die Subversion der Identität), dass ihr eine akademische Position in Berkeley einbrachte. In den folgenden Jahren wurde Butler zu einer der wenigen echten Berühmtheiten der postmodernen akademischen Linken und zu einer Art Heldin für die kleine Clique antizionistischer Juden in Amerika, die einen übergroßen Einfluss in der akademischen und medialen Landschaft ausüben.
In Gender Trouble, ihrem bekanntesten Buch, lehnt Butler die Vorstellung ab, dass es zwei biologische Geschlechter gibt. Vielmehr definiert sie Geschlecht und Sex als „essentialistische“ (ein schmutziges Wort) Konzepte, die den Menschen aufgezwungen werden, die in Wirklichkeit „geschlechtlich fluide“ sind. Butler betrachtet also Sex und Gender als sozial konstruierte Vorstellungen. Menschen, die sich selbst als heterosexuell bezeichnen, würden fälschlicherweise glauben, dass ihr Verhalten eine zugrundeliegende Wahrheit widerspiegele, und engagieren sich daher in erzwungenen Gender-Performances, die aus den Gesten, der Sprache und den sozialen Zeichen bestünden, die üblicherweise mit „Männlichkeit“ oder „Weiblichkeit“ assoziiert werden. Durch unzählige Institutionen hätten sie solche performativen Illusionen durchgesetzt, als wären sie in irgendeinem grundlegenden, vorbewussten oder biologischen Sinne real. Heteronormative Menschen erniedrigen oder bestrafen Leistungen außerhalb dieser kontrollierten Grenzen als unnatürlich, pervers, unmoralisch oder minderwertig.
Solche Argumente liegen Butlers Kampf gegen die Heteronormativität zugrunde. Wie andere Postmodernisten überschätzt sie jedoch die Rolle der Sprache bei der Gestaltung des menschlichen Realitätssinns. Dieselben problematischen Behauptungen über die übermäßige Macht der Sprache spielen schließlich eine entscheidende Rolle in ihrem leidenschaftlich antizionistischen Werk, Parting Ways: Jewishness and the Critique of Zionism (2014), wo sie (wie Puar) locker und erfinderisch mit den Fakten umgeht.
Ein Beispiel dafür sind die Kommentare, die Butler 2006 während eines Teach-In in Berkeley zum Krieg zwischen Israel und der Hisbollah machte. Butler wurde gefragt, ob das Zögern der Linken, terroristische Gruppen aufgrund ihrer Gewaltanwendung zu unterstützen, der palästinensischen Solidarität schade. Hier war ihre Antwort: „Es ist äußerst wichtig, die Hamas und die Hisbollah als soziale Bewegungen zu verstehen, die progressiv sind, die zur Linken gehören, die Teil einer globalen Linken sind.“ Sowohl die Hisbollah als auch die Hamas sind explizit fundamentalistische, religiöse Organisationen mit Satzungen, die – gelinde gesagt – reaktionär sind, was ihre Haltung gegenüber Frauen, Schwulen, Lesben und religiösen Minderheiten angeht. Dennoch erklärt Butler sie selbstbewusst zu einem Teil der Linken, als ob diese Aussage wichtiger wäre als die materiellen Realitäten des Lebens unter der Herrschaft von Hamas und Hisbollah.
Ablehnung des Nationalstaats als Butlers Ethik
Um die Absurdität noch zu vertiefen, behauptet Butler, sie sei gegen den jüdischen Staat, weil sie einer persönlich erfundenen Tradition der jüdischen Ethik anhänge, die nicht nur „staatlich geförderte Gewalt“ ablehne, sondern auch den Juden auftrage, als wohlwollende „Mitbewohner“ mit den Anderen zu leben. Nach der jüdischen ethischen „Tradition“, die Butler in ihrem intellektuellen Mixmaster spinnt, sollten Juden auf einen eigenen Nationalstaat verzichten, um die Anderen nicht zu marginalisieren – gemeint sind die Palästinenser, die angeblich einheimische Bewohner sind, die vom jüdischen „Siedlerkolonialismus“ vertrieben worden seien.
Obwohl Butler selbst in einem Nationalstaat lebt, der indigene Völker ausgerottet und vertrieben hat, besteht sie darauf, dass die Juden die Spule der Geschichte abwickeln und ihren Staat auflösen, den sie als ein irriges Projekt interpretiert, das auf einer Fehlinterpretation der Lehren des europäischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts und des Holocausts beruht. Obwohl sie es nie ausspricht, deutet Butler an, dass Juden als Reaktion auf den Holocaust die schreckliche Natur aller Nationalstaaten anerkennen müssen und dass sie trotz ihrer historischen Erfahrungen mit Verfolgung und Massenvernichtung die Chance ergreifen sollten, in anderen Staaten zu leben. Im Gegensatz zu Butler sind die meisten Juden der Meinung, dass eine eigene, unvollkommene Heimat bei weitem vorzuziehen ist.
