Kategorie: Allgemein

Judenhass im queeren Gewand

Antisemitischer Mob bedroht jüdische Queers auf Soliparty des Dyke March Berlin

Hat der Dyke March ein Antisemitismusproblem? Ein Vorfall auf der Soliparty am 8. Juli lässt Fragen aufkommen, wie sicher die Parade für lesbische Sichtbarkeit für jüdische Teilnehmer*innen ist.

Eine Person steht mit dem Rücken zur Kamera und trägt eine Regenbogenflagge mit Davidstern.
Wie sicher sind Pride-Veranstaltungen für jüdische Queers? (Foto von Levi Meir Clancy auf Unsplash.)

13. Juli 2024 | Till Randolf Amelung

In Europa, die ehemaligen Ostblockstaaten ausgenommen, sorgen vermehrt antisemitische Vorfälle und Übergriffe seit dem 7. Oktober 2023 für Angst unter Jüdinnen und Juden, wie eine aktuelle Befragung der EU-Agentur für Grundrechte sichtbar macht. Die Reaktionen auf den Hamas-Terror haben offenbart, wie weit verbreitet Antisemitismus, getarnt als Israelhass, in vielen Teilen vor allem der progressiven Milieus ist. 

Jüngster Eklat: am Abend des 8. Juli in Berlin auf der Soli-Party des Dyke March Berlin im Kreuzberger Szenelokal „Möbel Olfe“, die, wie es sich selbst beschreibt, „Trinkhalle am Kotti“, eine Art abendliche Zentrale der queeridentitären Szene. Bei dem Dyke March Berlin handelt sich um eine Demo für lesbische Sichtbarkeit, die seit 2013 am Tag vor der großen CSD- und den anderen, kleineren Paraden stattfindet.

Mit der Soliparty in der „Olfe“ wollten die Veranstalterinnen des Dyke March Gelder für die Finanzierung ihrer Demo  sammeln, doch bereits vor Mitternacht musste die Party abgebrochen werden. Grund waren aggressive Angriffe von Pro-Palästina-Aktivistinnen auf eine kleine Gruppe jüdischer Queers und ihre Unterstützerinnen.  Auf dem Online-Magazin „Aviva“ ist ihre ausführliche Darstellung der Ereignisse zu finden. 

Zur Vorgeschichte: Ein Instagram-Posting weckt Zweifel

Einige Tage vor dem Abend entdeckten die jüdischen Queers auf Instagram einen inzwischen gelöschten Beitrag auf dem Account des Dyke March, in dem es hieß: „This year’s theme of Dyke March Berlin is LOVE DYKES – FIGHT FASCISM. This means we explicitly oppose the German, European and global rise of the far right, oppose racism, antimigration mobilizations, antisemitism, islamophobia, settler colonialism, genocide and apartheid. We stand with all the oppressed globally.“ Garniert wurde der Beitrag noch mit Wassermelonen-Emojis, die zum Symbol des antiisraelischen Pro-Palestine-Aktivismus geworden sind.

Der wieder gelöschte Instagram-Beitrag des Dyke March (Foto: Aviva).

In diesem Insta-Post zählte der Dyke March pflichtschuldig auch „Antisemitismus“ mit auf, aber die weiteren Begriffe, etwa „Siedlerkolonialismus“, „Apartheid“ und „Genozid“, mit denen die inzwischen gängige Verleumdungen gegen Israel und seinen Kampf gegen den Hamas-Terror kolportiert werden, ließen in Verbindung mit den Wassermelonen erahnen, dass sich dies als Lippenbekenntnis entpuppen könnte.

Die jüdischen Queer und ihre Begleiterinnen hatten daraufhin Sorge, dass der Dyke March für jüdische Menschen und Israelis nicht sicher sein wird, weshalb sie den Kontakt zu den Veranstalterinnen suchten. Diese hätten zugesichert, dass alle kommen und mitlaufen könnten.

