Menschen, die ihre Transition bereuen oder nicht stabile Transidentitäten sind im queeren Aktivismus unbeliebte Themen. Ein sachlicher Austausch über die komplexe Gemengelage Themenfeld „Trans“ ist geradezu unerwünscht. Doch international werden Stimmen lauter, die Sprechverbote aufbrechen wollen.
Inhalt
6. Januar 2024 | Till Randolf Amelung
Mit ihrem neuen Jugendroman „Einfach nur Noni“ greift die Autorin Karen-Susan Fessel ein heißes Thema auf: Detransitionen, also Rückgängigmachen und Abbrüche von Geschlechtsangleichungen. Fessel begleitet die 16-jährige Noni in der ländlichen Idylle Brandenburgs durch Höhen und Tiefen auf der Suche nach der eigenen Identität. Noni ist sich sicher, kein Mädchen zu sein. Über Internetrecherchen findet die Romanheldin eine Gruppe für Transjugendliche, in der sie sich zum ersten Mal verstanden fühlt. Schließlich outet sich Noni gegenüber den Eltern als Transjunge und bekommt Unterstützung für ihre Neuidentifikation, später auch durch eine Psychiaterin – und hält schließlich das heiß ersehnte Rezept für Testosterongel in der Hand. Doch so sicher sich Noni zuerst noch war, taucht plötzlich die Frage auf, ob eine Geschlechtsangleichung zum Mann der richtige Weg für sie ist. Vollendet wird Nonis Gefühlschaos, als sie Mirna kennenlernt und sich beide ineinander verlieben.
Mittlerweile, an dieser Stelle ihrer Geschichte, nimmt Noni das Testosterongel nicht mehr regelmäßig und bricht die Einnahme schließlich ganz ab. Mit Hilfe der neuen Freundschaften aus der Transjugendgruppe und der lokalen queeren Community findet Noni schließlich den Mut, aus ihren massiven Zweifeln Konsequenzen zu ziehen und die Transition zumindest vorerst abzubrechen.
Kontroversen rund um Trans
Fessel thematisiert also aktuelle Kontroversen rundum Transitionen im Jugendalter, indem sie umstrittene Begriffe wie ROGD (Rapid Onset Gender Dysphoria), eine plötzliche Transidentität ohne vorherige Anzeichen, und die zahlenmäßige Zunahme unter biologisch weiblichen Teenagern erwähnt. Ebenso fließt in den Roman ein, dass viele Lesben und Schwule retrospektiv von geschlechtsdysphorischen Empfindungen während der Pubertät berichten. Ein im heteronormativen Umfeld entwickeltes Gefühl von „nicht richtig“ sein äußert sich oftmals in Geschlechtsdysphorie. Auch Studien zeigen, dass sich diese Geschlechtsdysphorie bei vielen, sich selbst noch nicht als homosexuell begreifenden, Teenagern in der weiteren Entwicklung häufig wieder auflöst und worauf ein schwules bzw. lesbisches Coming out folgt.
„Einfach nur Noni“ zeigt einen Idealfall, wie man sich den Umgang mit einem jungen Menschen auf der Suche nach der eigenen Identität wünschen möchte. Doch die Realität sieht bisweilen anders aus. Gerade Detransitionier*innen stellen transaktivistische Narrative vom inneren Wissen um sich selbst und damit den trans-affirmativen Behandlungsansatz in Frage. „Gender-affirmativ“ heißt, die Selbstwahrnehmung der Patient*innen unhinterfragt in den Mittelpunkt zu stellen und ihnen auch ohne psychologische Diagnostik möglichst ungehinderten Zugang zu medizinischen Behandlungen im Rahmen einer Geschlechtsangleichung zu gewähren. Bei Minderjährigen ist das oftmals auch mit einem Einsatz von Medikamenten wie sogenannten Pubertätsblockern und mit anschließender Gabe von Östrogen- oder Testosteronpräparaten verbunden.
Fehlender Diskurs als Risiko
In den letzten Jahren meldeten sich immer mehr Frauen und Männer, die eine Geschlechtsangleichung vollzogen haben, aber diesen Schritt nach einigen Jahren zu bereuen begannen. Bislang fehlt es an einem offenen und sachlichen Diskurs über diese Fälle – sowohl im queeren Transaktivismus, der Politik als auch in der Fachwelt. Dies hat negative Auswirkungen auf die Patient*innensicherheit und es werden Stimmen lauter, die den fehlenden Diskurs einfordern.
Die britische Journalistin Hannah Barnes berichtet in ihrem 2023 erschienenen Buch „Time to think. The Inside Story of the Collapse of the Tavistock’s Gender Service for Children“ über die Entwicklungen, die in Großbritannien zur Neustrukturierung der Versorgung für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie führten. Über viele Jahre war der Gender Identity Developement Service (GIDS) landesweit die einzige Anlaufstelle für geschlechtsdysphorische Minderjährige im staatlichen Gesundheitssystem, dem NHS. Doch Ende 2020 kam es zu einem weltweit beachteten Gerichtsurteil gegen den GIDS. Die damals 22-jährige Britin Keira Bell klagte, weil sie im Alter von 15 Jahren dort wegen Geschlechtsdysphorie Hilfe suchte und sich im Nachhinein zu schnell auf einen medizinischen Weg mit Pubertätsblockern, Testosteron und einer Mastektomie gesetzt sah. Später bereute sie diese Entscheidung und ließ vor Gericht feststellen, dass die gender-affirmative Behandlung noch zu experimentell ist und Minderjährige gar nicht oder nur eingeschränkt in der Lage seien, deren langfristigen Folgen einschätzen zu können. So wurde Bell zu einem prominenten Gesicht, insbesondere für biologische Frauen, die zunächst eine Angleichung an das männliche Geschlecht vollzogen, dies aber später wieder rückgängig machen wollten. Der NHS beauftragte schließlich eine unabhängige Untersuchung durch die Pädiaterin Hilary Cass, deren Ergebnisse letztlich die Neustrukturierung der Versorgung und ein Abrücken vom gender-affirmativen Ansatz zur Folge hatten.
Für ihr Buch führte Barnes auch intensive Gespräche mit ehemaligen Psychotherapeut*innen und Ärzt*innen des GIDS. Diese berichteten unter anderen, dass differenzierte Fallbesprechungen nicht möglich gewesen seien, ebenso wenig eine Abwägung, ob der Geschlechtsdysphorie vielleicht nicht Transsexualität, sondern eine andere Ursache zugrunde liegen könnte. Auch über Detransitionen konnte offenbar gemäß den Aussagen einiger ehemaliger Behandler*innen intern nicht fachlich angemessen gesprochen werden. So sagte zum Beispiel Anastassis Spiliadis, ein ehemals im GIDS tätiger Arzt, gegenüber Barnes, dass Diskussionen über Detransitionen nicht erwünscht gewesen seien. Begriffe wie dieser sollten gar nicht erst verwendet werden. Auch die Frage zu stellen, wie viele der jungen Patient*innen sich doch wieder umentscheiden, war nicht gewollt. Die Leitung des GIDS habe Sorge gehabt, als „transphob“ zu gelten, wenn öffentlich bekannt würde, dass solche Fragestellungen thematisiert würden.
Der GIDS der Tavistock-Klinik ist bei dem Umgang mit dem Thema „Detransition“ oder auch der mehrfach festgestellten unzureichenden medizinischen Evidenz für den gender-affirmativen Ansatz leider keine unrühmliche Ausnahme. Unlängst beschwerten sich in der Schweiz Ärzte über eine national wichtige medizinische Fachzeitschrift, weil diese Zeitschrift kritische Leserbriefe zu zwei Artikeln nicht abdrucken wollte, die zu unkritisch den gender-affirmativen Ansatz bei Minderjährigen behandeln würden.
Trans als Kulturkampf
Solche Kritik gibt es auch in den USA, wo sich zum Beispiel Psychotherapeutinnen wie Erica Anderson oder Laura Edwards-Leeper gegen die Ablehnung von sorgfältiger psychologischer Diagnostik und Begleitung aussprechen. In den USA sind Fragen um Detransitionen und der richtige Umgang mit Geschlechtsdysphorie bei Minderjährigen ein Schlachtfeld des politischen Kulturkampfs geworden. Gegenüber der Los Angeles Times sagte Anderson im April 2022: “Die Menschen auf der rechte Seite … und auf der linken sehen sich selbst nicht als extrem. Aber diejenigen von uns, die alle Nuancen sehen, die können sehen, dass es ein falscher Gegensatz ist: alles ohne eine Methode passieren lassen oder niemanden durchlassen. Beides ist falsch.“
Elf Detransitionierer*innen in den USA suchen nun die Klärung vor Gericht. Möglicherweise wird dort über die Zukunft des gender-affirmativen Ansatzes entschieden. Bereits jetzt haben eventuell drohende Schadensersatzforderungen Auswirkungen auf Anbieter von geschlechtsangleichenden Behandlungen. Kleinere Kliniken haben erhebliche Schwierigkeiten, die inzwischen drastisch gestiegenen Versicherungsprämien für Haftpflichtversicherungen zu finanzieren oder überhaupt eine Versicherung zu finden. Einige Anbieter schließen inzwischen die Haftung für gender-affirmative Behandlungen von Minderjährigen im Kleingedruckten sogar ganz aus.
WHO ignoriert Entwicklungen
Neben Großbritannien haben auch alle skandinavischen Länder nach Bewertung der medizinischen Evidenz und ungeklärten Risiken ihre Haltung zum gender-affirmativen Ansatz speziell bei Minderjährigen geändert. Diese aktuellen Entwicklungen scheinen die Weltgesundheitsorganisation (WHO) jedoch nicht zu beeindrucken. Am 18. Dezember 2023 verkündete die WHO, dass sie Leitlinien für die Gesundheit von trans und genderdiversen Menschen entwickeln will. Ebenso wurden die Namen der 21 Mitglieder der Kommission veröffentlicht, die diese Leitlinien erarbeiten sollen. Auch ein Termin für die Sitzung im Hauptquartier der WHO im Schweizerischen Genf vom 19. bis 21. Februar 2024 wurde bereits anberaumt. Zu dieser Ankündigung wurde auch ein kurzes Zeitfenster für öffentliche Rückmeldungen geöffnet – bis zum 8. Januar 2024. All diese Ankündigungen und Fristen trafen auf einen Zeitpunkt, an dem sich die meisten Menschen in vielen Ländern in die Feiertage verabschiedet haben. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Zudem ist das Panel für die Erarbeitung der Leitlinien sehr einseitig besetzt, ausschließlich mit Befürworter*innen des gender-affirmativen Ansatzes. Darunter ist auch die kanadische Transfrau und Bioethikerin Florence Ashley, die alles andere, als den gender-affirmativen Ansatz als „Konversionstherapie“ diffamiert. Doch dieses Vorhaben blieb nicht unbemerkt und einige Ärzt*innen lancierten eine Petition, die in der Kürze der Zeit über 7000 Personen unterzeichnet wurde. Die Unterzeichner*innen fordern, dass dieses Leitlinienvorhaben so nicht weitergeführt wird.
2024 könnte das Jahr werden, in dem die extrem einseitige und aktivistisch motivierte Diskursführung über Transthemen endgültig überwunden wird. Bücher wie dies von Fessel können hierzu einen Beitrag leisten, denn bis auf die deutsche Übersetzung des Romans „Detransition, Baby“ von Torrey Peters, ist das Thema auf dem deutschen Buchmarkt bislang nicht präsent.
Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations. Zur kritischen Auseinandersetzung mit dem gender-affirmativen Ansatz siehe auch folgende Texte von ihm aus dem Jahrbuch Sexualitäten: „Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar?“ (2022) und „Politische Hybris“ (2021).
CSD zwischen radikaler Gegenkultur und gesellschaftlicher Mitte
Eine Auseinandersetzung zwischen der YouTuberin PersiaX und queeren Influencer*innen um Aljosha Muttardi sorgt für Zuschauerreaktionen, die sich vor allem auf ein Thema fokussieren: Wie angemessen sind Nacktheit und Fetischpräsentationen in der Öffentlichkeit beim CSD?
3. Januar 2024 | Till Randolf Amelung
PersiaX, eine deutsche Transfrau und YouTuberin wurde am 19. Dezember 2023, kurz vor den Weihnachtsfeiertagen von FiNessi, ebenfalls Transfrau und YouTuberin, in einem Video als vermeintliche Islamhasserin, als trans- und nicht-binär-feindlich angeprangert. Auch als Token wird PersiaX von ihren Gegner*innen bezeichnet, also als Vorzeigetransfrau, die als Feigenblatt für die ansonsten transfeindliche Gesellschaft fungieren würde.
PersiaX, bürgerlich Lynn Kirchner, hat auf YouTube 122.000 Abonnenten (Stand 02.01.2024) und ist Meinungsvloggerin, die seit einigen Jahren insbesondere LGBTIQ-Themen kritisch kommentiert. Unter anderem hat sie sich mehrfach gegen einen Transbegriff ohne Geschlechtskörperdysphorie als Voraussetzung ausgeprochen. Ebenso hat sie andere Influencer*innen kritisiert, weil diese fragwürdige bis unverantwortliche Inhalte an ihr Publikum bringen. Zum Beispiel zeigte sie in einem Video, wie TikToker Gialu seine zumeist jugendlichen Zuschauer*innen offen über Schleichwege aufklärt, um an Hormone und Operationen zu kommen. Kirchners Videos erzielen oft eine große Reichweite und werden von ihren Abonnent*innen zumeist positiv bewertet. Ihre Kritiker*innen hingegen, sehen in Kirchners Reichweite eine Gefahr. Sieben von ihnen fanden sich schließlich zusammen, um das von FiNessi veröffentlichte Video zusammenzustellen. Mit dabei sind auch bekanntere Persönlichkeiten, wie Aljosha Muttardi (Queer Eye Germany) oder Leonie Löwenherz (Princess Charming). Muttardi wiederum, gab FiNessis Video eine größere Reichweite, indem er ein sogenanntes Reaction-Video dazu machte, also Auszüge des Originals präsentierte und kommentierte. Ebenso veröffentlichte auch Kirchner einen Videokommentar zu beiden Videos, inzwischen kommentierten weitere YouTuber*innen diese Auseinandersetzung. Dazu kann man unter all diesen Videos zusammengenommen nun mehrere tausend Userkommentare finden.