Anstelle einer jüdischen Heimat plädiert Butler für einen einzigen „Staat“, der das Rückkehrrecht für Juden aufheben, die derzeitigen Grenzen auflösen und die Institutionen und Symbole der jüdischen Souveränität beseitigen würde. Juden würden „palästinensische Identitäten“ in ihre eigene „Persönlichkeits-Identität“ integrieren. Was Butler damit genau meint, bleibt quälend und vielleicht absichtlich vage, denn dieses Konzept ist phantasmatisch. Es ist unklar, wie dieses Schema in einem tatsächlichen politischen Rahmen funktionieren würde oder wie solche Menschen tragfähige Formen des institutionellen, wirtschaftlichen oder sozialen Austauschs bilden würden. Wenn man der Geschichte und der Geopolitik des Nahen Ostens Glauben schenken darf, würde sich die Situation in einem binationalen „Staat“ schnell in Chaos und Zerstörung auflösen. Der Libanon an der Nordgrenze Israels ist ein nützliches Beispiel für Menschen, die tatsächlich in diesem Teil der Welt leben, auch wenn es für Butler von ihrem Büro in Kalifornien aus schwer sein mag, die Tatsachen vor Ort zu sehen.
Butler behauptet, dass sie den jüdischen Staat ablehnt, weil sie sich ihrer persönlich erfundenen Tradition der jüdischen Ethik verpflichtet fühlt.
Trotz dieser und anderer fataler Probleme mit ihrer binationalistischen (oder bi-ethnischen) Fantasie-Fiktion werden ihre Ideen von einem akademischen Publikum, das weit entfernt von den Realitäten und Komplexitäten des israelisch-palästinensischen Konflikts lebt, mit begeisterter Dankbarkeit aufgenommen. Endlich eine ideale Lösung für ein unlösbares Problem, die den „viktimisierten Anderen“ privilegiert und die Juden in ihre traditionelle „ethische“ (wenn auch marginalisierte) Position als entmachtete (wenn auch unverzichtbare) „Mittelsmänner“ zurückführt. Und da eine weltberühmte Jüdin diesen Plan unterstützt, kann er unmöglich antisemitisch sein. Trotz ihrer Einwände gegen das Konzept der Authentizität spielt Butler die Rolle des „tugendhaften Juden“ für ihr Publikum.
Woke Kälte gegenüber Juden
Und das mit Erfolg, muss man sagen. An den Universitäten werden Butlers Doktrinen heute wie religiöse Dogmen wiederholt. Gelegentlich wird über ihre undurchschaubare Prosa gewitzelt oder über ihre intellektuellen und ethischen Missgeschicke geflüstert, aber meistens wird sie als eine Ikone des jüdischen Intellekts und des Queerismus verehrt. Ihr Kanon ist in den Geisteswissenschaften und zunehmend auch in den Sozialwissenschaften so mächtig geworden, dass er die akademische Freiheit und intellektuelle Innovation bedroht. Wie ich beobachtet habe und mir gesagt wurde, werden Doktoranden, insbesondere jüdische, regelmäßig von „woke“-Professoren mit Sprüchen über Juden (und Israelis) konfrontiert, die sie bei anderen Minderheiten nie in Erwägung ziehen würden. Diejenigen, die gegen die Ausgrenzung und Dämonisierung Israels Einspruch erheben, werden oft kalt behandelt, erhalten schlechte Noten oder bekommen keine Empfehlungsschreiben, wenn ihre Identität oder Verbundenheit bekannt wird. Jüdische Studenten werden in den Büros ihrer Professoren und Lehrbeauftragten mit Plakaten mit der Aufschrift „END THE OCCUPATION OF PALESTINE“ oder mit Karten, die Israel ausradieren, angegriffen.
Dies ist auch nicht auf den Universitätscampus beschränkt. Lesbenmärsche in Chicago, Washington, D.C., und anderen Städten im ganzen Land haben die israelische Flagge aus ihren Paraden verbannt mit der Begründung, dass es sich um antizionistische Veranstaltungen handelt und das Zeigen des jüdischen Davidsterns „die Menschen verunsichern könnte“.