Rote Hamas-Dreiecke auf der Werbung

Der Flyer für die Soli-Party

Doch nicht nur dieser Instagram-Posting hat Zweifel an der Sicherheit für jüdische Queers aufgeworfen, auch die Werbung für die Soliparty in der „Olfe“ verstärkten diese. Die umgedrehten Dreiecke neben dem Schriftzug „Möbel Olfe“ sind üblicherweise gelb koloriert. Auf der Werbegrafik waren diese Dreiecke plötzlich in rot zu sehen – und ähnelten dem auch in Berlin oft zu sehenden Dreieck der Hamas-Propaganda, mit dem zu vernichtende Ziele gekennzeichnet werden. Seit dem 7. Oktober wird es auch als Symbol der Solidarität mit dem eliminatorischen Antisemitismus der Palästinenser verwendet.

Diese problematische Symbolik wurde von den jüdischen Queers und ihren „Allies“ ebenfalls angesprochen, doch von den Veranstalterinnen als Überinterpretation abgetan. Doch auch die Werbung für den Dyke March selbst lässt aufgrund ihrer Farbgestaltung, die an die Palästina-Flagge erinnert und ein rotes Dreieck beinhaltet, Fragen aufkommen.

Werbung für denn Dyke March Berlin 2024

Jüdische Sichtbarkeit sorgt für Eskalation

Die Gruppe habe beschlossen, trotzdem zur Party in die „Olfe“ zu gehen und dabei als jüdische Queers mit Unterstützerinnen sichtbar zu sein.  Dazu legten sie ein Plakat mit der Aufschrift „safe table for Jews and Israelis“ auf ihren Tisch und hängten eine Regenbogenflagge mit Davidstern auf.

Diese Sichtbarkeit sorgte dann offenbar für die weitere Eskalation, wie im „Aviva“-Bericht zu lesen ist: Es habe mit vereinzelt bösen Blicken begonnen, und im Verlauf des Abends seien immer mehr Gäste mit Palästinensertuch gekommen. Schließlich habe eine Mitarbeiterin der „Olfe“ verlangt, die Flagge wieder einzupacken, und eine weitere Person in einem weißen Hemd habe geschrien, „dass in der Möbel Olfe kein Platz“ für sie sei und das Olfe sich darüber einig sei. Eine Person aus der angegriffenen Gruppe fragte zurück: „In der Olfe gibt es keinen Platz für Juden und Jüdinnen?“ Sowohl die Mitarbeiterin der Olfe als auch die Person neben ihr hätten geantwortet, dass hier kein Raum für die offen jüdische Gruppe sei.

Man wolle in der „Olfe“ keine nationalistischen Symbole sehen. Die Gruppe trug jedoch nur die Regenbogenflagge mit Davidstern und erklärte, dass dies das Symbol für queeres Judentum sei. Hingegen seien die Personen mit den Palästinensertüchern – naheliegend als nationalistische Symbole erkennbar – nicht gebeten worden, diese einzupacken.

Weitere Eskalation

In der Beschreibung der jüdischen Queers und Allies auf „Aviva“ heißt es weiter: „Ca. 50 Personen haben sich inzwischen vor der Gruppe versammelt. Sie sagten, die Gruppe dürfe hier nicht sein. Sie wurden von der Menge als ‚Zionistenschweine‘, ‚zionist rapists‘, ‚Faschisten‘ und ‚genocide supporters‘ beschimpft, mehrfach aufgefordert zu gehen und bedrängt.“  

Eine Person habe versucht, die Regenbogenflagge mit dem Magen David vom Tisch zu reißen und das Plakat wegzunehmen. Jemand fragte die Person im weißen Hemd, ob sie die BDS-Bewegung unterstütze, worauf diese gesagt habe: „Ja, ich stehe dahinter“.

Weiter heißt es im Bericht der angegriffenen Gruppe: „Die Menge stimmte schließlich im Chor ‚Free, free palestine‘ und ‚shame on you‘ an, zwischendurch wurde die Gruppe der jüdischen Personen und Allies immer wieder als Faschisten beschimpft. Sie wurden dann schließlich von der Dyke* March Orga aufgefordert zu gehen, damit der Abend weitergehen könne. Als sie sich weigerten, wurde wieder ein ‚shame on you‘-Chor angestimmt.“

Die Party wird beendet

Schließlich habe die Veranstalterin entschieden, die Party zu beenden. Die jüdischen Personen seien wieder als Erste aufgefordert worden zu gehen, obwohl sich inzwischen auch draußen vor der Tür eine Menschenmenge angesammelt habe. Diese hätten von außen an das Fenster geschlagen und bedrohende Gesten gezeigt.