Fetisch in der Öffentlichkeit
Bemerkenswerterweise wurde gerade von den Zuschauer*innen vor allem auf ein Thema reagiert: das Präsentieren von Fetischen, ein beliebtes Synonym dafür ist auch „Kinks“, auf CSD-Paraden im öffentlichen Raum. Da YouTube gerade bei jüngeren Altersgruppen einen hohen Marktanteil hat und für diese oft Informationskanal der ersten Wahl ist, lohnt sich ein Blick, was dort zu queeren Themen diskutiert wird. PersiaX veröffentlichte 2022 ein Video, wo sie den CSD in Berlin kritisierte. Hauptkritikpunkt war, dass in dieser CSD-Parade viele Menschen nackt oder mit Fetischbekleidung bzw. -utensilien teilnahmen, Sex in der Öffentlichkeit hatten und alles vor den Augen Minderjähriger passiert sei. Diese Kritik von PersiaX griff die Gruppe um FiNessi und Aljosha auf, um sie als queerfeindlich, prüde und unangemessen abzukanzeln. Es sei nach deren Meinung gar kein Problem, wenn Kinder zum Beispiel Menschen in Fetischkleiden zu sehen bekämen, da sie dies doch ohnehin nicht verstünden. Zudem sei ein Kink nicht zwingend etwas Sexuelles. Die Kommentare unter allen Videos, die sich mit der aktuellen Kritik an PersiaX beschäftigen, widersprechen mehrheitlich dieser Auffassung über Fetische im öffentlichen Raum. Hier einige Auszüge:
Sehr oft heißt es, dass man die LGBTIQ-Community an sich unterstütze, aber Fetische und sexuelle Handlungen ohne Rücksicht auf anwesende Minderjährige gingen ihnen zu weit. Auch einige, die sich selbst zur LGBTIQ-Community zählen, schreiben in ihrem Kommentar, dass sie sich deswegen auf den CSD-Paraden unwohl fühlten und diese seitdem meiden würden. Aussagen zu Fetische und Minderjährige wie von Aljosha und Co., sind in queeraktivistischen Kreisen keine Ausnahme. Auch anderswo, zum Beispiel in „Sex in echt. Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät“, einem Aufklärungsbuch für Jugendliche, wird BDSM/Kink thematisiert, obwohl das so noch eher nicht zu deren Entwicklungsstufe passen dürfte. Und 2021 beschwerte sich der Journalist Matthias Kreienbrink über die vermeintliche Prüderie der Generation Z, also der jungen Leute, die Ende 1990er Jahre bis 2012 geboren wurden.
Influencer*innen wie Aljosha oder FiNessi geben sich ein sehr vielfalts- und diskriminierungssensibles Image, was man gemeinhin als „woke“ bezeichnet. Viele User kommentieren womöglich auch deswegen so kritisch, weil gerade die Woke-Bubble schnell dabei ist, überall sogenannte „Microaggressions“ zu beklagen. „Mikroaggressionen sind alltägliche Kommentare, Fragen, verbale oder nonverbale Handlungen, die überwiegend marginalisierte Gruppen treffen und negative Stereotypen verfestigen. Sie können sowohl absichtlich als auch unabsichtlich geäußert oder getätigt werden“, heißt es beispielsweise auf der Website der Universität zu Köln. Die Bedürfnisse anderer, die im öffentlichen Raum nicht ungewollt mit Nacktheit und Fetischen konfrontiert werden wollen, werden dagegen von Aljosha und Co. offen missachtet.
Kinks oder Kinder
Allerdings ist der Streit um Fetisch und Freizügigkeit auf CSD-Paraden keineswegs etwas Neues. Dieser Konflikt ist ein grundsätzlicher, der den LGBTIQ-Aktivismus schon lange begleitet. Es geht um die Frage, ob man vor allem radikale Gegenkultur sein oder sich als Teil der bürgerlichen Gesellschaft präsentieren will. Gerade in Berlin hat dies dazu geführt, dass es neben dem großen CSD mindestens eine weitere Parade gibt, die sich besonders der linksalternativen, antikapitalistischen und queerfeministischen Szene verpflichtet fühlt. Aber auch um die großen Paraden gibt es immer wieder mal Streit, zum Beispiel um Pup-Player, die
Aljosha Muttardi, Screenshot aus seinem Video vom 22.12.2023
in Fetischoutfit mit Hundemaske mitmarschieren. Zumal auch immer mehr Familien mit Kindern an CSD-Veranstaltungen teilnehmen. Will man ein Fest für die ganze Familie sein, egal ob Hetero- oder Regenbogenfamilie? Dann lassen sich Kinder- und Jugendschutzaspekte nicht mehr so einfach ignorieren. Bisher wurden solche Debatten vor allem über community-interne Strukturen und Plattformen geführt. Mit der Auseinandersetzung um PersiaX kann man nun erstmals sehen, wie ein diverses und wahrscheinlich mehrheitlich heterosexuelles Publikum auf dieses Thema reagiert, zumal sich inzwischen auch nicht-queere YouTuber beteiligen, darunter Tim Heldt alias KuchenTV, einer der reichweitenstärksten deutschen YouTuber. Es wird überdeutlich, dass es um Fragen von Kinder- und Jugendschutz eine erhöhte Sensibilität gibt und dies nicht nur „CDU-Boomern“ (Kreienbohm) vorbehalten ist, sondern generationsübergreifend Relevanz hat.
Angesichts einer 2023 erstmals festgestellten leicht rückläufigen Akzeptanz für LGBTIQ, sind solche Einblicke interessant und sollten gerade im queeren Aktivismus und der LGBTIQ-Community zum Nachdenken anregen. Es scheint 2024 nicht sinnvoll, einfach wie bisher weiterzumachen und mehr vom Gleichen aufzufahren. Erst recht nicht, wenn man in anderen Fragen, zum Beispiel der Geschlechtsidentität, höchste Sensibilität und unbedingten Respekt von anderen verlangt, aber nichts davon zurückzugeben bereit ist. Doppelmoral wird nirgends positiv aufgenommen. Die Grenzen dessen, was im öffentlichen Raum zu welchem Anlass als akzeptabel empfunden wird, sind in stetiger Aushandlung. Verbunden ist dies mit gesellschaftspolitischer Aktualität, zum Beispiel rund um Schutz vor sexueller Gewalt gerade gegen Minderjährige, aber auch grundsätzliche Achtung von Grenzen anderer. Da ist es kein Wunder, wenn das auch in Diskussionen um den CSD auftaucht, beziehungsweise nie verschwindet.
Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations.
Zwischen Biologie und Identität – wie selbstbestimmt kann Geschlecht im Gesetz sein?
Am 28. November 2023 findet im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Bundestags die öffentliche Anhörung von Sachverständigen zum Selbstbestimmungsgesetz statt. IQN-Redakteur Till Randolf Amelung wurde ebenfalls um eine Stellungnahme gebeten. Der folgende Beitrag ist ein vorab veröffentlichter Auszug daraus, der redaktionell angepasst wurde.
Inhalt
21. November 2023 | Till Randolf Amelung
Nun hat das Vorhaben, das über 40 Jahre alte Transsexuellengesetz (TSG) durch ein sogenanntes Selbstbestimmungsgesetz zu ersetzen, einen weiteren Meilenstein auf seinem Weg erreicht: am 15. November 2023 wurde das Gesetz in einer lebhaften Debatte im Bundestag vorgestellt und an den Familienausschuss zur weiteren Beratung überwiesen.
Mit dem vorliegenden „Entwurf eines Gesetzes über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag (SBGG-E)“ sollen Forderungen nach einer Neuregelung der Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags erfüllt und die Voraussetzungen für trans- und intergeschlechtliche Menschen vereinheitlicht werden. Im Vergleich zum TSG sollen die beiden Sachverständigengutachten künftig als Voraussetzung entfallen. In § 2, Absatz 1 SBBG-E heißt es:
„Jede Person, deren Geschlechtsidentität von ihrem Geschlechtseintrag im Personenstandsregister abweicht, kann gegenüber dem Standesamt erklären, dass die Angabe zu ihrem Geschlecht in einem deutschen Personenstandseintrag geändert werden soll, indem sie durch eine andere der in § 22 Absatz 3 des Personenstandsgesetzes vorgesehenen Angaben ersetzt oder gestrichen wird.“
Gemäß § 2, Absatz 2 SBGG-E soll die Person mit Abgabe der Erklärung zugleich versichern, dass „der gewählte Geschlechtseintrag beziehungsweise die Streichung des Geschlechtseintrags ihrer Geschlechtsidentität am besten entspricht“ und „ihr die Tragweite der durch die Erklärung bewirkten Folgen bewusst ist.“ Eine Begutachtung, Stellungnahme oder Prüfung der Selbstaussage durch Dritte ist nicht vorgesehen.
Kein Missbrauchspotenzial?
Gerade radikalfeministische Frauen bringen deshalb vehemente Bedenken an, dass eine VÄ/PÄ ohne Plausibilitätsprüfung biologischen Männern eine Handhabe biete, sich in Schutzräume für Frauen zu klagen. Frauen sind nach wie vor die Hauptbetroffenen von sexueller Gewalt, zumeist ausgeübt durch Männer. Daher ist es vollkommen nachvollziehbar, dass hier ein erhöhtes Schutzbedürfnis besteht. Transverbände bestreiten mit Verweis auf das Ausland und dort vergleichbarer Regelungen, dass ein solches Missbrauchsrisiko überhaupt bestünde oder reden es klein und fordern daher, auf Sicherungen zu verzichten, die aus ihrer Sicht vor allem eine Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts von Transpersonen darstellen. Bereits vor der Einführung eines Selbstbestimmungsgesetzes wird das Grundprinzip – bedingungslose Akzeptanz der Selbstäußerung einer Person über ihr Geschlecht – in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen gefordert und teils auch schon akzeptiert. Einher geht dies mit immer unbestimmter werdenden Begriffsdefinitionen von Transidentität. Auch deshalb schwindet bei vielen Kritikerinnen die Zuversicht, sich gegen missbräuchlich handelnde Personen in einer konkreten Situation wehren zu dürfen. Insgesamt ist es jedoch naheliegend, dass Menschen Gesetzeslücken ausnutzen, wenn es ihren persönlichen Zielen dient.
Ignorierte Schamgrenzen
Aufgrund fehlender systematischer Erfassung in anderen Ländern mit einem Gesetz auf der Basis des Selbstbestimmungsprinzips ist eine Prognose schwer, mit wie vielen Problemfällen zu rechnen wäre. Jedoch involviert das Geschlecht grundsätzlich sehr sensible Bereiche, darunter Intimsphäre, Schamgefühl. Es kann daher unter Umständen ein generelles Unbehagen auslösen, wenn man in einem nach Geschlecht getrennten Raum durch eine Person Irritationen erlebt, die man dort als unpassend einordnet. Kulturhistorisch sind zum Beispiel geschlechtergetrennte Sanitäreinrichtungen eher der Regelfall, als die Ausnahme. Wie der Soziologe Norbert Elias in seinem grundlegenden Werk „Über den Prozeß der Zivilisation“ bereits beschrieben hat, beeinflusst der Wandel von Herrschafts- und Sozialstrukturen auch Persönlichkeitsstrukturen. Mit Zivilisierungsprozessen gingen auch Verfeinerungen von Normen und Sitten einher, die zur Erhöhung von Scham- und Peinlichkeitsschwellen führten. Wo bei geschlechtergetrennten Einrichtungen Schutz vor Gewalt als Argument für die Beibehaltung des biologischen Geschlechts als Zugangskriterium angeführt wird, geht es eigentlich auch um Schamgefühle. Diese können je nach Alter, sozialer, kultureller oder ethnischer Herkunft graduell differieren. Die soziohistorischen Sedimente mag man vielleicht in einer studentischen Seminararbeit mit einem Federstrich dekonstruieren können, gesellschaftliche und individuelle Realität sind deutlich widerspenstiger. Da das Thema „geschlechtsspezifische Schutzräume“ so sensibel ist, reichen hier bereits wenige Missbrauchsfälle, um Schaden anzurichten und das Ansehen von Transpersonen zu beschädigen.
Missbrauchsfälle, die es nicht ja nicht gibt
Tessa Ganserer (Bündnis 90(die Grünen) am 15. November 2023 im Bundestag. (Foto: Screenshot Parlamentsfernsehen)
In der parlamentarischen Debatte am 15. November verwies Tessa Ganser (Bündnis 90/die Grünen) auf die Schweiz, wo es seit dem 1. Januar 2022 ein Gesetz nach dem Selbstbestimmungsprinzip gibt. In einem Versuch, witzig zu sein, sagte Ganserer, die Zivilisation sei wegen dieses Gesetzes in der Schweiz nicht untergegangen und die Züge wären im Gegensatz zu Deutschland noch pünktlich. Das mag betreffend der Zivilisation und des Bahnverkehrs so sein, aber hinsichtlich der eidgenössischen Variante eines Selbstbestimmungsgesetzes gibt es bereits folgende Fälle, die bislang publik geworden sind:
In der Schweiz gibt es für Frauen ein früheres Renteneintrittsalter. Deshalb änderte ein Mann seinen Geschlechtseintrag von „männlich“ auf „weiblich“, wie er selbst der Luzerner Zeitung berichtete. Der Vorgang kostete ihn einmalig 75 Franken – demgegenüber steht die AHV-Rente von bis zu 30.000 Franken jährlich.
Ein anderer Mann wollte mit einer Änderung des Geschlechtseintrag dem Militärdienst entgehen. In einem Bericht heißt es: „Es habe sich um einen reinen Verwaltungsakt gehandelt, er habe keine einzige Frage beantworten müssen. Zum Standesamt sei er in seiner normalen Kleidung gefahren, er habe mit seiner normalen Stimme gesprochen.“
Im traditionellen Zürcher Frauenbad forderte laut der Neuen Zürcher Zeitung „eine Person mit Schnauz, die sich als weiblich ausweist, Einlass“.
In Deutschland gab es mit dem freiwillig und vor einer gesetzlichen Änderung übernommenen Selbstbestimmungsprinzip in einigen Bereichen bereits folgende Fälle in den Medien:
Im Kreisverband der Partei Bündnis 90/die Grünen in Reutlingen bewarb sich Parteimitglied David Allison im Juli 2021 trotz offensichtlich männlichem Erscheinungsbild auf einen quotierten Frauenplatz, indem er sich kurzerhand zur Frau deklarierte. Laut seiner eigenen Beschreibung soll es zwar durchaus irritierte Blicke, aber keine Proteste gegeben haben.
Ein weiterer Fall beschäftigte das Bundesschiedsgericht derselben Partei: In einem Kreisverband wollte ein Mitglied für den quotierten Frauenplatz im Vorstand kandidieren, die trotz männlichen Auftretens und eines männlichen Vornamens behauptete, eine Frau zu sein. Das Parteischiedsgericht urteilte, nur Personen, die sich „eindeutig und dauerhaft“ als Frau definieren, könnten sich auf die innerparteilichen Quotenregeln für Frauen berufen. Wie diese Eindeutigkeit und Dauerhaftigkeit festgestellt werden soll, blieb offen.