Jüdische und zionistische Verbündete erhalten die Botschaft, dass sie verachtet und unerwünscht sind. In Studiengängen für Queer Studies und Women‘s Studies wird das Thema Palästina regelmäßig in die unwahrscheinlichsten Zusammenhänge eingefügt, und zwar so sehr, dass mir eine Studentin in einem Kurs über queere Geschichte erzählte, dass sie nichts anderes als Palästina diskutierten. Die bittere Ironie besteht darin, dass die Ausgrenzung und Marginalisierung von Juden im Namen einer postmodernen Ideologie der Queerness dazu führt, dass queere Menschen weniger sicher sind. Ich muss es wissen: Ich bin eine von ihnen.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in englischer Sprache am 3. Februar 2023 im Magazin „Tablet” unter tabletmag.com und wird mit freundlicher Genehmigung veröffentlicht.
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.
Verfolgung von Schwulen, Lesben und Transgender in Gaza und dem Westjordanland stoppen
Die Initiative Queer Nations hat sich dem Aufruf angeschlossen, der den Schutz von LGBT in Gaza und dem Westjordanland fordert und sich zugleich von terrorverharmlosender, israelhassender Hamas-Propaganda distanziert, wie sie von den sogenannten „Queers for Palestine“ verbreitet wird. Wir dokumentieren den Aufruf mit Erstunterzeichner*innen in unserem Blog.
19. Juli 2024 | Redaktion
Der Angriff der Terrororganisation Hamas auf friedliche feiernde Menschen hat uns zutiefst erschüttert. Nichts kann diese Gewalt rechtfertigen.
Uns empört, dass in der öffentlichen Debatte über den von der Hamas ausgelösten Krieg die Lage von Schwulen, Lesben und Transgender völlig aus dem Blick geraten ist. In Palästina ist die Situation für Schwule, Lesben und Transgender bedrückend, die Region belegt weltweit einen der letzten Plätze bei den Menschenrechten von Schwulen, Lesben und Transgender. Es ist völlig undenkbar, sich in Gaza mit der Regenbogenflagge zu zeigen. Immer wieder wird von abscheulichen Morden berichtet. Wer überleben möchte, muss sich besonders in Gaza verstecken.
Deswegen rufen wir die Bundesregierung dazu auf, den Schutz des Lebens von Schwulen, Lesben und Transgender zu einem Teil der möglichen Friedenslösung für Gaza nach der Entmächtigung der Hamas zu machen. Die brutale Verfolgung und Ermordung von Schwulen, Lesben und Transgender unter dem Regime der Hamas muss gestoppt werden.
Israel dagegen ist Schutzmacht, Anziehungspunkt und Zufluchtsort für Schwule, Lesben und Transgender, auch und gerade aus Palästina, auch wenn dies durch den Krieg weiter erschwert wird. Die Möglichkeit, in Israel offen und selbstbestimmt zu leben, ist in der ganzen Region einzigartig. Der Hass der Hamas auf Israel richtet sich auch gegen diese Diversität und damit direkt gegen uns. Deswegen sind wir der Meinung, dass jegliche Tolerierung der Hamas und jegliche Relativierung der Menschenrechtsverletzungen in Gaza und dem Westjordanland in unserer Community nichts verloren haben.
Emily Lau würdigt lesbische Beiträge im Jahrbuch Sexualitäten 2024
Am 5. Juli wurde das Jahrbuch Sexualitäten 2024 in der taz Kantine präsentiert. Emily Lau, eine „junge Lesbe alter Schule“, wie sie sich selbst nennt, hat alle lesbischen Beiträge im Jahrbuch gelesen und stellt sie uns vor. Wir dokumentieren ihre Rede zum Nachlesen im Blog.
17. Juli 2024 | Emily Lau
Ich darf heute Patin der lesbischen Fraktion des diesjährigen Jahrbuchs sein und wir gehen wie immer direkt ans Eingemachte bzw. in Lesbias Res…
Waren Sie schon mal in einem „SLINTA Darkroom“? Nein? Die Queer Lecture im diesjährigen Jahrbuch Sexualitäten von Chantalle El Helou erspart Ihnen diesen Gang. Das „S“ in SLINTA ersetzt das „F“ im herkömmlichen FLINTA. „F“ stand dabei für „Frauen“. „S“ steht nun für „sapphisch“, was so viel heißen soll, wie sich unabhängig vom eigenen Geschlecht zu irgendeiner wabernden Weiblichkeit hingezogen fühlen. Der Tausch dieser Buchstaben ist für die Autorin symptomatisch für das queersexistische Fundament, das diesen erst herbeiführen konnte.
Queerer Sexismus
In der Lecture geht es der Politikwissenschaftlerin Chantalle El Helou darum, zu erörtern, warum Lesben eigentlich nicht viel von “queer” zu erwarten haben. Lesben – damit sind Frauen gemeint, die andere Frauen begehren. Und wir reden hier nicht von der Idee einer Frau, sondern von einer faktischen Frau mit all ihren herkömmlichen Erhebungen und Vertiefungen. Aber vom eigenen Geschlecht aus soll man niemanden begehren. Es soll maximal von der eigenen Identität aus passieren.