Anstatt ein sicheres Verlassen zu gewährleisten, hätten Barpersonal und Veranstalterinnen die Gruppe weiter beschimpft. Als sie auf die aufgebrachte Menschenmenge vor der Tür hinwiesen, seien sie ausgelacht und gefragt worden, ob sie denn Angst hätten. Nachdem mehrfach Hilfe verweigert worden sei, habe die Gruppe schließlich selbst die Polizei gerufen. Das „Olfe“-Personal und die Veranstalterinnen hätten der Gruppe vorgeworfen, sie hätten die Situation provoziert und seien „schuld daran, dass die Party abgebrochen werden musste“. Die Veranstalterinnen hätten außerdem noch „ihr habt uns den Abend ruiniert“, „ihr seid unsolidarisch“ gesagt. Schließlich sei die Polizei gekommen und habe die jüdischen Queers und ihre Begleitungen aus der bedrohlichen Situation befreit.

Zunächst kein Statement vom Dyke March

Während die angegriffene Gruppe die Geschehnisse von Montagabend zeitnah öffentlich zu machen versuchte, fehlte hingegen zunächst ein Statement des Dyke March. Doch nachdem das Portal „Aviva“ am 10. Juli den Bericht der angegriffenen Gruppe veröffentlichte, es bereits am Vortag in der „taz“ eine Meldung gab und der „Tagesspiegel“ schließlich auch noch berichtete, konnte die Dyke-March-Orga nicht länger versuchen, den Vorfall auszusitzen. Am 12. Juli veröffentlichten sie ein Statement auf Facebook und Instagram sowie später auf der eigenen Website. Die „Möbel Olfe“ hat hingegen bis heute keine Stellungnahme dazu veröffentlicht. Auch queere Medien schweigen dazu.

Dafür äußerten sich nun andere, wie das Berliner schwule Anti-Gewalt-Projekt Maneo, die auf Instagram fordern, dass die Sicherheitskonzepte auf kommenden Pride-Events überprüft werden, „Antisemitismus darf in unseren Szenen nicht toleriert werden und keinen Platz finden“, heißt es außerdem im Maneo-Statement.

Allerdings zeigt der Vorfall auf der Soliparty, wie tief sich miefiger antisemitischer stalinistischer Sowjet-Agitprop festgefressen, queeren Aktivismus gar gekapert hatnicht nur in der Berliner Szene. Auch beim Dyke March in New York fühlen sich jüdische Lesben nicht mehr sicher und machen nun getrennte Veranstaltungen, wie das Portal „Mena-Watch“ berichtete. Die Organisatorinnen des US-Pendants solidarisierten sich offen mit antisemitischen Gruppen und sammelten gar Geld für diese.

Mangelndes Problembewusstsein für Antisemitismus

Das Statement des Dyke March Berlin zum Vorfall in der „Möbel Olfe“ zeigt, dass kein Problembewusstsein für Antisemitismus vorhanden ist. Darin wurde der jüdischen Gruppe vorgeworfen, provoziert zu haben und eine Spaltung vorantreiben zu wollen.

„Um die Sicherheit aller anwesenden Gäste zu gewährleisten hat das Dyke* March‐Orgateam in Absprache mit dem Team der Möbel Olfe die Veranstaltung beendet und alle Gäste gleichermaßen darum bitten müssen, die Bar zu verlassen. Die besagte Aktions‐Gruppe ist unserer wiederholten Aufforderung, die Bar zu verlassen lange Zeit nicht nachgekommen“, heißt es in der Darstellung des Dyke March.

Die Organisatorinnen beschweren sich auch noch, dass die Polizei gerufen wurde.  Weggelassen wird jedoch, wie bedrohlich die Situation für die kleine Gruppe war und sie die Hilfe der Polizei brauchten, um körperlich unversehrt aus der Lage zu kommen.