In Berlin erschlich sich ein Betrüger vorläufige Ausweisdokumente und beging Straftaten. In der Berliner Zeitung dazu: „Im Fall von Sabri E., der sich als transgeschlechtlich vorstellte, fanden die Mitarbeiter es offenbar plausibel, dass sein Äußeres und das mitgebrachte Lichtbild sich von dem Gesicht auf den Passbildern der vorgelegten Ausweise unterschied. Sie schauten nicht richtig hin und stellten keine Nachfragen – möglicherweise aus Schamgefühl oder Angst vor einer Diskriminierungs-Beschwerde.“
Das Prinzip „Selbstbestimmung qua Kulanz“ machte auch im Ausland Schlagzeilen, zum Beispiel in Österreich, wo der in Hamburg lebende Bijan Tavassoli in Wien als „Trans-Muslima“ Zutritt zu einer Frauensauna einforderte und auch bekam. Tavassoli erklärte sich gegenüber Medien wie folgt:
„Als der Bademeister mich darauf hinwies, dass heute Frauensauna-Tag sei, zeigte ich ihm einfach meinen DGTI-Ausweis (Ersatzausweis für trans Menschen), in dem steht, dass ich eine Frau bin. Er hat sich den Ausweis genau angeguckt, mir das Ticket verkauft und mich dann hereingelassen.“
Der erwähnte Ausweis wird seit 1999 als „Ergänzungsausweis“ von der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (dgti e.V.) ausgestellt und soll nur in Verbindung mit offiziellen Ausweisdokumenten „gültig“ sein. Zweck dieses Dokuments ist es, die Diskrepanz zwischen Äußerem und Ausweispapieren und bis zu einer rechtswirksamen Änderung der Ausweisdokumente per TSG-Verfahren bei Bedarf plausibel und diskret erklären zu können. Zunächst verlangte die dgti vor der Ausstellung des „Ergänzungsausweises“ einen Nachweis, dass sich die antragstellende Person im Prozess einer Geschlechtsangleichung befindet. Dies konnte beispielsweise die Kopie einer ärztlichen Überweisung oder ein Schreiben eines behandelnden Therapeuten sein. Seit einiger Zeit verzichtet die dgti e.V., die ein neues Gesetz nach dem Selbstbestimmungsprinzip befürwortet, auf einen solchen Nachweis, erwähnt aber auf der eigenen Website:
„Letztlich behält sich die dgti allerdings das Recht vor, die Ausfertigung eines Ergänzungsausweises zu verweigern, wenn unter objektiver Würdigung der Gesamtumstände und Angaben diese nicht darauf hindeuten, dass der erbetene Ausweis zur Unterstützung und Erleichterung der Transition gedacht ist, sondern zu einem nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch.“
Im Hinblick auf das geplante Selbstbestimmungsgesetz ist die Frage zu klären, ob ein Standesbeamter sich ebenfalls das Recht vorbehalten darf, „Gesamtumstände objektiv zu würdigen“ und eine nicht aufrichtig erscheinende Selbsterklärung nicht anzunehmen.
Es muss in dem Zusammenhang auch geklärt werden, inwieweit Zielgruppenbeschränkungen möglich bleiben, die biologisches Geschlecht in Kombination mit sozialen Erfahrungen zur Grundlage haben. Gerade in sensiblen Bereichen, wie Schutz-, Beratungs- und Therapieeinrichtungen rund um sexuelle Gewalt oder auch sexuelle Entwicklung, Körperthemen (z.B. Gesundheit, Schwangerschaft, Menstruation) für Frauen ist dies von Bedeutung. Sollte es z.B. für Transpersonen an solchen Einrichtungen mangeln, wäre hier dafür zu sorgen, dass es auch für Transpersonen diese besonderen Einrichtungen gibt, anstatt die Nutzung vorhandener „für Frauen“ gedachter Einrichtungen für biologische Frauen zu verunmöglichen. Dies kann nicht allein über den Verweis auf das Hausrecht geschehen. Vielmehr braucht es eine breite gesellschaftliche Verständigung darüber, welche Relevanz das biologische Geschlecht in welchem Kontext haben muss und was dies im praktischen Umgang bedeuten kann. Eine wichtige Rolle spielen in dieser Auseinandersetzung veränderte, aktivistisch motivierte Begriffsverständnisse, die meiner Ansicht nach dazu beitragen, dass mit dem Selbstbestimmungsprinzip in Bezug auf das Geschlecht Konflikte und Missbrauchsfälle wahrscheinlicher eintreten werden.
Was ist „Trans“?
Im Zusammenspiel zwischen Aktivismus und Wissenschaft wurden veränderte Begriffsdefinitionen von Transidentität und Geschlecht platziert. Bei Trans lässt sich das zum Beispiel an den Veränderungen der Definitionen in medizinischen Diagnostikmanuals (ICD-10 und ICD-11) ablesen oder auch daran, welche Begriffsdefinitionen staatlich geförderte Plattformen wie das Regenbogenportal verwenden:
„Trans* Menschen identifizieren sich nicht oder nicht nur mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Manche trans* Menschen haben seit ihrer Kindheit das Gefühl, im „falschen“ Körper zu stecken, anderen wird irgendwann bewusst, dass sie sich zum Beispiel weder als Mann noch als Frau fühlen. Manche nehmen einen neuen Vornamen an, andere nutzen nach intensiver Beratung durch Mediziner*innen und Therapeut*innen geschlechtsangleichende Maßnahmenwie Hormone und/oder Operationen.
Welche weiteren Begriffe für trans* gibt es?
Die Selbstbezeichnungen von trans* Menschen sind vielfältig: Als trans* Mann bezeichnen sich zum Beispiel Männer oder männlich identifizierte Personen, die bei ihrer Geburt noch nicht als Junge wahrgenommen wurden. Weitere übliche Begriffe sind „transgeschlechtlich“, „transgender“, „transident“ oder „transsexuell“. „Trans*“ wird häufig als Oberbegriff verwendet, wobei das Sternchen als Platzhalter für die unterschiedlichen Endungen stehen soll.“
Diese Definition ist ein Resultat aktivistischer Bemühungen, um vorher maßgebliche Definitionen aus der Medizin zu verdrängen. An den Veränderungen der Definitionen lässt sich sehen, wie der vorherige Rekurs auf Zweigeschlechtlichkeit einem offeneren Verständnis gewichen ist. Anstatt als medizinisches Thema, wird Trans nun zuvörderst aus menschenrechtlicher Perspektive betrachtet.
Neuere Begriffe wie „Nonbinary“ oder in deutsch „nicht-binär“ tragen noch weiter zur Begriffsunschärfe von „Trans“ bei, wie man zum Beispiel im Regenbogenportal nachlesen kann:
„Nicht-binär“, „non-binary“ oder auch „genderqueer“ sind Selbstbezeichnungen für eine Geschlechtsidentität, die sich nicht in der Gegenüberstellung von Mann oder Frau beschreiben lässt. Damit kann eine Geschlechtsidentität „zwischen“, „sowohl-als-auch“, „weder-noch“ oder „jenseits von“ männlich und weiblich gemeint sein.“
In der Regel wird mit dieser Selbstbezeichnung meiner Beobachtung nach vor allem eine Haltung kommuniziert, welche die heteronormative Zweigeschlechterordnung ablehnt. Diese Personen können zugleich trans oder inter sein. Das scheint aber mittlerweile eher eine Minderheit unter allen zu sein, die sich als „nonbinary“ bezeichnen. Wie Lydia Meyer im 2023 erschienenen Buch „Die Zukunft ist nicht binär“ schreibt, werden Erwartungen Außenstehender, mit dieser Selbstbezeichnung z.B. irgendwie androgyn aussehen zu müssen, abgelehnt.
Epistemische Konflikte um das biologische Geschlecht
Gerade um die Frage, wie biologisches Geschlecht definiert werden soll, sind zunehmend Kontroversen entbrannt. Zunächst ist in sozialwissenschaftlicher oder psychologischer Hinsicht die Unterscheidung zwischen biologischem Geschlecht, äußeren Geschlechtsmerkmalen, Geschlechtsrolle und Geschlechtsidentität üblich, um alle Ebenen zu erfassen, in denen Geschlecht relevant ist, wie auch die Kommunikationsberaterin Sigi Lieb in ihrem Buch „Alle(s) Gender. Wie kommt das Geschlecht in den Kopf?“ ausführlich erläutert.
Anders sieht es bei der Frage aus, ob es mehr als zwei biologische Geschlechter gibt. Die eigentlich übliche Definition, die noch aus dem Biologie-Unterricht bekannt sein dürfte, unterscheidet das Geschlecht anhand der Gameten, die produziert werden. Kleine und bewegliche Gameten (Spermien) sind biologisch männlich, große Gameten (Eizellen) biologisch weiblich. Weitere biologische Geschlechter gibt es nach dieser Definition eigentlich nicht, aber genau diese Definition wird vom queeren Aktivismus angegriffen.
Im Mai diesen Jahres drückte die UN-Beauftragte für Gewalt gegen Mädchen und Frauen Reem Alsalem ihre Besorgnis darüber aus, wie der Diskurs unterbunden würde und forderte, dass Mädchen und Frauen ohne Angst und Einschüchterungsversuche über ihnen wichtige Anliegen frei sprechen können müssten. Dies führte zu Protesten von Transaktivisten und der Association for Women’s Rights in Development (AWID) die Alsalems Absetzung forderten. Im September legte Alsalem mit einem Statement nach:
“The letter by AWID did however contain one novelty, which I found very concerning, namely its allegation that I reportedly continue to “perpetuate narratives upholding outdated and non-scientific understandings of binary biological sex.” There is nothing outdated or unscientific about the binary nature of sex, and I would encourage signatories of this letter to seek out biologists for a conversation around this issue.”
Wie sehr es um diese biologische Geschlechterdefinition gestritten wird, zeigt auch ein Beitrag in der Juli/August-Ausgabe des „Skeptical Inquirer“. Darin beklagen die Evolutionsbiologen Jerry A. Coyne und Luana S. Maroja, dass ihr Wissenschaftsfeld durch ideologische Einflussnahme seitens sich als progressiv verstehender Politik gefährdet sei. Aus ideologischen Gründen könne man nicht mehr von biologischer Zweigeschlechtlichkeit reden, obwohl diese nach wie vor nicht widerlegt sei. Dieses Modell wird vom queeren Aktivismus und mit ihm verbündeten Wissenschaftlern herausgefordert, vornehmlich aus den Geistes- und Sozialwissenschaften. Der wohl bekannteste Ansatz ist die „Queer Theory“ nach der US-amerikanischen Philosophin Judith Butler. Butler sieht, sehr knapp zusammengefasst, auch das biologische Geschlecht als sozial konstruiert an, da auch die materielle Ebene der Deutung unterliege, die wiederum durch hegemoniale Diskurse strukturiert werde.
In Deutschland wird oft auf einen Artikel aus dem „Tagesspiegel“ des Sexualwissenschaftlers Heinz-Jürgen Voß verwiesen, wenn es darum geht, ob biologische Zweigeschlechtlichkeit noch dem Stand der Wissenschaft entspricht. In diesem gibt Voß den 2015 erschienenen Beitrag „Sex redefined“ der Biologin Claire Ainsworth aus dem Fachmagazin „Nature“ wieder und dies auf sehr strittige Weise. Denn anders als er der Titel dieses wissenschaftsjournalistischen Beitrags nahelegen könnte, will Ainsworth ihn »ganz und gar nicht« als Widerlegung der biologischen Zweigeschlechtlichkeit verstanden wissen. „No, not at all. Two sexes, with a continuum of variation in anatomy/physiology“, stellte sie am 21. Juli 2017 auf Twitter klar, nachdem ihr Beitrag verschiedentlich als Plädoyer für biologische Vielgeschlechtlichkeit herhalten musste. In ihrem vielzitierten Aufsatz trägt sie Forschungsergebnisse zusammen, die sich mit anatomischer und physiologischer Vielfalt von Geschlecht beschäftigen. Es geht darin um (seltene) Variationen innerhalb des binären (biologischen) Modells.
Im trans- und intergeschlechtlichen Aktivismus gilt das bisherige Biologiemodell jedoch als Hindernis, um als gleichwertig angesehen zu werden, da man Trans- und Intergeschlechtlichkeit als nicht-pathologische Normvariante verstanden wissen möchte. In Anbetracht dessen, dass Wissenschaft und Medizin in der Vergangenheit vulnerablen Gruppen wie Trans- und Interpersonen mitunter nicht gerecht wurden und gar erhebliche Verletzungen zugefügt haben, ist diese Bewertung durchaus verständlich. Jedoch sind möglichst belastbare wissenschaftliche Modelle für alle Bereiche essentiell. Die derzeitigen ideologisch aufgeladenen Definitionsversuche und daraus resultierenden Konflikte beschädigen das Vertrauen in Wissenschaft, aber auch Politik.
Ein Gesetz ohne sorgfältige Rechtsfolgenabschätzung
In der Auseinandersetzung um das Selbstbestimmungsgesetz sind diese Definitionsfragen von hoher Relevanz: Fast alle gesetzlichen Bestimmungen oder gesellschaftliche Normen, in denen Bezug auf das Geschlecht genommen wird, gehen vom klassischen biologischen Geschlechtsverständnis aus, wie Rechtswissenschaftler Boris Schinkels ausführt. Auch Aspekte wie Frauenquoten, Frauensport oder Wehrpflicht müssten betrachtet werden. Es hat noch keine umfassende Rechtsfolgenabschätzung stattgefunden, die abwägt, was eine vollständige Entkopplung des Geschlechterbegriffs vom bisherigen Verständnis für Regelungen und Normen bedeutet, deren Ausgangspunkt die biologische Zweigeschlechtlichkeit ist. Dies der Autonomie von Verbänden (Sport) oder dem Hausrecht (z.B. Saunabetreibern) zu überlassen, würde alle Beteiligten der Willkür ausliefern. Es kann weder im Einzelfall der Schutz von biologischen Frauen, noch das Verhindern von Diskriminierung von Transpersonen gewährleistet werden. Die Autorin Chantalle El Helou kritisiert in ihrem Essay „Vom Queer-Sexismus zur Emanzipation. Ein Lagebericht mit Auswegen“ an einem von materieller Realität vollständig entkoppelten Geschlechtsverständnis:
„Die Zurückweisung des Körpers führt tatsächlich nicht zu mehr Freiheit und Gleichheit, sondern gerade in der Auslieferung an die Ungleichheit zur Unfreiheit. Die transaktivistische Leugnung des Körpers will angeblich den Biologismus bekämpfen, plädiert aber tatsächlich für ein rohes, gesellschaftlich ungefiltertes Aufeinanderprallen der Körper. Er behauptet die Bedeutungslosigkeit des Körpers, sorgt aber dafür, dass man die Grenzen des Körpers wieder richtig zu spüren bekommt. […] Es ist die Zurückweisung gesellschaftlichen Ausgleichs geschlechtlich-körperlicher Ungleichheit und gerade die Leugnung des anatomischen Geschlechts , die paradoxerweise in der gesellschaftlichen Realität dazu führt, dass Biologie wieder Schicksal wird.“
Keine rechtliche Fiktion kann Transpersonen die Auseinandersetzung mit dem Kernproblem, nämlich dem Auseinanderfallen von Geschlechtsidentität/-Bewusstsein und Körper ersparen. Es wird immer einen Rest an Unverfügbarem im Sinne Hartmut Rosas geben, wenn es um den biologischen Körper geht. Ein gutes Gesetz beruht auf klaren, validen Grundlagen. Die vollständige Entkopplung des Geschlechterbegriffs vom biologischen Geschlecht leistet das nicht. Man kann nur hoffen, dass die Bundesregierung doch noch zur Besinnung kommt und von einem handwerklich schlechten Gesetz abrückt, bevor sowohl für Frauen und Mädchen, als auch für Trans- und Interpersonen Schaden entsteht.