„How to sapphisch lieben“ nach Butler und Sabine Hark? Oder was ist eine gute Lesbe? Die Queertheoretiker*innen wissen, dass die Frau nur in der heterosexuellen Matrix, als das sich zum Mann konstituierende Andere existiert. Dadurch wird der Lesbe bei Butler zugeschrieben jenseits der Kategorie des Geschlechts zu stehen. Allein weil sie die Heterosexualität ablehnt, stelle sie sowohl das anatomische Geschlecht als auch die Geschlechtsidentität radikal in Frage. Butler entlarvt sich an dieser Stelle als höchst unbewandert in echtem Sapphismus. Ließe man sie einmal in den Kopf einer TÜV-geprüften Lesbe gucken, wüsste sie, wie affirmativ repräsentiert dort gerade die knallharte Anatomie ist. Kfz-Werkstätten und Butch-lesbische Sexualität sind übrigens auch gar nicht so weit voneinander entfernt. Aber dazu ein anderes Mal mehr.
Jedenfalls schlafen nach Butler die Lesben nicht mit dem Körper einer Frau, sondern maximal noch mit dekonstruierten Einzelteilen. Also wer da nicht direkt Lust bekommt. Und das alles täten sie selbstlos im Namen der großen Mission, also der Unterwanderung der Heteronorm – immer schön solidarisch bleiben.
Sexualität wird auf Identität reduziert
Echtes Lesbischsein ist damit nach Butler und Hark noch viel schlimmer als Hetentum. Heten tun wenigstens nicht, als seien sie subversiv. Eine gute queere Lesbe muss sich offen halten so ziemlich alles zu repräsentieren. Lesbischsein muss also eine Frage bleiben. Das, so stellt El Helou so treffend heraus, ist das Gegenteil von Selbstbehauptung und Selbstbewusstsein. Die Gebungsart, die queer von Lesben verlangt ist übrigens eine herkömmlich weibliche, die die langjährig unsichtbaren und unsicheren Lesben dahin zurückdrängt, wo sie hergekommen waren. Nämlich zurück in den Closet. Denn queertheoretische Überlegungen legen nahe, dass Sexualität nur noch als Identität und damit als selbstversichernde Herrschaft über den anderen denkbar ist. Dadurch erscheinen exklusiv lesbische Räume – Räume der weiblichen Körper, Räume, in denen, wie El Helou sagt, die Sexualität in Homosexualität hervorgehoben ist – als Bedrohung. Sexualität ist als Mittel der Dekonstruktion erlaubt. Rein genital ist sie ausgrenzend und machthaberisch. Diese feine, hier nur angerissene Analyse von Chantalle El Helou lohnt sich sehr, da es eine Kritik an Butler durch Butler ist.
Es gilt, letzten Endes, als exkludierend und „-phob“, wenn man darauf verzichtet sich Penisträger*innen ins Bett zu holen, obwohl es, lassen Sie uns lesbisch ehrlich, ehrlich lesbisch oder wie es im englischen heißt lesbi-honest, es sich um exakt das Accessoire handelt, das in der Begehrenslogik weiblicher Homosexualität nichts zu suchen hat.
Solltet ihr also eingeladen werden zu einem „SLINTA-FLINTA-Abend“, hier ein paar Trigger-Warnings, die sich aus der Erfahrung von Chantalle El Helou ergeben: Es erwartet euch ein sich als hypersexuell befreit gebender Raum, mit Emo-Runden voller Pflicht- und Schuldbewusstsein bezüglich der eigenen so schrecklich mächtigen Triebstruktur sowie intersektionale Masturbationsrunden, die sich letztlich um einen erigierten Phallus versammeln. Also ich glaube, ich habe an dem Abend schon was vor…
Luise F. Pusch und ihr schwerer Weg zum Coming-out
So, da wir eben die Gegenwart ein wenig aufgeräumt haben, können wir uns jetzt getrost einem Stückchen lesbischer Geschichte widmen.
Luise Pusch, Urmutter der feministischen Linguistik und Erfinderin der Gender-Pause, erzählt im Interview mit Jan Feddersen davon, was es bedeutet als junge Lesbe der 50er Jahre bis zu 25 Jahren in Unsichtbarkeit gelebt zu haben. Wenn sie da so drüber spricht, klingt es wie eine unerträgliche und prägende Zeit, in der man sich an die wenigen Überlebenshilfen klammert, die man findet.