Weiter heißt es: „Während wir auf den Straßen Berlins demonstrieren, möchten wir unsere Solidarität mit marginalisierten, unterdrückten Gruppen weltweit bekräftigen. So verurteilen wir die derzeitigen Genozide in Palästina und anderen Teilen der Welt. […]  Wir sind gegen Kriege, gegen Propaganda und Zensur und damit gegen die Unterdrückung von individuellen Freiheiten – in Berlin, Deutschland, Europa und der Welt.“

Dieser Abschnitt zeugt in mehrfacher Hinsicht von einem gravierenden Realitätsverlust: In Gaza findet schlicht kein Genozid statt, auch wenn Pro-Palästina-Aktivistinnen diese Lüge unermüdlich wiederholen. Wer zudem individuelle Freiheiten sichern will, sollte am besten keinen Aktivismus unterstützen, der zuvörderst einer Organisation wie der Hamas dient.

Der US-amerikanische Antisemitismusforscher Jeffrey Herf beschrieb die Hamas treffend in einem Interview mit der „taz“: „Menschen, die sich selbst als links oder liberal betrachten, nehmen eine Organisation billigend in Kauf, die ihre Wurzeln in einer Mischung aus religiösem Fundamentalismus und dem Vernichtungsantisemitismus der Nazis hat. Die Hamas ist eine Bewegung der extremen Rechten: Ihre Auslegung der islamischen Religion ist islamistisch, ihre entsetzlichen Ansichten über Frauen, Queers, Juden und natürlich über die Demokratie sind rechts.“

Antisemitismus ist gefährlich

Es ist eine Sache, unterschiedliche Ansichten über den Nahost-Konflikt zu haben, wie falsch oder richtig sie auch sein mögen. Dies aber zum Vorwand zu nehmen, Jüdinnen und Juden aus allen Lebensbereichen zu drängen, sie gar zu bedrohen, ist Antisemitismus. „Wenn die Linke die Rückkehr des mörderischen Antisemitismus nicht spürt, ist das ihr Ende“, sagte Eva Illouz zum katastrophalen Umgang mit dem 7. Oktober. Man muss ergänzen: Es ist ebenfalls das Ende von Queer.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und seit Juli 2024 auch Mitglied des IQN-Vorstand. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.



Initiative Queer Nations gibt Jahrbuch Sexualitäten 2024 heraus und wählt neuen Vorstand

Pressemitteilung

Marion Hulverscheidt (links im Bild) und Jan Feddersen (rechts im Bild) sitzen in der taz Kantine auf der Bühne und moderieren die Release-Party für das Jahrbuch Sexualitäten 2024.
Marion Hulverscheidt und Jan Feddersen moderieren die Release-Party für das von ihnen und Rainer Nicolaysen herausgegebene Jahrbuch Sexualitäten 2024 (Foto: Screenshot)

Berlin, 9. Juli 2024 | Redaktion

Am vergangenen Freitag wurde die diesjährige Ausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ mit seinen Beiträgen bei der Queer Release Party in der taz Kantine von den Herausgeber*innen Jan Feddersen, Marion Hulverscheidt und Rainer Nicolaysen vorgestellt.  Zuvor wurde in der Mitgliederversammlung ein neuer Vorstand gewählt.

Lesbischer Schwerpunkt

Ein Highlight in dieser neunten Ausgabe des von der Initiative Queer Nations e.V. seit 2016 herausgegebenen Periodikums sind die dezidiert lesbischen Beiträge, von denen es in dieser Ausgabe gleich vier gibt: Eine kritische Auseinandersetzung der Politikwissenschaftlerin Chantalle  El Helou über die Grenzen der Inklusionsfähigkeit von queer, ein Gespräch mit der Linguistin Luise F. Pusch über ihr Coming-out, ein Text ihrer Frau Joey Horsley und ein Bericht über eine Kreuzfahrt für Lesben der in Berlin lebenden Altistin Wiebke Hoogklimmer.

Der Vorstandsvorsitzende und Mitherausgeber Jan Feddersen dazu: „Wir haben zu unserer großen Freude einen lesbischen Schwerpunkt in dieser Ausgabe, was mich persönlich sehr glücklich macht!“

„In lesbias res“ geht die Laudatorin dieser Beiträge, die Psychologin Emily Lau. In klaren Worten skizziert sie, was alle vier Beiträge eint: die Zurückweisung der queertheoretischen Norm, Identität über den Körper zu stellen und ein waberndes, diffuses Bild von „Weiblichkeit“ zu behaupten, also lesbisches Begehren von Körperlichkeit zu entkoppeln. 