Die vollständige Sachverständigenstellungnahme findet sich auf der Website des Deutschen Bundestags.
Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations. Ansonsten ist er freier Autor mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen. Texte von ihm sind auch im Jahrbuch Sexualitäten 2021 (Politische Hybris. Wie der Transaktivismus seine Erfolge zu verspielen droht) und 2022 (Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar? Ein Zwischenruf für die Berücksichtigung psychodynamischer Ansätze) erschienen. Zum Selbstbestimmungsgesetz äußerte er sich in diesem Blog bereits: Wird der Bademeister zum Gutachter? und Der Gesetzesentwurf, mit dem kaum jemand glücklich ist.
Die Stellungnahme als Sachverständiger erfolgte auf Einladung durch die CDU/CSU. Selbstverständlich hätte er auch den anderen, im Bundestag vertretenen demokratischen und verfassungsfreundlichen Parteien zur Verfügung gestanden. Warum dies insbesondere für die Parteien aus dem politisch linken Spektrum nicht in Frage gekommen ist, dazu könnte man auch heute noch den 2017 im Querverlag erschienenen Sammelband „Beißreflexe“ in die Hand nehmen und lesen. (Siehe dazu auch diesen Text aus dem Jahrbuch Sexualitäten 2022: Till Randolf Amelung, Patsy l’Amour laLove und Vojin Saša Vukadinović: „Ich habe es nicht gelesen, aber….“ 5 Jahre „Beißreflexe. )
Der Terrorangriff der Hamas auf Israel erschüttert in seiner Brutalität weltweit Menschen. Allerdings gibt es auch gleichgültige bis zustimmende Reaktionen – nicht nur aus muslimischen Kreisen, sondern auch von Linken und Queers.
Als Terroristen der palästinensischen Hamas am 7. Oktober 2023 Israel überfielen, verübten sie abscheulichste Gräueltaten. Sie schlachteten wehrlose Zivilisten ab, Babies wurden geköpft. Frauen vergewaltigt, allein über 260 junge Menschen auf einem Musikfestival ermordet. Nach Stand der Dinge sind mehr als 200 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt worden, Faustpfändern gleich, um tausende in Israel inhaftierte Hamas-Terroristen freipressen zu können. Kurz nach den schockierenden Ereignissen gab es von vielen westlichen Staaten Solidaritätsbekundungen, inklusive Deutschland. Doch es gibt seither auch Reaktionen die ob ihres unverstellten Judenhasses schier entsetzten oder wegen ihrer Gleichgültigkeit und Relativierung der Massaker befremdeten. Islamistische Gruppen und mit ihnen sympathisierende Personen, wie zum Beispiel der Verein Samidoun in Berlin, verteilten zur Feier des Tages Süßigkeiten auf der Berliner Sonnenallee, der berühmten, inzwischen weitgehend arabisch bewohnten Straße im Stadtteil Neukölln. Oder sie hatten gegenüber Journalisten keine Scheu, ihrer Freude über den Terror Ausdruck zu verleihen. Antisemitische Vorfälle sind sprunghaft angestiegen, weltweit kommt es von Hamas-Unterstützern zu Demonstrationen, an denen sich ebenso Personen aus dem linken Spektrum beteiligen – auch in Deutschland.
Befremdliche Reaktionen in woken Blasen
Relativierende Reaktionen kamen ebenfalls von Autorinnen, Influencern aus linken, antirassistischen, queerfeministischen Blasen, darunter prominente Namen wie Jasmina Kuhnke oder Emilia Zenzile Roig. Der für öffentlich-rechtliche Sender tätige Journalist Malcolm Ohanwe brachte es mit seinen Sympathiebekundungen für die Hamas auf Twitter so weit, dass sich seine bisherigen Auftraggeber, der Kultursender Arte und der Bayrische Rundfunk, genötigt sahen, die Zusammenarbeit mit ihm zu beenden. All die Genannten setzten auf ihren Kanälen Statements in die Welt, in denen sie suggerieren, Israel trage die eigentliche Schuld am Morden der Hamas, oder „aber die armen Menschen in Gaza“ dagegen halten. Andere schweigen, die sich ansonsten zu allem äußern, bis ihre Tastatur glüht, wenn es im Entferntesten um Diskriminierung geht.
Unter denen, die sich äußerten, waren auch dezidiert queere Akteure. Das Partykollektiv „Room for Resistance“ hat den Aufruf von Samidoun geteilt, der den Terror unterstützt. Die Journalistin Anastasia Tikhomirova sagte dazu im Deutschlandfunk am 11. Oktober: “Das queere Kollektiv wäre das erste, was von der Hamas ebenfalls abgeschlachtet würde, das muss man leider so sagen und dennoch besteht ein komplettes Unverständnis ihrer Ideologie und eine Unterstützung dieses Terrors.“ Die österreichische Influencerin Chiara Seidl, die auf ihrem Instagram-Account „radikalbehindert“ gegen Ableismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit zu Felde zieht, teilte in ihrer Story eine Grafik von Ayesha Khan, in der Hamas-Terroristen stilisiert dargestellt werden, die als Paraglider das Musikfestival aus der Luft angriffen. Als Text stand zu lesen: „This is what decolonization looks like. This is what a revolution takes. This is what land defense means.”
Auswirkungen der Postcolonial Studies
Das Massakrieren von friedlichen Festivalgästen wird also als Projekt, als „decolonization“ und „revolution“ verbrämt. Beziehungsweise verdeutlicht: So stellen sich gewisse Aktivistinnen und Aktivisten die Dekolonisierung vor. Angemerkt sei noch, dass Seidl ansonsten viele Bilderstrecken anfertigt, wo sie sich als besonders sensibel für (vermeintlich) diskriminierende Sprache geriert. Diese Verharmlosung von Terrorakten scheint der sonst so woken Aktivistin jedoch egal zu sein. Damit befinden sich Seidl und andere jedoch in bester Gesellschaft, denn auch die Queer-Ikone Judith Butler meldete sich nun zu Wort. Sie verurteilte den Terror der Hamas zwar pflichtschuldig, aber nur, um doch schnell wieder „auf die alte Kritik an Israels Palästinenserpolitik zurückzulenken“, wie Thomas Schmidt in der Zeitschrieb. Butler will den Konflikt „kontextualisieren“, was bedeutet, von 70 Jahre währender Unterdrückung der Palästinenser zu schwadronieren und eine israelische „Ur-Schuld“ zu konstruieren. Israel sei ein Apartheidstaat und so solle man auch jetzt nicht für diesen Partei ergreifen. Schmidt übersetzte es passend mit: „Zwanghaft läuft diese Redeweise wieder auf einen ganz alten Topos hinaus: Am Ende sind die Juden wieder selbst an ihrer Vernichtung schuld.“
Der von Chiara Seidl geteilte Beitrag
Diese Verbreitung von solchen Denkschablonen ist ein Resultat der in den Geistes- und Sozialwissenschaften populären Postcolonial Studies, in denen Israel als kolonialer und rassistischer Staat verleumdet wird. Diese Schlagseite ist auch in Roigs Instagram-Beitrag, insbesondere durch einige der Hashtags erkennbar. Aktivistisch wurde das durch die Kampagne „Boycott, Divestment, Sanctions“ (BDS) in Academia, Bildungsarbeit und Kulturbetrieb gebracht – auch in die queere Szene. Die Befürwortung des Hamas-Terrors durch das Partykollektiv „Room for Resistance“ ist kein Einzelfall. Seit Jahren schon gibt es immer wieder antisemitische Vorfälle auch aus dem queeren Spektrum, etwa auf dem Kreuzberger CSD, der immer wieder seinen Namen änderte und zuletzt unter der Bezeichnung „Internationalist Queer Pride“ marschierte. Dieser CSD war immer eine Parade, die größtmögliche Distanz zum sogenannten „kommerziellen“ CSD rund um die Berliner Siegessäule wahren wollte. Aus der diesjährigen Demo tönte es „From the river to the sea – Palestine will be free“ – ein Slogan, der die Tilgung Israels von der Landkarte herbeiwünscht. Auch einige Jahre früher, 2016 zum Beispiel, versammelten sich Aktivisten der Gruppe „Berlin Against Pinkwashing“ für eine Störaktion auf dem queeren Motzstraßenfest vor dem Stand der israelischen Botschaft und brüllten Slogans wie „No Pride in Israeli Apartheid!“.
„Pinkwashing“ als Vorwurf gegen Israel
Der Begriff des „Pinkwashings“ ist international in queeren Kreisen verbreitet. Damit wird Israel vorgeworfen, dass dieser Staat LGBT nur deshalb gesellschaftlich und rechtlich anerkenne, um Menschenrechtsverletzungen in den palästinensischen Gebieten zu verdecken. Hingegen wird von solchen queeren Aktivisten über die Menschenrechtssituation in den arabischen Staaten auffallend geschwiegen. Denn sonst müsste man über Schwule reden, die aus Angst vor Verfolgung und auch Ermordung durch die eigene Familie aus dem Westjordanland oder dem Gazastreifen nach Israel fliehen. In den arabischen Nachbarstaaten von Israel verschlechtert sich die schon bisher prekäre Lage für LGBT weiter, wie erst unlängst berichtet wurde. Im bisher verhältnismäßig toleranten Libanon beispielsweise forderte Hassan Nasrallah, Anführer der dort wirksamen islamistischen Hisbollah, für homosexuelle Menschen die Todesstrafe einzuführen. Umso unverständlicher ist die Agitation gegen Israel, den einzigen liberalen demokratischen Staat im Nahen Osten von Gruppen wie „Berlin Against Pinkwashing“ oder „Queers for Palestine“. Besonders grotesk aber ist es, wenn queere Akteure islamistischen Terror verharmlosen oder gar bejubeln. Sie drücken quasi ihre künftigen Mörder an die Brust. So deprimierend die Lage ist, so bleibt dennoch zu hoffen, dass nun viele Menschen zur Besinnung kommen und sich von den zerstörerischen, vergifteten Inhalten befreien, die durch verquere Theorien hineingekommen sind.
Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus in intersektionalen Theorieansätzen siehe auch folgenden Essay aus dem Jahrbuch Sexualitäten 2021: Monty Ott: Übersetzungsfehler oder Ausdruck deutscher Erinnerungsabwehr? (Queere) Jüd:innen als lebender Widersprüche zu intersektionaler Analyse in Deutschland.
Andere Leseempfehlungen:
Vojin Saša Vukadinović (Hg.): Freiheit ist keine Metapher. Antisemitismus, Migration, Rassismus, Religionskritik, Berlin: Querverlag 2018.
Robin Forstenhäusler, Katrin Henkelmann, Jan Rickermann, Hagen Schneider, Andreas Stahl, Ingo Elbe (Hg.): Probleme des Antirassismus. Postkoloniale Studien, Critical Whiteness und Intersektionalitätsforschung in der Kritik, Berlin: Edition Tiamat 2022.
Der Gesetzesentwurf, mit dem kaum jemand glücklich ist
Der Entwurf für Selbstbestimmungsgesetz wurde vom Bundeskabinett nach mehreren gescheiterten Anläufen auf den Weg gebracht. Vielen queeren Aktivist*innen geht das Gesetz nicht weit genug, sie fordern Nachbesserungen. Andere Kritiker*innen halten das Vorhaben gesellschaftspolitisch für zu früh, es fehle die mehrheitliche Billigung durch Liberal-Konservative.
Foto von Tingey Injury Law Firm auf Unsplash
29. August 2023 | Till Randolf Amelung
Mit Spannung richtete die queere Community am Mittwoch vor einer Woche den Blick nach Berlin, ob es an diesem Tag zur Billigung des Entwurfs für ein Selbstbestimmungsgesetz durch das Bundeskabinett kommen würde. Nachdem zuvor viele Termine nicht gehalten wurden, hat es dieses Mal geklappt. Nun ist dieser Gesetzesentwurf, der das über 40 Jahre alte Transsexuellengesetz ersetzen soll, bereit für den nächsten Schritt, der ersten Lesung im Bundestag.
Queere Kritik am Entwurf
Während sich die Ampel-Koalitionäre für ihre Arbeit selbst auf die Schulter klopfen, kommt aus der transaktivistischen und queeren Ecke teils heftige Kritik. So schreibt Janka Kluge, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (dgti e.V.), auf X (vormals Twitter): „Heute ist ein bitterer Tag für mich. Seit Jahren setze ich mich öffentlich für das #Selbstbestimmungsgesetz ein. Heute wird der Gesetzesentwurf im Kabinett beraten und wahrscheinlich beschlossen. Den Entwurf lehne ich entschieden ab. Dafür habe ich mich nicht eingesetzt.“
Eine von Anne Wizorek, Netzfeministin der ersten Stunde, und Daniela Antons gestartete Petition mit dem Titel „Diskriminierung & Misstrauen raus aus dem Selbstbestimmungsgesetz!“ kritisiert ebenfalls, dass „Vorurteile, Hass und Hetze im aktuellen Gesetzesentwurf zementiert“ würden und fordert die Berücksichtigung der Einwände von Trans- und Interverbänden. Besonders kritisiert werden die Ermöglichung von Ausschlüssen über das Hausrecht und die Vertragsfreiheit, die dreimonatige Karenzzeit bis zum Wirksamwerden der Änderung, die Informationsweitergabe an Ermittlungsbehörden für deren Überprüfung ihrer Daten, die Aussetzung der Anwendung im Kriegsfall sowie der Ausschluss von Migranten ohne Bleibeperspektive. Außerdem fordern sie, dass eine Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags ohne Einschränkung bereits ab dem 14. Lebensjahr möglich sein sollen. Eigenen Angaben zufolge, haben bereits über „330 feministische Autor*innen, Creator*innen, Jurist*innen, sowie Vertreter*innen u.a. aus queeren Vereinen, Frauenverbänden, Frauenhäusern, der Frauen-, Mädchen- und Gleichstellungsarbeit“ diese Petition unterzeichnet. Auch DIE LINKE.queer wirft der Ampelkoalition vor, „das Selbstbestimmungsgesetz bis zur Unkenntlichkeit“ entstellt zu haben und kritisiert, dass „vom Ursprungsgedanken weitgehender geschlechtlicher Selbstbestimmung nicht einmal mehr das blanke Minimum übrig“ bleibe. Ferda Ataman, Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, kritisierte die enthaltenen Einschränkungen ebenfalls, denn sie seien geeignet, „Diskriminierungen zu begünstigen und Vorurteile zu bestärken“.