Für Luise Pusch war es zum Beispiel “Frauen in Uniform” – ein Film mit Romy Schneider und Lilli Palmer. Überlebenshilfen gab es in den homophoben Jahren der 50er-80er in Deutschland jedoch nicht für alle. Sonja, Die damalige Partnerin von Luise Pusch beging Suizid. Dieser Schlag brachte Pusch dazu, Sonjas und ihre tragische Lebens- und Liebesgeschichte und damit die Geschichte von vielen der unsichtbaren Lesben aufzuschreiben. Das Buch brachte sie 1981, 5 Jahre nach Sonjas Tod, unter dem Pseudonym Judith Offenbach heraus. Zunächst so, da sie um ihre wissenschaftliche Karriere fürchtete. Zwei Jahrzehnte später erst, gab es eine Neuauflage unter Klarnamen. Mit “Sonja” stellte Luise Pusch ihrer lesbischen und schwulen Nachwelt nun die Überlebenshilfe, die sie damals vielleicht selbst gebraucht hätte. Das Ganze ist so schmerzlich wie ermutigend.
Luise Puschs langes Leben im Versteck mag dazu beigetragen haben, aus der Not eine Tugend zu machen. Ihr ganzes Leben widmet sie bis heute dem Kampf der Sichtbarmachung von Frauen. Frauen sollten nicht mehr im generischen Maskulinum begraben werden und die Rhetorik ist, wie wir wissen, keineswegs übertrieben und keineswegs nur eine Metapher. Also wer mehr von dieser Pionierin im lebhaften und detailgenauen Gespräch mit Jan Feddersen hören möchte, darf sich das neue Jahrbuch nicht entgehen lassen!
Emanzipation in den feministisch bewegten 70er Jahren
Und alle, die sich innerhalb der letzten Minuten in Luise Pusch schockverliebt haben, die muss ich leider enttäuschen. Denn wie der im Jahrbuch anschließende Beitrag auf schicksalshafteste Art darlegt, ist sie glücklich und vergeben. Der Beitrag ist nämlich von Luise Puschs Ehefrau Joey Horsley. Er trägt den Namen „Unchained Melody“. Ein Lied, Sie alle kennen es, das von einsamen Flüssen und hungrigem Warten handelt.
In ihrem Beitrag erzählt uns Joey Horsley, Professorin für Germanistik und Women’s Studies, von ihren Jahren als jungenhaftes Kind, ihrer Pubertät und Collegezeit, in der sie zur gesellschaftlich anerkannten heterosexuellen Frau “avancierte” und schließlich ihrer Ehe mit Don. Und nein, Don war nicht der Kose-Name ihrer Butch-Ex-Wife. Sie heiratete einen Mann nach dem College, denn ihre Heterosexualität hatte sie nie hinterfragt. Joey Horsley berichtet davon, dass sie zwar nicht unglücklich war, aber die ganze Sache mit der Ehe und den Kindern eher als engagiert angegangenes Gruppenarbeitsprojekt gesehen wurde.
Dann kam mit den 70er Jahren plötzlich die feministische Welle, die Joey Horsley mitriss und ihren einsamen Fluss in die offenen Arme des lesbischen Meeres trieb. Sie war plötzlich so inspiriert von den Frauen, dass sie in ihren Vorlesungen glühend die Gedichte von Sappho vortrug. Sie wusste es selbst noch nicht, aber einige ihrer lesbischen Studentinnen nickten sich bereits wissend zu.
Ich will das Kennenlernen von Joey und Luise jetzt nicht komplett vorwegnehmen. Nur das möchte ich noch gesagt haben: es muss sich angefühlt haben wie ein Epochensprung. Joey Horsley wollte Luise Pusch nämlich als Gastautorin für ihre Konferenz in Boston beherbergen. Sie holte sie am Bahnhof ab, sah sie und fragte vorsichtig: „Warten Sie auf jemanden?“ Und Luise Pusch antwortete: „Ich warte auf Joey Horsley!“ Einen Satz, den beide heute noch gerne wiederholen, als erstes Zeichen für ihre gemeinsame Vorherbestimmtheit.
Lesbische Kreuzfahrt als Fotoromanza
Der letzte Beitrag, sozusagen das Grand Lesbian Finale im neuen Jahrbuch, erscheint in Form einer Fotoromanza. Es geht um eine lesbische Kreuzfahrt! Das Motto der einsamen Flüsse zieht sich also durch! Wenn die Lesben schon keine herkömmlichen Cruising Areas wie die Schwulen für sich beanspruchen können, dann sollen sie doch wenigstens über den Ozean cruisen dürfen. Allein das Gleiten auf den Wellen lässt sich hier schon als lesbisches Fundament der Reise verstehen.