Damit setzt auch die neue Jahrbuch-Ausgabe fort, wofür die IQN steht: In Sachen queerer Lebensweisen zu fragen, wie es tatsächlich ist und nicht nur, wie es sein soll. „Mainstream ist uns fremd, wir machen uns unsere eigenen Köpfe!“, ist das Motto, was die Unabhängigkeit des Vereins hervorhebt, die auch dadurch gewährleistet wird, dass man nicht auf staatliche Zuwendungen angewiesen ist.

Neuer Vorstand gewählt

Die ebenfalls am Freitag erfolgte Vorstandswahl bestärkt diesen Kurs. Jan Feddersen wurde als Vorsitzender bestätigt, Clemens Schneider als sein Stellvertreter ebenfalls. Neu in den Vorstand gewählt wurden die Medizinerin und Jahrbuch-Mitherausgeberin Marion Hulverscheidt als Schatzmeisterin sowie der Öffentlichkeitsarbeiter Till Randolf Amelung als Beisitzer. Den beiden bisherigen Vorstandsmitglieder Peter Obstfelder und Manu Schubert sei für ihr bisheriges Engagement herzlich gedankt.

Amelung, der bereits seit einem halben Jahr den IQN-Blog redaktionell betreut, zu seiner Wahl: „Ich freue mich über das entgegengebrachte Vertrauen und möchte meinen Beitrag leisten, die IQN als Diskursraum zu stärken, wo nicht die förderpolitische Erwünschtheit in die Themen diktiert.“

Ausblick auf künftige Veranstaltungen und Projekte

Zu den Schwerpunkten der nächsten Queer Lectures und damit auch zum nächsten, dann zehnten Jahrbuch Sexualitäten zählt, dass wir drei unserer Vorträge der Fetisch- und Lederszene widmen – in Kooperation mit dem Verein Folsom Europe e.V. Zu den Arbeitsschwerpunkten der kommenden Monate zählt ebenso die Vorbereitung auf den 20. Geburtstag der IQN e.V.

Wir freuen uns auf alle Unterstützung, die wir bekommen – und auf uns selbst, die wir das Projekt eines Queeren Kulturhauses weiterhin mit Verve im Blick behalten.

Über uns

Die Initiative Queer Nations (IQN) befördert durch Vorträge, Publikationen und die Schaffung von Förderstrukturen die Erforschung von Sexualitäten und Geschlechtlichkeiten in einem breiten Sinn. Zu den größten bisherigen Erfolgen von IQN zählt die Einrichtung der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld im Jahr 2011.

Das Jahrbuch Sexualitäten ist ein jährlich erscheinendes Periodikum der Initiative Queer Nations, herausgegeben im Wallstein Verlag, Göttingen. Den Kern des Jahrbuchs bilden Aufsätze, die auf öffentlich vorgetragenen Queer Lectures und Talks basieren. Daneben enthält das Jahrbuch die Rubriken Essay, Gespräch, Miniaturen und Rezensionen. Sie nehmen auf aktuelle Debatten Bezug oder regen solche an.

Die Aufzeichnung der Release-Party können Sie auf YouTube ansehen:


Jahrbuch Sexualitäten 2024

Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations e.V. von Jan Feddersen, Marion Hulverscheidt und Rainer Nicolaysen.

Mit Beiträgen von Marko Martin, Thomas Großbölting, Vojin Saša Vukadinović, Blake Smith, Tae Ho Kim, Björn Koll, Martina Lenzen-Schulte, Chantalle El Helou, Aaron Gebler, Sigi Lieb, Joey Horsley, Luise F. Pusch, Jan Feddersen, Clemens Schneider, Manuel Schubert, Meike Lauggas, Michael Wunder, Till Randolf Amelung, Adrian Daub, Marion Hulverscheidt, Wiebke Hoogklimmer, Richard F. Wetzell, Thomas Weber, Norbert Finzsch, Norman Domeier und Ketil Slagstad.