Fehlende Zustimmung der Union
Dagegen sieht taz-Redakteur und IQN-Vorstand Jan Feddersen dieses Gesetzesvorhaben als nicht zu Ende verhandelt mit den Liberal-Konservativen, insbesondere der Union. Deniz Yücel nimmt eine ähnliche Position ein und schreibt in der WELT, dass er dieses Vorhaben für zu früh kommend hält. „Dieses Gesetz im kulturkämpferischen Handgemenge statt im größtmöglichen Konsens zu beschließen“ gefährde Yücel zufolge „die Anerkennung transgeschlechtlicher Identitäten“. Feddersen warnte in diesem Sinne bereits vor einem Jahr in der taz, dass dieses Gesetzesvorhaben der Akzeptanz von Transpersonen einen Bärendienst erweisen könnte. Bis heute gab es zudem keine seriöse Rechtsfolgenabschätzung, ebenso wenig wie eine gesellschaftliche Verständigung darüber, ob das biologische Geschlecht noch Relevanz besitzt und wenn ja, in welchen Situationen.
Geschlecht im Sport und in amtlichen Registern
Zuletzt haben mehrere internationale Sportverbände diese Relevanz zumindest für den Wettkampfsport im Hochleistungsbereich beantwortet und für ihre Frauensparten explizit festgelegt, dass sich in diesen Wettkämpfen nur biologische Frauen miteinander messen dürfen. Ausnahmen werden nur für Transfrauen gemacht, die keine körperlich-männliche Pubertät durchlaufen haben. Der Weltschwimmverband hat zudem begonnen, eine neue Wettkampfkategorie zu erproben, in der alle mitmachen können, unabhängig ihres biologischen Geschlechts. Parallel dazu soll es weitere Forschung dazu geben, wie und wann körperliche Unterschiede zwischen Trans und Cis im Sport relevant sind und wie Inklusion unter Berücksichtigung solcher Differenzen gestaltet werden kann. Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung hat in der gegenwärtigen Situation zumindest die einzig mögliche Lösung gewählt und solche Regularien der Autonomie der Sportverbände überlassen.
Realitätsfern wirken allerdings die Einwände der Kritiker*innen am Entwurf gegen die Informationsweitergabe an Sicherheitsbehörden. Schon heute mit dem TSG ist es so, dass Behörden über die vorgenommene Änderung informiert werden. Es war unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten nie eine realistische Option, dass Transpersonen nach einer Vornamens- und Personenstandsänderung in den Registern zu unbeschriebenen Blättern werden.
Kehrtwende im Ausland
Besonders problematisch an den Forderungen der Petition ist jedoch, Minderjährige ab 14 Jahren die Änderungen zu den gleichen Konditionen ermöglichen zu wollen, wie Volljährigen. Dabei kann man bis zur Volljährigkeit nicht mal ohne Unterschrift der Eltern an Klassenfahrten teilnehmen. Bedenklicher ist daran aber, dass der sogenannte gender-affirmative Ansatz im Ausland gerade bei Minderjährigen ins Kreuzfeuer geraten ist. In Großbritannien erregte der Fall der Detransitioniererin Keira Bell großes Aufsehen, ein Gerichtsurteil von 2020 hatte mittelfristig zur Folge, dass der nationale Gesundheitsservice NHS die Qualität des eigenen Behandlungsangebots unabhängig prüfen ließ. In den USA erließen republikanisch geführte Bundesstaaten gar Verbote für geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Minderjährigen. „Gender-affirmativ“ meint, dass die Selbstäußerung über die Geschlechtsidentität von Beginn an mit Ermöglichung einer frühen sozialen Transition, zu der auch Änderungen des Vornamens und Geschlechtseintrags zählt, sowie frühstmöglichen medizinischen Maßnahmen unterstützt wird. Parallel dazu wird eine umfassende Diagnostik und psychotherapeutische Exploration von vielen Transaktivisten als „Gatekeeping“ abgelehnt. Mehrere Untersuchungen haben diesem Ansatz eine schwache Evidenzbasis bescheinigt. Zudem wurde in Ländern wie den USA, Großbritannien oder Schweden sichtbar, dass Minderjährige mit komplexen psychischen Problemlagen keine adäquate Unterstützung bekamen, was dann in einigen Fällen ein paar Jahre später zu Reue oder auch Detransitionen führte.
Einige Länder änderten mittlerweile ihren Kurs bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie. In Großbritannien beschränkt der NHS den Einsatz von Pubertätsblocker auf Studien, ebenso Schweden. Sogar in den USA will die dortige Fachgesellschaft für Pädiatrie die Evidenz des gender-affirmativen Ansatzes prüfen lassen, obwohl man diesen nach wie vor unterstütze. Angesichts dieser Entwicklungen sind Forderungen unverantwortlich, Minderjährige in solchen Fragen wie Erwachsene behandeln zu wollen. Damit leistet man der Entwicklung Vorschub, dass sich folgende Prophezeiung Yücels erfüllen könnte: „Doch vielleicht wird man manche Aspekte des heutigen Transgender-Diskurses ähnlich bewerten, wie in der Rückschau auch die Beteiligten auf die Idee mit der ‚freien Liebe‘ der Sechziger- oder auf die Pädophilie-Debatte der Siebzigerjahre blicken: als Punkt, an dem der Wunsch nach sexueller Emanzipation übers Ziel hinausschoss.“
Wir als IQN haben mit dem Umbau begonnen. Diese Website enthält ab sofort auch aktuelle Kommentare, Analysen zu den gegenwärtigen Politiken und Kulturen der queeren Communities. Der Auftakt: ein Kommentar zu den Aus- und Eingrenzungen bei CSDs – aktuell in Hamburg.
CSD Hamburg 2022 – kein Wagen der CDU, Foto von Lukas S auf Unsplash
5. August 2023| Till Randolf Amelung
CSDs waren, als sie 1979 erstmals in der Bundesrepublik ausgerichtet wurden, überparteilich. Zwar deutlich links, grün-bunt-alternativ vom Schwerpunkt her, aber das ging auch nicht anders: Schwule und Lesben der etablierten Parteien SPD, CDU/CSU und FDP hatten gerade erst begonnen, sich wenigstens innerparteilich zu formieren. Auch sie hätten dabei sein dürfen, wenn sie denn im Grundsatz mit den Zielen der gesellschaftlichen Gleichstellung einverstanden gewesen waren. In keiner Parteienentwicklung drückt sich der Wandel der Bundesrepublik diesbezüglich besser aus, als in den Unionsparteien, in der es heute auch offen Schwule wie Jens Spahn in der Bundespolitik geben kann.
Die CSU und die Drag-Lesung
Nun aber gab es Ärger. Zuerst wurde in München die CSU von der Pride-Parade ausgeschlossen, kürzlich die große Schwesterpartei CDU in Hamburg: die Teilnahme mit eigenen Wagen am CSD wurde verwehrt. In beiden Städten begründeten die CSD-Organisatoren die Ausladungen mit Handlungen und Äußerungen aus den Unionsparteien, die Zweifel an der Verträglichkeit mit queerpolitischen Zielen aufkommen ließen. Politiker aus der CSU positionierten sich gegen eine Drag-Lesung, die Anfang Juni in der Stadtbibliothek München-Bogenhausen stattfand und warfen der Veranstaltung „Frühsexualisierung“ vor, weil einer der vorlesenden Künstler mit seinem Drag-Namen „Eric BigClit“ angekündigt wurde. Die Aufregung wirkte etwas grotesk, vermisste man einen ähnlichen Furor, wenn es um Fälle sexuellen Missbrauchs in katholischen und evangelischen Kirchen ging. Es fallen einem sicherlich mehr Drag Queens und Kings ein, denen man Kinder anvertrauen möchte, als katholische Geistliche.
Transkind und BDSM
Völlig übersehen wurde dafür der bedenkliche Hintergrund des Transmädchens Julana Gleisenberg, die ebenfalls vorlesen sollte, dann aber aus Sicherheitsgründen absagte. Die heute dreizehnjährige Julana, die biologisch männlich zur Welt kam, hatte sich im Alter von neun Jahren als trans geoutet. Wenig später wurde sie schon als Kinderbotschafterin einer neu gegründeten Stiftung eingesetzt und brachte mit Hilfe ihrer Eltern ein autobiografisches Buch heraus. Mittlerweile erhält Julana auch Pubertätsblocker, die eine männliche Pubertät verhindern sollen. Es wirkt, als solle Julana das deutsche Äquivalent zu Jazz Jennings werden, ein Transmädchen, deren Geschichte in einer Reality-TV-Serie über mehrere Jahre im US-amerikanischen Fernsehen vermarktet wurde. Gleisenbergs Eltern haben zudem die Transkind-Thematik offensiv zusammen mit ihrem Engagement für BDSM-Lebensweisen verknüpft, bei der Elemente von BDSM auch im Alltag eine Rolle spielen. Das Fass zum Überlaufen brachte in München jedoch der Besuch einer CSU-Delegation beim republikanischen Gouverneur des US-Bundesstaats Florida, Ron DeSantis, der mit LGBTI-feindlichen Gesetzen von sich reden machte. Die Münchener CSD-Organisatoren warfen der CSU vor, sich nicht von den Beteiligten der Delegation und DeSantis absolut ablehnender Haltung zu LGBTI zu distanzieren.
Gendern und Selbstbestimmungsgesetz
Gründe für die Ausladung in Hamburg hingegen, waren vor allem die Beteiligung der hiesigen CDU an der Bürgerinitiative „Schluss mit Gendersprache in Verwaltung und Bildung“, die per Volksbegehren das Gendern mit Sonderzeichen in Behörden und Bildungseinrichtungen verbieten lassen will und die Ablehnung des Selbstbestimmungsgesetzes. Die diesjährige Pride-Parade steht unter dem Motto „Selbstbestimmung jetzt! Verbündet gegen Trans*Feindlichkeit“. So ist durchaus nachvollziehbar, warum unter diesem Motto eine CDU als Teilnehmerin an der Parade kontraproduktiv für die Glaubwürdigkeit des Veranstalters wäre.
Der Umgang mit der CDU zeigt allerdings gerade bei diesen beiden Themen, wie der queere Aktivismus insgesamt einen Diskurskorridor kreieren will, der enger als eine Schießscharte ist. Dieser Aktivismus verunmöglicht es so, sich im übergeordneten Ziel der Gleichstellung queerer Menschen zusammenfinden zu können und dabei verschiedener Ansicht zu sein, wie das zu erreichen ist. Es beraubt den CSD seines integrativen Potenzials. Denn was hätte es gekostet, den CDU-Wagen zu tolerieren, selbst im Wissen, dass die Hamburger Abteilung der Partei nicht mit allen Maximalforderungen der LGBTI-Bewegung übereinstimmen möchte?
Dabei wäre eine integrierende Geste der CDU gegenüber ohnehin geboten gewesen: Die neuen Sprachcodes (Sternchen, Unterstrich, Doppelpunkt inkl. Klicklaut) sind ja keineswegs unumstritten. Im Gegenteil! Zur Erläuterung: Wenn vom sogenannten Gendern die Rede ist, sind Schreibweisen gemeint, die ein Sternchen, einen Unterstrich oder inzwischen auch einen Doppelpunkt verwenden. Damit sollen Geschlechtsidentitäten jenseits der Zweigeschlechtlichkeit sichtbar gemacht werden. Zugleich verweisen diese Sonderzeichen darauf, dass sich bis heute keine Schreib- und Sprechweise durchgesetzt und es in das anerkannte Regelwerk der deutschen Sprache geschafft hat, die sprachlich mehr als zwei Geschlechter abbildet. Im Juli diesen Jahres kam der Rat für deutsche Rechtschreibung im belgischen Eupen zusammen und beschloss, diese Sonderzeichen nicht in das offizielle Regelwerk aufzunehmen und stattdessen die Entwicklung weiter zu beobachten. In weiten Teilen der Bevölkerung aber, scheint es um die Akzeptanz für das Gendern mit Sonderzeichen eher schlecht bestellt zu sein. Mehrere Umfragen zeigten inzwischen, dass weit mehr als die Hälfte der Befragten diese Formen inklusive der gesprochenen Sprechpause ablehnen. Diese Umfragen zeigten aber auch, dass dies nicht gleichbedeutend mit einer generellen Ablehnung von Geschlechtersensibilität im Sprachgebrauch ist.
Beim Selbstbestimmungsgesetz, was das als veraltet geltende Transsexuellengesetz ablösen soll, ist es ebenfalls zu einfach die CDU zum Sündenbock dafür zu erklären, dass dieses Vorhaben der regierenden Ampelparteien nicht so recht vom Fleck kommt. Ein Kabinettsbeschluss vor der parlamentarischen Sommerpause scheiterte am Bundesinnenministerium aufgrund von Bedenken des Bundeskriminalamtes, Kriminellen könne die Verschleierung ihrer Identität zu leicht gemacht werden. Kern der geplanten Gesetzesnovelle ist die voraussetzungslose Änderungsmöglichkeit des amtlichen Geschlechtseintrags. Dagegen jedoch gibt es aus verschiedenen Ecken Kritik, auch von Personen, die formal zur LGBTI-Community gezählt werden können – zum Beispiel vom Autor dieser Zeilen. Mit der bisherigen Historie an gerissenen Deadlines ist es längst fraglich, ob es der Entwurf für ein Selbstbestimmungsgesetz in der bisher vorliegenden Form überhaupt unverändert durch alle Stationen des Gesetzgebungsverfahrens schafft. Die Zustimmung in der Bevölkerung für eine Lösung, die ganz ohne Sicherstellung auskommen will, dass nur die Personenkreise davon Gebrauch machen, für die es gedacht hat, dürfte eher gering ausfallen. Wahrscheinlich würde eine Umfrage dazu ähnliche Werte wie für das Gendern mit Sonderzeichen erzielen. Zuletzt zeigten Wahlen in Ländern wie Finnland und Spanien, in denen linke Regierungskoalitionen kürzlich eine vergleichbare Regelung beschlossen haben, dass dies nicht dabei hilft, Wahlen erneut zu gewinnen. In Großbritannien ändert nun die Labour-Partei ihre Haltung zu einem Selbstbestimmungsgesetz, indem sie davon abrückt.
Lehren aus der „Ehe für alle“
Es gäbe also Anlässe genug, den Raum für eine sachliche und differenzierte Auseinandersetzung über die beiden Themen „Gendern“ und „Selbstbestimmungsgesetz“ zu ermöglichen. Der Hamburger CSD hat sich hier anders entschieden. Dabei sollte man die Lehren aus der 2017 erfolgreich verabschiedeten „Ehe für alle“ ernst nehmen. Diese war dann erst gesetzlich durchsetzbar, als weite Teile der Bevölkerung dem positiv gegenüber standen, was sich auch in der CDU dadurch ausdrückte, dass sich wichtige Parteimitglieder dafür aussprachen. So kam es am 30. Juni 2017 zu dem inzwischen legendären Erfolg der entscheidenden Abstimmung im Bundestag, bei der die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel den Fraktionszwang aufhob – und selbst als Abgeordnete dagegen stimmte. In puncto Selbstbestimmungsgesetz ist eine ähnliche gesellschaftliche Stimmungslage nicht wahrnehmbar. Was aber ist für Transpersonen gewonnen, wenn eine gesetzliche Regelung und deren Ergebnisse nicht anerkannt werden? Ohne die Zustimmung der Union jedenfalls, ist kein nachhaltiger Wandel in Deutschland zu erzielen.