In diesem außergewöhnlichen Beitrag des Jahrbuchs beschreibt Wiebke Hoogklimmer, eine deutsche Altistin und Musiktheaterregisseurin, ihre Reise mit “Olivia Travel”, einem Reiseunternehmen, das Kreuzfahrten anbietet, die sexclusiv lesbisch sind. Man merkt dem Stück an, wie erleichternd und gut es sich angefühlt haben muss einfach nur unter sich gewesen zu sein, nicht das kleine Schwarze zum Dinner tragen zu müssen und niemanden durch das eigene Auftreten zu irritieren, sondern sogar zu begeistern. Also ich wünsche allen Lesben aber auch den SBTIQ + FLINTAs und ja, auch den SLINTAS da draußen, dass wir so etwas wie „Olivia Cruise“ entweder mal live erleben oder zumindest als Geisteszustand in unser Leben integrieren!
Denn was durch diese Kreuzfahrt ganz klar wird und im Grunde all die lesbischen Texte des Jahrbuchs eint, ist, dass lesbische Freizügigkeit keineswegs eine Selbstverständlichkeit war und ist. Daher: lasst uns unverschämt und zusammen dafür einstehen! Und damit wünsche ich euch einen Happy Pride. Wir sehen uns beim Dyke-March!
Emily Laus Rede auf YouTube anschauen:
Emily Lau studierte im Bachelor Psychologie, im Oktober 2024 wird sie ihr Masterstudium am Zentrum für interdisziplinäre Antisemitismusforschung der TU Berlin beginnen. Sie schrieb bereits im „Zeit Magazin“ zu queeraktivistischen Belangen und war für das Jahrbuch Sexualitäten auch 2022 schon als Erstleserin unterwegs.
Jahrbuch Sexualitäten 2024
Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von Jan Feddersen, Marion Hulverscheidt und Rainer Nicolaysen.
Mit Beiträgen von Marko Martin, Thomas Großbölting, Vojin Saša Vukadinović, Blake Smith, Tae Ho Kim, Björn Koll, Martina Lenzen-Schulte, Chantalle El Helou, Aaron Gebler, Sigi Lieb, Joey Horsley, Luise F. Pusch, Jan Feddersen, Clemens Schneider, Manuel Schubert, Meike Lauggas, Michael Wunder, Till Randolf Amelung, Adrian Daub, Marion Hulverscheidt, Wiebke Hoogklimmer, Richard F. Wetzell, Thomas Weber, Norbert Finzsch, Norman Domeier und Ketil Slagstad.
294 S., 22 z.T. farb. Abb., geb., Schutzumschlag, 15 x 22,3 cm, ISBN 978-3-8353-5725-9
Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig! Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.
CSD Berlin e.V. lädt Aktive zu einem Vernetzungstreffen ein
Der CSD Berlin e.V hat Vertreter*innen anderer queeren Initiativen aus dem ganzen Bundesgebiet zuerst zu einem Vernetzungstreffen und anschließend zu einem Parlamentarischen Abend nach Berlin eingeladen. Auch die Initiative Queer Nations e.V. war dabei.
15. Juli 2024 | Till Randolf Amelung
Am vergangenen Freitag lud der CSD Berlin e.V., der Trägerverein der großen Pride-Demo, Vertreter*innen anderer queeren Initiativen sowie engagierte Einzelpersonen aus dem ganzen Bundesgebiet zuerst zu einem Vernetzungstreffen und anschließend zu einem Parlamentarischen Abend in das Berliner Büro des Konzerns „Microsoft“.
Diese Veranstaltungen unter dem Titel „Starkes queeres Netzwerk Deutschland!“ sind Teil der ausgewählten programmatischen Schwerpunkte des diesjährigen Pride Month Berlin, der mit einem vierwöchigen, abwechslungsreichen Programm das Vorspiel zur Parade am 27. Juli ist. „Deutschland rückt nach rechts. Wie können wir ein gemeinsames gefestigtes Netzwerk aufbauen, um dieser Entwicklung zu begegnen?“ so die Zielbeschreibung des Veranstalters.
Umstrittener Gastgeber
Der Gastgeber CSD Berlin e.V. ist seinerseits nicht unumstritten, in den vergangenen Jahren waren immer wieder Kontroversen zu diesem Verein publik geworden. 2023 gab es beispielsweise Berichte um finanzielle Unstimmigkeiten. Vor allem aber wird dem Verein seit Jahren vorgeworfen, zu weiß, cis, Mainstream und unpolitisch zu sein, also nicht den Vorstellungen einer radikalen queer-intersektional-ideologischen Bubble zu entsprechen. Umso interessanter, sich vor Ort ein Bild zu machen, wer diese Einladung annehmen wird. Kann überhaupt eine Initiative oder ein Verein von sich behaupten, für alle zu sprechen, die mit „LGBTI“ oder „Queer“ assoziiert sind?