294 S., 22 z.T. farb. Abb., geb., Schutzumschlag, 15 x 22,3 cm, ISBN 978-3-8353-5725-9

Preis: € 34,00 (D) / € 35,00 (A)



Homos sagen Ja zu Israel

Erfahrungsbericht vom israelsolidarischen East Pride

Am vergangenen Samstag demonstrierten Teilnehmer*innen des East Pride unter dem Motto „Homos sagen Ja zu Israel“ und bezogen damit Stellung gegen Antizionismus. IQN-Autorin Chantalle El Helou war vor Ort.

Ein Demoschild auf dem East Pride Berlin sagt "Queers for Israel"
Ein Demoschild sagt „Ja“ zu Israel (Foto: Steffi Reichert –streichphotography)

2. Juli 2024 | Chantalle El Helou

Am Samstag dem 29. Juni fand in Berlin eine außergewöhnliche und wichtige Pride Parade statt. Die Veranstalter Wolfgang Bayer und Anette Detering widmen den East Pride stets queerpolitisch relevanten politischen Entwicklungen. Letztes Jahr wurde auf der East Pride für die Rechte Homosexueller in Uganda demonstriert, sich das Jahr davor mit der Ukraine solidarisiert. Nun wendet sich die Demo unter dem Motto „Homos sagen Ja zu Israel“ explizit gegen den Antizionismus der queeren Szene.

Zum Zustand der queeren Szene

Unter Queeren ist eine ablehnende Haltung zu Israel ebenso weit verbreitet wie in vielen linken Kreisen. Hier wird der Antizionismus um die eigene Opfererfahrung erweitert: Im Glaube selbst von der Welt missachtet zu sein, schlägt man sich in blindem Aktivismus auf die Seite der vermeintlichen Opfer – der „Palästinenser“, von denen nicht nur Hamas-Kämpfer, sondern auch viele Zivilisten an den Gräueltaten des 7. Oktober 2023 beteiligt waren.

Nicht einen Moment wird anerkannt, dass das zionistische Projekt eine emanzipatorische Erfolgsgeschichte ist, dass die Gründung des Staates Israel eine tatsächlich gelungene Befreiung von der Willkür der potenziell antisemitischen Mehrheit der Nicht-Juden war. Man sollte daher meinen, dass eine derartige Befreiung aus der Ohnmacht bei Queeren auf eine leidenschaftliche Verteidigungshaltung stoßen müsste.

Kampagnen wie „Queers for Palestine“, aber auch der jederzeit spürbare Common Sense in der queeren Szene beweisen das Gegenteil. So ist es bei vielen die unangefochtene und jederzeit kundgetane Gewissheit, dass Israel der eigentliche Aggressor ist. Homo-Bars und -Clubs, die zuvor nicht israelfeindlich waren, haben nach 10/7 eindeutig Stellung bezogen, selbstverständlich gegen Israel. Unangenehm aufgefallen sind beispielsweise das K-Fetisch oder die Oya-Bar.

Die ideologische Verwahrlosung findet auch direkt Eingang ins Ästhetische, sodass nicht einmal bei Meidung aller Gespräche den weltanschaulichen Abgründen des Gegenübers entronnen werden kann. Die Kufiya – ein nationalistisches und antiisraelisches Symbol der arabischen Palästinenser – wird nun in der Hitze des Sommers gern als Ersatz des Oberteils praktisch um die Brüste gebunden. Auch bei Dragshows und queeren Performances werden gern Paliflaggen und Wassermelonensymbole in die Lack- und Lederoutfits integriert: Die massiv sexuelle Aufladung von Symbolen antisemitischer Vernichtung komplettiert die Barbarisierung der Szene.

Der Antizionismus linker Akteure ist ein moralistischer – Israel wird als rassistisch-kolonialistischer Unterdrücker dargestellt. Manch einer glaubt sogar, dass ein Sieg Israels in Gaza einer Niederlage im Kampf um das Wohl der gesamten Menschheit gleichkommen würde. Die Existenz des jüdischen Staates erscheint als das Unrecht schlechthin und der wehrhafte Jude als Hindernis auf dem Weg in die heile Welt.

Den antiisraelischen Konsens brechen

Dieser verheerende Zustand macht eine solche Demonstration wie den East Pride umso wichtiger. Geschätzt 300 Leute versammelten sich an der Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg, um von dort über den Alexanderplatz bis zur Oranienburger Straße am Monbijoupark zu laufen. Ein mit Israel- und Regenbogenflaggen geschmückter Wagen fuhr voran und heizte den Demonstranten mit israelischen Popsongs und queeren Hits ein. Die Stimmung war trotz anfänglicher Nervosität ausgelassen.