Till Randolf Amelung ist seit August 2023 Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations. Ansonsten ist er freier Autor mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen. Texte von ihm erschienen in wissenschaftlichen Sammelbänden, darunter das Jahrbuch Sexualitäten 2021 (Politische Hybris. Wie der Transaktivismus seine Erfolge zu verspielen droht) und 2022 (Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar? Ein Zwischenruf für die Berücksichtigung psychodynamischer Ansätze). In Medien wie der Jungle World, ZEIT Online, dem Schweizer Monat und der Siegessäule veröffentlichte er ebenfalls. 2020 erschien im Querverlag sein Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik; 2022 sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.
Transparenzhinweis für diesen Beitrag: Der Autor ist Mitglied der LSU – Lesben und Schwule in der Union, jedoch kein Parteimitglied der CDU.
Gedanken zum Tod des Journalisten und Autors Martin Reichert
Genügt es, wenn ein Mensch, ein Freund, ein Kollege stirbt, einen Nachruf zu formulieren und dann zurückzukehren in den Alltag? Aus Anlass des Todes von Martin Reichert hat unser Autor einen weiteren Nachruf verfasst. Denn es gibt noch viel zu sagen über Martin Reichert und seine Texte.
10. Juli 2023 | Von Jan Feddersen
In seiner Zeitung ist zu lesen, wie sehr seine Community, vor allem die in der taz, um ihn trauert: Martin Reichert hat sich Ende Mai 2023 in Berlin selbst aus dem Leben genommen. Nichts spricht dafür, buchstäblich kein Detail, dass er, aller Dystopie in seinem Kopf zum Trotz, dies nicht absichtsvoll ins Werk gesetzt hätte, sodass er auf keinen Fall beim Akt, der ihn in ein Nichts bringen sollte, zu leiden haben würde.
Er hinterlässt seinen Mann B., der verzweifelt das nicht zu Verstehende zu begreifen sucht. B. spielt, immer am Rand des eigenen Zusammenbruchs, die Musik der beiden, melancholische und immer auch dramatische Tonspuren, Annie Lennox hängt mir im Ohr, Adele auch, Lieder vom Balkan, Tina Turner natürlich: „Simply the Best“!
In der Fülle der Nachrufe und Erinnerungsschnipsel, in der taz wie auch bei seinem neuen Arbeitgeber, dem Spiegel, bei dem er im Februar 2023 im Kulturressort zu arbeiten begann, in kondolierenden Einträgen bei Facebook oder Twitter, ist selbstverständlich vom schwulen Mann Martin die Rede, er war ja nicht in the closet, im Gegenteil. Er hat für so gut wie alle Foren, Magazine und Onlineplattformen unserer Kreise geschrieben, 2018 gekrönt mit dem vielleicht bestrecherchierten Geschichte von Aids in Deutschland.
„Die Kapsel“ heißt das beim Suhrkamp-Verlag veröffentlichte Buch, eine so ergreifende wie gründliche Historie der schlimmsten – und über viele Jahre homophob aufgeladene – Epidemien, die die schwule Community seit den frühen Achtziger Jahren heimsuchen konnte.
„Gedöns mit Orientierung“
Ich habe Martin 2001 kennengelernt, als Redakteur der Wochenendbeilage der taz, dem damaligen taz.mag. Der junge Kollege, der mit einzelnen Texten, verfasst noch aus der Position des Studenten, zum journalistischen Ertrag der Zeitung beitrug, wollte in den Journalismus, oder wie er sagte: „Ich weiß ja sonst nicht, was ich mit meinem Studienabschluss machen soll.“ Geschichte und Kulturwissenschaften waren seine Fächer – aber Martin hätte auch ohne akademische Qualifikation den gleichen, höchst erfolgreichen, ja furiosen Weg ins Mediengewerbe geschafft und ihn dort bewältigen können.
Seine Spezialität als Journalist, „Gedöns mit Orientierung“, wie er mit seiner üblich süffisant-heiteren Art meinte, baute er aus: Er guckte nicht in die Nachrichtenagenturen und die politischen Fakten, sondern in die Welt schlechthin. Er konnte noch aus dem Umstand, dass junge Leute Umhängetaschen mit sich führen, sich einen Reim machen, später sogar ein erfolgreiches Buch: „Wenn ich mal groß bin: Das Lebensabschnittsbuch für die Generation Umhängetasche“.
Nachruf von Arno Frank auf Martin Reichert bei Spiegel Online | Screenshot: IQN
Was in den oft tränengesättigten, trauernden, wahrhaft wie noch unter Schock verfassten Texten nach seinem Tod allerdings unterging, war die schwule Welt, in der er lebte, die homosexuelle Perspektive, quasi das innere Motorbrummen des Martin Reichert selbst: Was trieb ihn im Innersten, diesen liebenswürdigen, hilfsbereiten und allzeit zugewandten Mann?
Das nämlich exakt waren Fragen, die sein hinter der öffentlichen Kulisse Befindliches betrafen – und mit Antworten zu diesen Fragen geizte er beinah umfassend. Sein Mann B. sagte, als noch alles auf dem Weg zum Besseren schien, besser: scheinen sollte, denn die psychische Krise dauerte schon einige Wochen: Sein Martin, der habe Angst. Furcht vor dem Versagen, dem Nicht-zu-Genügen, der persönlichen Zukunft und auch der Gegenwart schon – schlechthin.
taz2 und die Details des Alltags
Als wir uns kennenlernten, vor zwei Jahrzehnten, waren in der taz gerade redaktionelle Verhältnisse am Wachsen, die es ihm überhaupt ermöglichten, als Journalist zu arbeiten. taz2, die Gesellschaftsseiten jenseits des offiziell politischen Teils der Zeitung, waren die, wie manche bösartig bemerkten, „Spielplätze“ für solche, die politisch nix in der Birne haben. Nichts wäre falscher, denn in den Details des Alltags, des Gesellschaftlichen liegen Wahrheiten zum Politischen, die die oft hartlaibigen Politikberichterstattungen – die er freilich auch zu beherrschen lernte – ergänzten, mindestens dies.
In diesen Teilen unserer Publizistik schrieb er, in taz2 wie im taz.mag – kleinere Texte von stupender Kundigkeit, ja Brillanz, etwa auch in seiner Kolumne „Landmänner“, die aus heutiger Sicht wie ein Alarmanzeiger für die kommenden Ströme des Rechtspopulismus (auch) notierten, vordergründig aber lediglich oft lustig zu lesende Histörchen aus der Welt in den ländlichen Vorlandschaften Berlins schilderten, denn dort lebte er mit seinem ersten Mann.
Wir, in den ersten Jahren unserer Freundschaft in der Redaktion, bildeten einen „schwulen Raum“ in der Redaktion. Nicht, dass die linksalternative Tageszeitung taz auch ein homophob gewirktes Blatt gewesen wäre, das nur passager, womöglich aus Acht- und Achtungslosigkeit, aber in vielen Jahren waren selbst politisch hochbrisante Themen wie der Kampf für die Ehe für alle oder die Cancellung der Reste des Schandparagraphen 175 eher beiläufig wahrgenommen worden ), wenn überhaupt.
„Ehe?“, bemerkte eine frühere, durchaus feministisch orientierte Chefredakteurin einst, was für’n Unfug – wir Heteros wollen nicht mehr heiraten, und ihr wollt das unbedingt. Wir pflegten natürlich darauf zu erwidern, dass Heteros die Hässlichkeit antihomosexueller Haltungen nicht zu empfinden vermögen – aber sie konnte sich ja auf Kolleg*innen berufen, ebenfalls schwul oder lesbisch, die aus ideologischen, jedenfalls nicht politischen Gründen den Kampf für die Gleichstellung im Personenstandsrecht böse verkannten. (Und inzwischen, worüber wir sarkastisch lachten, selbst verheiratet sind, meist.)
Manchmal jedoch traf ihn eine Kritik böse, und er zeigte dies nicht. Er hatte vor vielen Jahren in Wien den schwulen Performer Hermes Phettberg interviewt, ein später in der Zeitung ergreifendes Dokument des Versuchs, einem schwulen Leben Auskünfte der Würde und Selbstwürdigung zu entlocken. Und was sagte ein heterosexueller Kollege in der Blattkritik vor großem Redaktionsforum, nachdem er das Interview in seiner Tonalität in die Tonne getreten hatte, durchaus auf Beifall des Kollegiats spekulierend, mit um Einverständnis heischendem Tremolo: „So etwas möchte ich nie mehr in der Zeitung lesen!“
Diese gewisse Aufgehobenheit
Martin Reichert und mir war dieser „schwule Raum“, durchaus mit Bezug auf die von uns verehrte politische Theoretikerin Hannah Arendt, sehr bewusst. Arendt hatte vor Jahrzehnten, darauf wies ihr Schüler, der schwule Begründer der Zeitschrift Stonewall, Michael Denneny hin, darauf beharrt, dass Jüd*innen in einem eigenen Raum lebten, leben müssen, darauf angewiesen, dass untereinander, in ihrer stigmatisierten Crowd, der politische Diskurs lebt, denn es geht ja immer (für sie zuallererst und zuletzt) ums Ganze: Wie überlebt man, missachtet und bisweilen brutal verfolgt, diese Atmosphäre der Unfreundlichkeiten und Entwertungen?
Lebte er noch, würden wir über den Text von Blake Smith diskutieren: Wie Hannah Arendts Ideen vom Zionismus half, den amerikanische gay identity zu beflügeln, also die Unruhen von „Stonewall“, die Unermüdlichkeit des Kampfs um öffentliche, sichtbare gesellschaftliche Teilhabe, ohne sich zu assimilieren, sich anzupassen, auf unsere Verhältnisse: schwul zu bleiben, nicht nur homosexuell.
Schwuler Raum, das meint eben diese gewisse Aufgehobenheit in einem ansonsten fremden Gefüge. Man konnte, nun ja, „schwul“ reden – rasch, smart, mit Wortwahlen, die durchaus bitchy sein konnten und nur im Zweifesfall sehr kalt und sehr bösartig. Über eine Kollegin, mittlerweile in den höheren Vierzigern, problematisch im Charakter (für uns, klar), sagte er mal: „Es ist erstaunlich, wie sehr es stimmt, dass die Persönlichkeitsentwicklung bei manchen mit der Pubertät ans Ende gekommen ist.“ Und lachten darüber!
Im Übrigen: Ich wusste, dass Martin mir immer loyal gegenüber sein würde – keine Selbstverständlichkeit, wie ich bei anderen (auch: schwulen, lesbischen) Kolleg*innen im Laufe der Jahre feststellen musste: Die Hand, die gab, im Gegenzug verratend und preisgebend zugunsten nickelig kleiner Vorteile – und ich ihm sowieso. Wir waren schwul, um mit Hannah Arendt, die dies für ihr Jüdisches so beantwortete: Ja, gucken Sie mich an – man sieht es doch. So wie uns das Schwule.
In diesem Raum konnten wir, was wir öffentlich nie taten, streiten. Immerhin. Wer mal in einer Gruppe als einziger Homo gearbeitet hat, wird wissen, was wir als Privileg hatten: einen schwulen Raum. Nicht allein sich fühlen. Doch different sein können. Und einig zugleich. Und verschieden in manchen Auffassungen. Und spontan einvernehmlich in der Wahrnehmung von Phänomen: Ist doch Quatsch, oder? – Ja, ist es. Ich lästerte gelegentlich: Sei nicht immer so versöhnlich!, Warum neigen gerade Schwule dazu, den offenkundigen Diss von Heteros (und Homos, oh ja) freundlich abzumoderieren?
Er traute den Liberalisierungen nicht
Ist es wirklich gut, dieser Hedonismus der schwulen Szene?, Dieser Sex an allen Ecken – und wofür steht eigentlich dieses dauernde Ungenügen mit der eben kennengelernten Person im Darkroom? Und stimmt nicht, was der schweizerische Psychoanalytiker Paul Parin 1985 in der Zeitschrift „Psyche“ als Beobachtung notierte: Dass Juden und Homosexuelle eint, so stellte er bei jüdischen Patienten und auch homosexuellen Patienten parallel fest, dass sie mit dem Gefühl lebten, nie festen Boden unter den Füßen zu haben, stets drohe Instabilität, immer ängstige, die Welt verschlinge einen, Flucht zwecklos? Er stimmte zu mit den Worten: „Geht es uns nicht auch so?“
Er traute, anders als ich, den Liberalisierungen, die queere Menschen in den vergangenen Jahrzehnten erkämpften, nicht. Manchmal stimmte er zwar zu, dass vieles errungen worden sei, Anerkennung, aber am Ende fürchtete er, fast mit jeder Phase seines Körpers, einen, wie er sagte „Backlash“ – eine Zeit, in der es wieder zwingend werde, sich klein zu machen, untertänig und versteckend.
Martin hätte niemals die schwule Szene, zumal die Metropole wie in Berlin nicht, für ihre umfassende Rauschwunsch-Anfälligkeit kritisiert. Einmal merkte ich an, als er schrieb, die Schwulen hätten sich 1969, als der Paragraph 175 in seiner Nazifassung ins Gewöhnlich-Homophobe, aber immerhin nicht mehr Strafbare für Volljährige reformiert wurde, das Recht erkämpft, Sex zu haben, dass das nicht stimmt. Homosexuelles Begehren wurde unter allen staatlichen und gesellschaftlichen Umständen gelebt worden – sonst wäre es ja etwa im Nationalsozialismus oder in den Nachkriegsjahren den Polizeien nicht gelungen, so viele unserer Vorfahren zu ‚erwischen‘, ihrer für ein Strafverfahren habhaft zu haben. Was die allermeisten Homosexuellen gleich welchen Geschlechts wollten, sei ganz klar: In Ruhe gelassen, nicht behelligt werden – ihre Art der Normalität ermöglicht bekommen. Er erwiderte, das sei ein karges Reformprogramm, und ich wiederum: Das ist ein höherer Berg, als wir, die wir eine bessere Welt wollen, uns vorzustellen vermögen. Aber das nur nebenbei vom Diskurs im „schwulen Raum“ …
Schwuler Selbsthass unnötig
So oder so: Er wollte, so stand es für ihn zur Wahl, nicht schreiben, dass die Exzesse, die hochfrequente Sexualisierung problematisch sein könnte – denn das hätten auch die Konservativen, die Homohasser gelesen und dies als Beweis für ihre Aversionen genommen. Und er hätte auch nie, viel zu nah womöglich an ihm selbst dran, über das geschrieben, worüber die schwule Szene in all ihren Nischen nie spricht: Einsamkeit, konkrete, im Einzelfall des Tages – oder auch genereller, dieses Gefühl, allein zu sein, nicht umgeben von Behütung und Aufgehobenheit. War es das, was für ihn selbst ein Tabu war, ja, sein musste: Das Gefühl von Weltverlorenheit?