Der Nachmittagsteil sollte verschiedene Aktivist*innen zusammen ins Gespräch bringen und bestand thematisch aus zwei Blöcken: „Starkes queeres Netzwerk Deutschland“ und „Ostdeutschland“. Geschätzt 50 Teilnehmende kamen an diesem Nachmittag zusammen, unter ihnen viele Schwule. Auch Transpersonen und sich als nichtbinär verstehende Personen waren in bemerkenswerte Zahl dabei, jedoch im Verhältnis dazu recht wenig Lesben.
Inklusion und Diversity
Im ersten Block tauschten sich die Teilnehmenden in wechselnden Kleingruppen darüber aus, wie es um ein derzeitiges Netzwerk steht und wie inklusiv/divers die eigenen Vereine sind, was man für Diversifikation tun könnte. Ebenso, wie man mit Menschen umgehen möge, die eine andere als die in diesen Gruppen übliche Meinung haben. Danach ging es mit einer Paneldiskussion zur Situation in Ostdeutschland weiter, darüber, wie man queere Menschen dort unterstützen könnte. Moderiert wurden alle Nachmittags-Teile vom Journalisten Chiponda Chimbelu, der für die „Deutsche Welle“ arbeitet.
Hier offenbarte sich der aktuelle Zustand dessen, was man „Community“ nennt. Konkrete Streitthemen wurden vermieden – zum Beispiel ein immer offensichtlicher werdendes Antisemitismusproblem in queeren Kreisen sowie Interessenskonflikte zwischen transaktivistischen Forderungen und Frauen.
Diskussionen führten so selten über Allgemeinplätze hinaus, denn wer will schon grundsätzlich gegen Inklusion und Diversität sein? Auch die identitätspolitischen queer-intersektionalen Phrasen sitzen: Mehrfach war zu hören, man müsse erstmal die eigenen Privilegien checken, sie gar abgeben.
In den Plenumsdiskussionen war es einem Transmann gleich zweimal wichtig zu schimpfen, dass doch gerade weiße schwule Cis-Männer am privilegiertesten seien. Einige der Anwesenden schüttelten empört mit den Köpfen, doch offen widersprechen mochte von ihnen niemand. „Privilegien“ meint im intersektional-ideologischen Sinn unverdient erlangte Vorteile, die eine gesellschaftlich komfortablere Position ermöglichen.
Privilegien als moderne Erbsünde
Der „Privilegien“-Vorwurf gehört zur Grundausstattung der queer-intersektionalen Ideologie und funktioniert vor allem wie ein moderner Ablasshandel, wie in einem Religionsersatz. Die Signalwörter „weiß“ und „cis“ haben die biblische Erbsünde abgelöst. Es geht nicht darum, Individuen mit ihrer individuellen Biografie zu würdigen, sondern um Projektionen. Wer als „weiß“ und „cis“ gilt, muss in erster Linie Schuld bekennen. Wie wohl in den 1970ern bei den linksradikalen K-Gruppen, muss man auch bei den Q-Gruppen bekennen, dass man heute schon wieder versagt hat, die Revolution voranzutreiben. Ein solcher Zugang wird niemandem gerecht, auch nicht schwulen Männern. Mit einer tatsächlich befreiten Gesellschaft haben diese Bekenntniszwänge ebenfalls nichts zu tun.
Eine weitere Formel, die in diesem Kontext auch bei der Veranstaltung nicht fehlen durfte, war „Marginalisierten zuhören“. Zuhören sollte man immer, aber nicht ohne kritische Auseinandersetzungen mit den Forderungen. Denn Forderungen anderer müssen nicht ausschließlich vorteilhaft für die eigenen Ziele sein oder gar von derselben Vorstellung geprägt sein, wie eine Gesellschaft sein sollte. Doch eine kritische Auseinandersetzung wollen queer-intersektionale Vertreter*innen zumeist gar nicht, wenn daraus Schlüsse folgen, die der reinen Lehre zuwiderlaufen.
Queer in Ostdeutschland
Doch zurück zur Veranstaltung: Im zweiten Nachmittagsteil zum Thema „Ostdeutschland“ wurde es dann auch mal konkreter. Ostdeutsche Aktivist*innen beschrieben ihre Erfahrungen, wie unglaublich engagiert sie an ihren jeweiligen Orten wirken – ob nun CSD-Veranstaltungen und andere Aktivitäten. Als Gefahr wird auch die Beendigung oder Kürzung von Fördermitteln benannt, wie es dem Leipziger Verein „Rosa Linde e.V.“ passiert ist.