Viele große Transparente und Flaggen begleiteten die Demo. Zu lesen war unter anderem „Queers for Israel“, „Es geht um Israel – gegen antisemitische Mobilisierung“, „Vergewaltigung ist kein Widerstand“, „Believe Israeli Women“ oder „This Butch is a Zionist“. Für die Sache und gegen den antizionistischen Konsens traten auch sich ansonsten kritisch gegenüberstehende Gruppen – Radikalfeministinnen und Transaktivisten – nebeneinander auf.

Eine Butch bezieht auf der Demo Stellung (Foto: Steffi Reichert –streichphotography).

Ideologiekritischer Moment fehlte

Die Redebeiträge – so sehr die Entschlossenheit der Redner auch zu schätzen ist – waren durchwachsen und ließen teilweise den ideologiekritischen Moment vermissen. Wer die Hamas verdammt, sollte sich auch ihrer Unterstützung durch weite Teile der palästinensischen Bevölkerung bewusst sein und die grundlegend antisemitische Strukturierung ihrer Gemeinschaft erkennen. Der Antisemitismus ist von der Geburt an stetiger Begleiter in Erziehung und Ausbildung und gemeinschaftsstiftendes Element. Der Antisemitismus in der Queerbewegung mag ein Übel sein, die UNRWA (The United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees) und damit der Terror gegen Israel wird aber u.a. von deutsch-staatlicher Seite finanziert. Das hätte deutlich bezeichnet und kritisiert werden müssen.

Besonders herausstechend war in den Reden der Wunsch, sich von Israels aktueller Regierung unter Benjamin Netanyahu abzugrenzen und die eigene Israelsolidarität mit dem nachdrücklichen Hinweis auf die demokratische Staatsform Israels zu legitimieren. Das lässt daran zweifeln, ob das Bekenntnis zu Israel wirklich aus der Einsicht in die Notwendigkeit eines jüdischen Staates hervorgeht. Die andere Seite wird der Hinweis auf die demokratische Verfasstheit Israels niemals überzeugen: Antizionisten wenden sich gegen einen jüdischen Staat unabhängig seiner Regierungsform. Es muss daher festgehalten werden: Egal unter welcher Regierung und egal welche Maßnahmen Israel zu seinem Schutz ergreift: Israel ist und bleibt der einzige jüdische Staat und der Zionismus darum zu verteidigen.

Am beeindruckendsten war die spontane und leidenschaftliche Rede einer jungen Israelin über ihre Angst, sich in der queeren und lesbischen Szene als israelische Staatsbürgerin zu erkennen zu geben. Sie beschrieb, viele Freundschaften zu anderen Lesben nach 10/7 verloren zu haben und von homosexuellen Bekannten von einen auf den anderen Tag ignoriert worden zu sein. Seitdem meidet sie lieber queere Bars und Veranstaltungen in Berlin.

Fehlende Resonanz großer queerer Vereine

Während die Demonstranten selbst in entschlossener Ausgelassenheit die Passanten zu motivieren versuchten, sich der Demo anzuschließen, fielen die Reaktionen am Rand sehr unterschiedlich aus. Hin und wieder entrüstetes Kopfschütteln, oft aber freudiges Zulächeln, Winken und Klatschen. Am häufigsten zeichnete sich auf den Gesichtern aber tiefe, ehrliche Überraschung und Fassungslosigkeit ab. Spontane Störungen von Kufiya-Trägern blieben vereinzelt und wurden von der Polizei professionell abgefangen. Zwei junge Kopftuchträgerinnen geleiteten beispielsweise den Zug, um den Rednern immer wieder mit „Free Palestine“ ins Wort zu fallen und die Kufiya zu schwenken.