Er war lieber als unermüdlicher Familienaufsteller unterwegs, weniger in den Mainstreamschuppen der Szene, bei den Coolen, wenn er es nicht zuhause aushielt und das Leben draußen viel spannender fand – und Leute kennenlernte, die durch ihn ein kleines, aber wichtiges Stück wärmer, aufgetauter wurden: Martin konnte ihnen vermitteln, dass schwuler Selbsthass nicht nur nicht lohnt, sondern ganz unnötig ist. Seine Mission – tragischerweise muss man schreiben: – war die Vermittlung, auch: die Familienaufstellung, immer mit dem Hinweis versehen, die andere Seite zu beachten. Was er suchte, war Heimat, ein Aufgehobensein, ein sicherer Grund auf der Welt. Das alles suchte er, indem er ging, immer eine Spur im Unruhigen, im eiligen Schritt, im Move stets fast forward.
Sein Herz hatten immer die Unfertigen, die (mit sich) Ringenden, die Verzweifelten, die er hinter lächelndsten Mienen erkannte, die ein Charles-Aznavour-haftes „Et pourtant“ anstimmen würden – und hier besonders die muslimischen, arabischen, türkisch oder jugoslawisch geprägten jungen Männer.
Felix-Rexhausen-Preis
Er war null abonniert auf Jugendlichkeit, sein erotisches Sprühen galt den Welpen, für die die Welt noch wenig Antworten, aber viele Fragen offenhielt. Kein Zufall, dass er sich in den schwulen Undergrounds des Irak im Nachkrieg aufhielt und dort, hoffentlich, Zuversicht stiftete – oder in Beirut, wo er über das (nicht gerade fromme) Nachtleben berichtete, er mittendrin, anteilnehmender Reporter. Später, 2006, erhielt er für eine Geschichte „Adieu Habibi“ den Felix-Rexhausen-Preis zuerkannt, zurecht. Das war zu der Zeit, als wir öfters über Israel – von ihm wie von mir geliebtes, faszinierendes Land – sprachen: Die Jüd*innen haben sich in diesem ihren Land einen Safe Space geschaffen, immer bedroht, militärisch hochgerüstet bewacht … Warum sollten es dies nicht für Schwule gelten? Für Lesben, für trans Menschen?
Eine Art Israel des Regenbogens, und dabei fiel uns, glamourverliebt, wie er auch war, natürlich ein: Monte Carlo! Minutenlang phantasierten wir, wie dieses Monaco aussähe, wäre es eine Art queeres Israel. Martin sagte bei dieser Gelegenheit: „Mit der Zeit könnte es eng werden, aber dann nehmen wir Nizza dazu.“ Ich darauf: „Okay, aber San Remo wäre auch noch schön.“ Woraufhin wir auf Youtube italienische Schlager suchten, in San Remo vorgetragen, beim Festival im Frühjahr dort, gern die Sängerin Mina mit ihrem melancholischen „Se telefonando“.
Was mir nur schemenhaft klarer wurde über all unsere Jahre der Freundschaft – mit allen Hochs und Tiefs – war, woher seine Energie rührte. Lag es daran, dass er mit seinem Schwulsein eigentlich extrem haderte? Dass er, Jahrgang 1973, sein Coming-out später als andere begann, zunächst ja in Heteroverhältnissen lebend, weil es für ihn ein Horror war, in Wittlich an der Lieser (Moselland!, nicht an der Mosel) womöglich der Aussätzige zu sein? Lag es an den elterlichen, väterlichen und mütterlichen Wünschen, in ihm, den Sohn mit besten akademischen Zukunftsaussichten, den ersten in der Familie, nur den heterosexuell Orientierten sehen zu wollen? Dass, typisch, ein schwuler Sohn ein Versager, ein Verräter an den Eltern ist?
Er bemerkte einmal, und meine Erfahrung sagte mir das Gleiche: Es sei normal, ja, typisch, dass Schwule über ihre Coming-outs reden können, aber so gut wie niemals über die drei bis fünf Jahren davor, wenn alles niederdrückt vor ungewisser Seelenzukunft, wenn das, wie Sigmund Freud gesagt hätte, das „Triebschicksal“ eine unhintergehbare Wahrheit ausmacht, dies aber nicht beherzt und mit Liebesfähigkeit beantwortet werden kann, zunächst?
Berlin, sein Asylort
Hannah Arendt berichtete im berühmten TV-Gespräch mit Günter Gaus über ihre antisemitischen Umstände als Kind, sinngemäss: Sie habe sich nicht geschämt, Jüdin zu sein – die Scham kroch auch nicht in sie hinein ob der damals üblichen antisemitischen Haltungen. Ihre Mutter habe jedoch von ihr verlangt, sich gegen Gleichaltrige in Konflikten auch durchzusetzen, nur bei Lehrern sei ihre Mutter eingeschritten, ihre Tochter schützend. Der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker bemerkte zu dieser ikonischen Stelle des Gesprächs Hannah Arendts: Die Jüdin konnte psychisch die antisemitischen Attacken aushalten, weil sie im Elternhaus behütet war – der schwule Heranwachsende aber kann sich auf diesen elterlichen Schutz prinzipieller Art nicht verlassen: Der schwule Mann vor dem Coming-out weiß, dass er – oder sie, im lesbischen Fall – auf der Welt ganz allein ist, wenn schon die Eltern nicht an der Seite stehen. Allein ist – und sehr oft, ja meist bleibt.
Nachruf auf Martin Reichert von Jan Feddersen bei taz.de | Screenshot: IQN
Er war, so versuche ich es zu begreifen, in Berlin, seinem Asylort, auf der Suche nach Heimat. Und fand sie persönlich und sehr konkret in seinem ihn liebenden Mann B., den er vor einigen Jahren, beinah ohne jede Wahrscheinlichkeit, das Berliner Szeneleben ermöglicht kaum Momente des Verweilens und Innehaltens, kennenlernte, ja, der quasi wie ein Glück ins Leben geweht wurde. Beide lernten die Segnungen eines ruhigeren Lebens kennen, ja, sie bauten sich in Berlin, später in B’s Heimat Slowenien, dort in Koper an der Adria, Nester, ihre gemeinsamen Orte. Wie Martin mir vor Jahren, gerade hatte er seinen Liebsten ‚erkannt‘ erzählte: „Er brachte mir geschnittenes Obst ans Krankenbett. Geschnittenes Obst!!“ Und ich lachte vor Glück ein wenig mit ihm mit. Es war, so zitierte er das Lied leicht anträllernd, als sänge ihm Dahlia Lavi ein „Willst du mit mir geh’n?“
Nun denke ich an nichts anderes als an ihn. Hätten wir uns nicht endlich mal wieder treffen sollen? Hätten wir nicht nur en passent miteinander sprechen sollen, sondern, ganz unüblich in der Metropole wie Berlin, mal in einen Open-Space-Modus schalten sollen, nicht nur im „Ich muss gleich los“-Umstand? Lese ich die weinenden Nachrufe, könnte ich ihm, absurd, ich weiss, diese vorlesen, würde ich ihn fragen: Warum bist Du nie wütend geworden? Weshalb sind die Zumutungen, denen Du Dich öfters ausgesetzt sahst, nicht ein einziges Mal als solche zurückgewiesen worden? Was hindert Dich, mal so richtig aus der Haut zu fahren?
Alle Nachrufe, alle letzten Worte auf ihn sind von warmer Herzlichkeit, von Trauer umrahmt. Aber darf man sagen, dass Martin, so typisch für ihn, für alle ein Herz hatte, dass er sie beinah fürsorglich zu therapieren suchte – auch, um von sich nichts preiszugeben, von seinen Ängsten? Kannte man ihn wirklich? Mich beschleichen Zweifel: Was hast du uns nicht zeigen wollen, Martin?
Er konnte nicht mehr
Er war, vielleicht, auch eine „Kapsel“, so gut verschlossen, wie die Traumen von Aidsüberlebenden, die von Horror (sein Text zum 2. Coming-out von Conchita Wurst) befallen waren, weil sie als Aidsinfizierte öffentlichen Nachstellungen ausgesetzt waren – eventuell in dem Horror auch gespiegelt, dass sie selbst Aids, heute keine schöne, aber managebare Infektionskrankheit, die nicht mehr tödlich wirkt binnen kürzestem, als Strafe fürs Schwulsein empfanden?
Wütend werde ich, weil ich Martin übelnehme, sich in unserem „schwulen Raum“ meinen, ja, unseren Fragen nicht mehr zu stellen. Er konnte aber nicht mehr, ich muss das akzeptieren. Ist möglich, so ertappe mich ich bei meinen ewigen Grübeleien über ihn, die nur Mutmassungen sein können, dass die Entschlossenheit, mit der er seinem Leben ein Ende setzte, auch die wütendste Geste war, zu der er je fähig war – leider, tragischerweise gegen sich selbst?
Ich habe keine Mahnungen zu formulieren, Martins Tod macht keinen Sinn, schon gar keinen allgemein gültigen. Doch wäre es nicht lohnend, die Feier des Hedonistischen mal in ihren Epen zwischen den Zeilen zu lesen? Könnte es nicht Gewinn bringen, mal fundierter denn je die liberalen Zeiten und ihre fatalen Voraussetzungen, Elternhäuser, die schwule oder lesbische oder trans Kinder eher nicht so mögen, unter die Lupe zu nehmen? Und langweilt die zeitgenössische Forschung zu Schwulem und Lesbischem auch deshalb, weil diese partout nicht an die entscheidende Konstellation in ‚queeren‘ Leben heranwill: in die der Familien, den Gehegen, in denen wir groß wurden, in denen uns beigebracht wurde, bis in die letzte Zelle, dass Schwules oder Lesbisches nicht erwünscht ist?
Ist queere Forschung, so mutmaßte Martin mal, nicht im Mainstream ein hochsubventioniertes Ablenkungsmanöver, um sich den naheliegenden Fragen nicht zu widmen: Die Genese tief wurzelnder Homophobie in unseren Familien, wo die Unerwünschtheit unserer Liebesfähigkeit und unseres Begehrens fein mit rötesten Linien markiert ist?
Er liebte, er wurde wiedergeliebt, aber das reichte nicht für ein Leben, das ihm noch sehr gut möglich gewesen wäre. Stehen wir seinem Witwer, seinem Liebsten B. bei. Er ist nun verzweifelter, als es Martin je gewollt haben kann. |
Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sollten Sie von Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Bei der Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner, auch anonym. Rufnummern: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.
Selbstbestimmungsgesetz: Wird der Bademeister zum Gutachter?
Die Ampel-Koalition hat ihren Entwurf zum neuen Selbstbestimmungsgesetz vorgelegt. Seither ist offener Streit über den Inhalt entbrannt. Doch was steht da eigentlich wirklich drin und was hat es zu bedeuten? Für Queer Nations hat sich Till Randolf Amelung, Autor im Jahrbuch Sexualitäten, den Entwurf genauer angeschaut. Darf der Bademeister zukünftig wirklich in die Hose gucken? Einige Antworten auf häufige Fragen.
Von Till Randolf Amelung
Queer Nations, 05.05.2023 | Nun ist er also doch noch gekommen – der Entwurf für das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz, mit dem das in die Jahre gekommene Transsexuellengesetz (TSG) abgelöst werden soll. Nachdem bereits mehrere Termine nicht gehalten werden konnten und der Unmut in der queeren Community immer lauter wurde, gaben Familienministerin Paus (B’90/GRÜNE) und Justizminister Buschmann (FDP) am letzten April-Freitag den Entwurf an die Presse. Die Inhalte des Entwurfs haben sich im Grundsatz von den im vergangenen Juli präsentierten Eckpunkten entfernt.
Kern der anvisierten Reform ist die Streichung jedweder Nachweispflichten, der reine, unhinterfragte Sprechakt im Standesamt soll künftig für die Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags genügen. Im Gegensatz dazu setzt das TSG bis heute zwei unabhängige Sachverständigengutachten voraus.
Klagen gegen Begutachtung erfolglos
Während bereits mehrere Bestimmungen im TSG durch das Bundesverfassungsgericht außer Kraft gesetzt wurden, zuletzt 2011 der Nachweis von Fortpflanzungsunfähigkeit und weitmöglicher operativer Angleichung, waren Klagen gegen die Gutachten bislang erfolglos. Zum Preis der Begutachtung ermöglichte das TSG rechtlich eine sehr weitreichende Gleichstellung. Mit dem Selbstbestimmungsgesetz soll diese Vorgabe nun ersatzlos entfallen.
Seit der Bekanntgabe dieser Reformpläne gibt es daran insbesondere von Radikalfeministinnen scharfe Kritik, die geplante Regelung ermögliche Missbrauch und schaffe Konflikte in Bereichen, die nach dem biologischen Geschlecht getrennt sind. Zum Jahreswechsel 2022/23 ließ Buschmann erstmals in einem Interview verlauten, dass die Arbeit an einem Gesetzesentwurf noch andauere, da man es privaten Betreibern weiterhin ermöglichen wolle, in bestimmten Situationen über das Hausrecht auf das biologische Geschlecht abzustellen, wie zum Beispiel in einer Frauen-Sauna. Familienministerin Paus verkündete hingegen, das Selbstbestimmungsgesetz solle noch vor der Sommerpause verabschiedet werden.
Während ein Veröffentlichungstermin für einen Entwurf immer wieder verschoben wurde, ließen sich Differenzen zwischen den beiden Häusern nicht mehr übersehen und wurden in den letztlich doch veröffentlichten Entwurf hineingeschrieben. Mindestens eines der beiden beteiligten Ministerien ist von der reinen Sprechakt-Lehre offenbar abgerückt.
Begutachtungskompetenz für den Bademeister?
So soll dem Entwurf zufolge zwar volljährigen Menschen grundsätzlich eine Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags ermöglicht werden – ohne Nachweis, ob man tatsächlich zu dem Personenkreis gehört, für den das Gesetz gedacht ist –, aber es wurden Ausnahmen formuliert.
Im Spannungs- und Kriegsfall soll das Gesetz bei biologisch männlichen Personen nicht zur Anwendung kommen, um zu verhindern, dass sich wehrfähige Männer dem Heldentod fürs Vaterland entziehen. Bei Quotenregelungen für die Besetzung von Vorständen soll der Geschlechtseintrag bindend sein, der zum Zeitpunkt der Besetzung in der Geburtsurkunde aktuell ist. Der Hausrechtverweis bei strittigen Zugangsforderungen zu Frauenräumen ist ebenfalls hineingeschrieben worden. Somit würde sich künftig die Begutachtungskompetenz von Psychologen und Sexualmedizinern hin zu Bademeistern und Kreiswehrersatzämtern verlagern. Diskriminierungen sind dabei ebenfalls nicht auszuschließen.