Beklagt wird, dass gerade westdeutsche und vor allem Berliner Queers oft geringschätzig auf Ostdeutschland schauen: „Da leben doch sowieso nur Nazis!“ Eine Panelteilnehmerin rief gegen Ende dieser Diskussionsrunde dazu auf, doch auch mal in den Osten zu kommen, gar dort hinzuziehen. In dieser Einladung liegt auch ein wichtiger Kern, denn Landflucht überlässt den Raum anderen.
Parlamentarischer Abend
Zum anschließenden Parlamentarischen Abend mit Vertreter*innen aus dem Berliner Abgeordnetenhaus füllte sich der Raum deutlich, alle Plätze waren nun belegt. Der Berliner Queerbeauftragte Alfonso Pantisano, seit nunmehr einem Jahr im Amt, eröffnete die Veranstaltung. Unter dem Eindruck des antisemitischen Vorfalls auf der Soli-Party des Dyke March am 8. Juli in der „Möbel Olfe“ sprach Pantisano die Kriege in der Ukraine und in Nahost als Herausforderungen für die Pride-Parade und den Dyke March an, auf die man sich einstellen müsse.
Im Mittelpunkt der anschließenden Diskussion mit Max Landero (SPD, Staatssekretär für Integration, Antidiskriminierung und Vielfalt), Laura Neugebauer (Bündnis 90/Die Grünen) und Lisa Knack (CDU) standen die sechs Kernforderungen, die der CSD Berlin e.V. in diesem Jahr an die Politik richtet.
In einer Mentimeterumfrage ließ man das Publikum diese Forderungen nach Priorität anordnen. Die beiden wichtigsten Themen waren mit deutlichem Abstand die Aufnahme sexueller und geschlechtlicher Identität in Artikel 3 des Grundgesetzes sowie Maßnahmen gegen Hasskriminalität.
Ultimatum für Artikel 3
Besonders für Diskussionsstoff sorgte das Ultimatum des CSD Berlin e.V. an den Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU). Während die einen, darunter auch Staatssekretär Landero, solche Mittel eher für kontraproduktiv halten, wenn es darum geht, das Gespräch aufrecht zu erhalten, finden andere, dass es das gute Recht der Veranstalter ist, politische Vertreter danach zu wählen, wie glaubwürdig sie die Ziele unterstützen.
Einig sind sich alle darin, dass sich für die Erreichung des Ziels der Erweiterung von Artikel 3 GG gerade das Zeitfenster schließt und die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit ohne die CDU nicht zu haben ist.
Gerade mit der qua Defintion nichtlinken CDU fremdeln viele im queer-aktivistischen Milieu, das wurde auch am Freitagabend wieder sichtbar. Manches ging dabei aber auch ins Absurde. Zum Beispiel, als eine sich als nichtbinär identifizierende Person bekundete, dass ihr die Aufnahme von geschlechtlicher Identität in Artikel 3 GG besonders wichtig sei, weil man dann gegen die vor allem gerade in CDU-geführten Bundesländern erlassenen Verbote von Gendersternchen und Ähnlichem klagen könne. Das Gendersternchen zu verbieten, würde Menschen verbieten. Hier wird Butlers queerideologisches Sprechaktverständnis dann doch ein wenig überstrapaziert, ja, in gewisser Hinsicht auch ins Allgemein-Alberne transferiert.
Sicherheit für jüdische Queers
Für einen überraschenden Moment sorgte an dem Abend Anette Detering, Organisatorin des East Pride und ehemaliges Mitglied des Berliner Abgeordnetenhaus für die Grünen. Als die Diskussion zum Thema „Hasskriminalität“ wechselte, nutzte Detering den Moment und fragte insbesondere die Vertreter vom CSD Berlin e.V. nach einem Sicherheitskonzept für die Teilnahme von jüdischen und israelischen Queers. Dabei berichtete sie auch von dem Vorfall in der „Möbel Olfe“.
Das Thema schien viele der Anwesenden unvorbereitet zu treffen. Ein Vertreter des CSD Berlin versicherte, man würde sich mit dem Thema auseinandersetzen und dass Antisemitismus keinen Platz habe.
Man wird sehen, ob das eingelöst werden kann. Dazu müsste man auch alles auf den Prüfstand stellen, was in den letzten Jahren unter dem Modewort „Intersektionalität“ Eingang in den queeren Aktivismus gefunden hat. Dieser Abend jedoch wird erst mal mit einem Imbiss und einer alkoholischen sowie alkoholfreien Getränkeauswahl beschlossen.
Till Randolf Amelungist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.
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