Missbrauch als Einzelfälle abgetan
Der Entwurf wollte zwei Pferde gleichzeitig reiten: Transaktivisten die geforderte Reform geben und Sicherheitsbedenken von Frauen begegnen. Regelungen zur Änderung von Vornamen und Geschlechtseintrag für Transpersonen ohne Nachweispflicht gelten seit den Yogyakarta-Prinzipien von 2007 als Goldstandard. Verweis auf Missbrauchsrisiken mit Fallbeispielen werden als Einzelfälle abgetan. Vor einigen Jahren gab Menschenrechtsexperte Robert Wintemute, der 2007 ebenfalls in Yogyakarta an den Prinzipien mitwirkte, gegenüber einem radikalfeministischen Blog zu, dass mögliche Konflikte mit Rechten von Frauen damals überhaupt keine Rolle spielten.
Welchen Sprengstoff schwierige bis missbräuchliche Fälle gerade in sensiblen Bereichen bergen können, musste unlängst die zurückgetretene schottische Ministerin Nicola Sturgeon erfahren, als sie auch über den Fall Isla Bryson stolperte. Bryson wurde wegen sexueller Gewaltdelikte zu einer Haftstrafe verurteilt und wollte mutmaßlich mit einem Coming out als Trans der Unterbringung im Männerstrafvollzug zu entgehen. Auch die Grünen waren auf der kommunalen Ebene mit einem Parteimitglied konfrontiert, welches sich zur Frau erklärte, offenbar um gegen die geschlechterpolitischen Regelungen der Partei zu agitieren. Der Fall landete vor dem Bundesschiedsgericht der Grünen, welches entschied, dass die Äußerung über die Geschlechtszugehörigkeit Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit voraussetze. Wie und durch wen das festgestellt werden soll, blieb offen.
Uneinsichtigkeit der Aktivisten gefährdet Offenheit
Ein Verfahren zur Änderung des Geschlechtseintrags ganz ohne Nachweis haben zu wollen, ist vermessen, vergleicht man es mit anderen Regelungen. Für den Erhalt eines Schwerbehinderten-Status‘ muss ebenfalls nachgewiesen werden, ob man die Kriterien erfüllt. Auch die Annahme einer anderen Staatsbürgerschaft ist mit Auflagen verbunden. Staat und Gesellschaft haben ein berechtigtes Interesse daran, das Gemeinwohl zu schützen und den gesellschaftlichen Frieden zu wahren. Dazu gehört auch die Sicherstellung, dass nur dazu berechtigte Personenkreise eine Regelung nutzen.
Bisher war die Gesellschaft offen für Regelungen, die es Transpersonen nicht unzumutbar schwer machen, aber zugleich eben nicht naiv gegenüber Missbrauch sind. Durch die verkorkste Umgangsweise der Politik und die Uneinsichtigkeit der Aktivisten könnte aber auch diese Offenheit schwinden. Das wäre ein gewaltiger Rückschritt, den doch eigentlich niemand wollen kann.
Ebenso sollte anerkannt werden, dass das biologische Geschlecht für die meisten Menschen nach wie vor eine relevante Tatsache ist, die nicht durch reine Sprechakte obsolet wird. Hier gilt es einerseits, bisherige Gesetze zu überprüfen, wo bislang das biologische Geschlecht zugrunde liegt, inwieweit das weiterhin erforderlich ist und dies andernfalls zu ändern. Andererseits wird nicht alles per Gesetz regelbar sein, sondern von allen Beteiligten Empathie, Toleranz und gegenseitige Rücksichtnahme erfordern – auch seitens der Aktivisten. Wer als Teil der Gesellschaft anerkannt werden will, darf nicht nur um den eigenen Bauchnabel kreisen. |
Till Randolf Amelung ist freier Autor mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen. Texte von ihm erschienen in wissenschaftlichen Sammelbänden, darunter das Jahrbuch Sexualitäten 2021 (Politische Hybris. Wie der Transaktivismus seine Erfolge zu verspielen droht) und 2022 (Ist Psychotherapie mit den Menschenrechten von Transpersonen vereinbar? Ein Zwischenruf für die Berücksichtigung psychodynamischer Ansätze). In Medien wie der Jungle World, ZEIT Online, dem Schweizer Monat und der Siegessäule veröffentlichte er ebenfalls. 2020 erschien im Querverlag sein Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik; 2022 sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.
Kampf um den Leib – Über Stephan Wackwitz‘ „Unsere intellektuellen Körper“
Im Jahrbuch Sexualitäten 2022 dachte Stephan Wackwitz in einem Essay anhand von Büchern über und von Susan Sonntag über das Spannungsfeld von Körperlichkeit und Intellektualität nach. Ute Cohen hat den Text für queernations.de Premiere gelesen und besprochen.Weiterlesen
Kreisch – damals und heute | Emily Lau zu Texten des Jahrbuchs Sexualitäten 2022
Kein Jahrbuch Sexualitäten ohne Miniaturen, den gleichermaßen persönlichen wie engagierten Auseinandersetzungen mit aktuellen Themen der queeren Welt.Weiterlesen
Sommerfrisch und bereit für Neues: Was wir in den nächsten Monaten planen
Noch bringt uns der Hochsommer ins Schwitzen, doch wir planen bereits eine Vielzahl an Veranstaltungen für den Spätsommer und Herbst. Zeit für ein Update.
Queer.de und das Scheitern von E2H: Provinziell geht in Berlin immer
Ein Beitrag der Online-Illustrierten Queer.de versucht das Scheitern des Berliner Projekts Queeres Kulturhaus E2H zu beleuchten. Dazu einige Klarstellungen des IQN-Vorstands und E2H-Ideengebers Jan Feddersen.
Foto:Unsplash/Mark König
08.03.22 | Von JAN FEDDERSEN
Bei der Kölner Online-Illustrierten Queer.de wurde Ende 2021 der Text des Berliner Szeneautors Dirk Ludigs veröffentlicht, der sich mit der Geschichte des von uns, der Initiative Queer Nations, ins Leben gerufenen Projekts eines „Queeren Kulturhaus“ (E2H) in Berlin befasst – und vorgibt, die Gründe zu benennen, die zum Scheitern des E2H führten.
Vorangegangen war diesem Text ein Facebook-Posting des Autors dieser Zeilen, der den im späten Herbst 2021 veröffentlichten neuen Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und Linkspartei für die Stadt Berlin charakterisierte. Dass nämlich in diesem Werk jeder Hinweis auf weitere Planungen zu einem E2H oder gar zu einem „Queeren Archivhaus“ fehlt.
Queerpublizistisches Novum
Tatsächlich nahm dies offenbar Ludigs zum Anlass, über das rot-grün-rot-verblichene Projekt berichten zu wollen: In der queeren Publizistik war dies insofern ein Novum, als weder das Berliner Anzeigenblatt Siegessäule noch andere Medien über E2H auf eine Weise zu reagieren wussten, die wenigsten die angesichts der ausgelobten finanziellen Mittel für E2H objektive Relevanz des Queeren Kulturhauses respektieren: Mit einer Startbudgetierung allein für ein Haus von schätzungsweise 20 Millionen Euro (Stand Ende 2020) war das E2H, in Euro gemessen, der gewichtigste queere Plan der Hauptstadt (und darüber hinaus), wesentlich befördert durch die Senatsbehörde für Kultur und Europa mit Bürgermeister Klaus Lederer (Linkspartei) an der Spitze.
Herausgekommen ist mit Ludigs Text ist ein halbgares bis allenfalls semi-wahres Sammelsurium zum und über das E2H und die Initiative Queer Nations. Man kann Ludigs, der im Rahmen seiner Recherchearbeit den Autor dieser Zeilen immerhin per Mailkorrespondenz anhörte, allerdings zugute halten, dass er Ton und Stil der Online-Illustrierten Queer.de durchaus perfekt getroffen hat. Wer sich mit der Genese der Geschichte des E2H detaillierter auseinandersetzen mag, ziehe das Jahrbuch Sexualitäten 2021 zurate, wo die früheren Vorstandsmitglieder des Queeren-Kulturhaus-Projekts, Peter Obstfelder und der Autor dieser Zeilen, ausführlich mit einer Fülle von Belegen notiert haben (PDF), was die Sache namens E2H war.
Indes, es lohnt sich einige der im Ludigs-Text neu hinzugekommenen Behauptungen genauer zu betrachten:
Zur Sprache kam im Text das alte taz-Haus an der Rudi-Dutschke-Straße 23 und dessen bevorzugte Wahl als mögliches Gebäude für ein Queeres Kulturhaus. Klarzustellen ist hierzu, dass bei einem Kolloqium im Berliner Abgeordnetenhaus mit überwältigender Mehrheit der Projektbeteiligten damals (Lesbenarchiv Spinnboden, Magnus Hirschfeld Gesellschaft, Feministischen Archiv FFBIZ, die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, die Arbeitsstelle für die Kulturgeschichte der Sexualitäten an der Humboldt Universität in Berlin u.a.) entschieden wurde, sich auf das taz Haus als künftigem Standort für ein Queeres Kulturhaus zu verständigen. Die Geschäftsführung sowie die Genossenschaft der taz erklärten sich im Gegenzug bereit, trotz anderer Mietinteressenten an der taz-Immobilie, diese dem queeren Projekt zur Verfügung stellen zu wollen: An jener Abstimmung hat mit Absicht der Autor dieser Zeilen, der auch Mitarbeiter der taz ist, nicht teilgenommen.
Den Leser*innen nicht berichtet
Schlichtweg falsch ist zudem die Behauptung, dass den queeren Archiven keine Zeit eingeräumt wurde, so Ralf Dose von der Magnus Hirschfeld Gesellschaft, im Rahmen der E2H-Förderung durch den Kultursenat etwas zum Ausstellungswesen beizutragen. Tatsächlich oblag es dem E2H-Vorstand, ausweislich der Projektförderung, ein Programm für ein E2H zu entfalten, als existiere ein Queeres Kulturhaus bereits – die queeren Archive hingegen wollten wesentliche Teile der Senatsfördersumme für eigene, nicht ans E2H-Projekt gebundene Pläne. Dies wiederum war gemäß der erlassenen Förderbescheide strikt unzulässig.
Den Leser*innen nicht berichtet wurde im Queer.de-Text, dass die queeren Archive wie auch die Vertreter der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld sich im Koordinationskreis des E2H entweder Arbeitszeit nahmen oder Förderung durch staatliche Stellen beantragten und bewilligt bekamen, um überhaupt an den Koordinierungstreffen teilnehmen zu wollen – mit welchen (anderen) inhaltlichen Begründungen auch immer. Kurz gesagt: Während die ehrenamtlichen Kräfte im Projekt bis zum Ende ihre private Zeit für das E2H aufbrachten, auch und gerade die Vorstandsmitglieder Christiane Härdel, Lily Kreuzer und der Autor dieser Zeilen, ließen sich die sowieso schon alimentierten Beteiligten quasi jede Minute Arbeit am Queeren Kulturhaus bezahlen – nur um das Projekt dann scheitern zu lassen.
Unerwähnt blieb bedauerlicherweise auch – nicht mangels Phantasie, dies wurde Dirk Ludigs ausführlich geschildert –, dass das Queere Kulturhaus, wiederum unterfüttert durch die geldgebende Kulturbehörde, nicht als „Queerer Leuchtturm“ zur Subventionierung ohnehin schlecht strukturierter Archive und Vereine gedacht war, sondern als hauptstädtische Immobilie, die über die aktivistischen Kerne hinaus queere Menschen (und ihre Freund*innen) zu erreichen hatte und zu interessieren suchte. Ein Queeres Kulturhaus – nicht als Futtertrog der ohnehin Subventionsgierigen (oder, je nach Lesart, -bedürftigen), sondern als metropoles Stadtmöbel, das sich über die queeren Szenen der Berliner Provinz hinaus zu profilieren weiß.
Provinziell Gesinntes
Neben diesen Ergänzungen des Faktischen sei eine Stilkritik erlaubt: Insgesamt verblüfft der Text durch sein – in Ermangelung passenderer Begrifflichkeiten – „szeneastisches Gewölk“. Also durch die Unfähigkeit, queeres (mithin: schwules, lesbisches, trans) Leben jenseits der Bubble der kultur-polit-sozialtherapeutischen Szene vorzustellen. In der Tat klingt das Ganze dann wie eine missgünstig formulierte Abrechung im zänkischen Stil – als Bilanz von Querelen innerhalb der aktivistischen Szene(n). Es handelt sich mithin um eine sogenannte Recherche mit queeristischen Politaktivist*innenblüten, beifallheischend im Ton, hämisch im Klang: Provinziell Gesinntes geht offenbar (nicht nur) in Berlin immer.
Die Initiative Queer Nations, die sich 2005 gründete, um, partei- und NGO-fern, das zu ermöglichen, was 2011 die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld werden konnte, muss akzeptieren, dass es für ein Queeres Kulturhaus in Berlin in der aktivistischen Szene keine oder kaum Gewogenheit gab: Man wollte lieber weiter im eigenen Saft vor sich hin gären. Die Chance, sich eine stabile Existenz mit einem 20 Millionen Euro geförderten Projekt zu sichern und, fast wie nebenbei, noch zentraler Bestandteil eines weltweit einzigartigen Kulturorts zu werden, ist vertan. Wahrscheinlich für lange Zeit. Ich als Erster – bedauere das zutiefst. Was ist aus der nicht-heterosexuellen Bewegung Berlins bloß geworden?
Jan Feddersen ist Gründungsvorstand der Initiative Queer Nations. Trotz des hier beschriebenen Unglücks halten er und die anderen Mitglieder des Vorstands der Initiative Queer Nations ausdrücklich weiterhin an der Idee eines queeren Kultur- und Denkortes für Berlin fest.
Auf dieser Seite verwenden wir den Recaptcha-Dienst von Google und an manchen Stellen Social-Media-Inhalte. Entsprechend fallen leider Cookies an. [cookies_policy_link]
This website uses cookies to improve your experience while you navigate through the website. Out of these, the cookies that are categorized as necessary are stored on your browser as they are essential for the working of basic functionalities of the website. We also use third-party cookies that help us analyze and understand how you use this website. These cookies will be stored in your browser only with your consent. You also have the option to opt-out of these cookies. But opting out of some of these cookies may affect your browsing experience.
Necessary cookies are absolutely essential for the website to function properly. This category only includes cookies that ensures basic functionalities and security features of the website. These cookies do not store any personal information.
Any cookies that may not be particularly necessary for the website to function and is used specifically to collect user personal data via analytics, ads, other embedded contents are termed as non-necessary cookies. It is mandatory to procure user consent prior to running these cookies on your website.