Dass die Demo klein und schlechter besucht war als die vorangegangenen East Prides liegt höchstwahrscheinlich nicht nur an leidenschaftlicher Israelfeindschaft in der queeren Bewegung, sondern auch an leidenschaftsloser Israelsolidarität derjenigen, die in dieser Szene weiterhin anerkannt werden wollen. Bezeichnend ist in diesem Sinne auch die mangelnde Resonanz großer queerer Vereine nicht nur auf die Ankündigung der diesjährigen East Pride, sondern auf den grassierenden Antisemitismus in der Szene generell. Gerade deswegen war der diesjährige East Pride ein wichtiges Zeichen gegen den antisemitischen Konsens in der queeren Szene und für deren jüdische und israelische Mitglieder.


Chantalle El Helou, geb. 2000, B.A. in Politikwissenschaft, zurzeit Masterstudium in Gesellschaftstheorie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; auf Ideologiekritik fokussiert, Publikationen zur Kritik an Prostitution, Queertheorie und Antizionismus, engagiert im lesbischen Nachtleben Berlins.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Politik statt Evidenz bei WPATH-Leitlinie

Hat US-Regierungsmitglied Einfluss auf Standards of Care genommen?

Die Standards of Care der WPATH gelten in der Medizin als Leitstern, an dem sich international die Behandlung von Menschen mit Geschlechtsdysphorie in allen Altersstufen orientiert. Jüngste Vorkommnisse aus dem US-Regierungsgehege wecken jedoch erhebliche Zweifel an der medizinischen Evidenz.

Blick auf das Weiße Haus in Washington, dem Symbol für die Regierung der USA (Foto von René DeAnda auf Unsplash).

28. Juni 2024 | Till Randolf Amelung

Gerade rund um die Frage, wie Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie am besten behandelt werden sollten, toben hitzige Auseinandersetzungen. In den USA ist dieses Thema längst Teil eines politischen Kampfs zwischen Demokraten und Republikaner geworden. In den letzten Jahren haben republikanisch regierte US-Bundesstaaten Gesetze erlassen, die geschlechtsidentitätsbestätigende Behandlungen an Minderjährigen drastisch einschränken, gar unter Strafe stellen.

Verbote von identitätsbestätigenden Behandlungen

In derzeit 20 Bundesstaaten dürfen Minderjährige daher keine Pubertätsblocker, gegengeschlechtliche Hormone und chirurgische Eingriffe erhalten. Einige dieser Gesetze verbieten darüber hinaus noch Teilnahmen in Sportgruppen oder die Benutzung von Toiletten, die nicht dem biologischen Geschlecht entsprechen.

Die von Präsident Joe Biden geführte US-Regierung will hingegen die Rechte von Transpersonen stärken und hat daher beim Surpreme Court einen Berufungsantrag gestellt, der die gesetzlich erlassenen Verbote in den betreffenden Bundesstaaten blockieren soll. Laut „Zeit Online“ sollen die Verhandlungen im Herbst beginnen.

Politische Einflussnahme auf Leitlinien?

Nun gerät eine Beamtin der Regierung aber selbst in die Schlagzeilen: Rachel Levine, stellvertretende Gesundheitsministerin und Transfrau, soll die World Professional Association for Transgender Health (WPATH) Einfluss bedrängt haben, in ihrer achten Fassung der Standards of Care Altersgrenzen bei den Behandlungsempfehlungen für Minderjährige zu entfernen.

Das geht laut der „New York Times“ aus E-Mails hervor, die der kanadische Sexualforscher und Psychiater James Cantor als Teil seines Berichts eingereicht hatte, den er zur Unterstützung eines gesetzlichen Verbots geschlechtsangleichender Maßnahmen im US-Bundesstaat Alabama verfasste. Cantor, der frühe gender-affirmative Eingriffe mit Pubertätsblockern und gegengeschlechtlichen Hormonen ablehnt, wollte damit belegen, dass die WPATH die Ausarbeitung ihrer Standards of Care aus politischen und nicht aus wissenschaftlichen Erwägungen getroffen habe.

Die Standards of Care der WPATH sind international ein maßgeblicher Bezugspunkt, an dem sich die Behandlung von Transpersonen orientiert. Auch deutsche Leitlinien wie die sich in den letzten Abstimmungsprozessen befindliche S2k-Leitlinie für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsinkongruenz und -dysphorie verweisen auf die der WPATH.

Umstrittene Altersgrenzen

Ende 2021 veröffentlichte die WPATH ihren Leitlinienentwurf für die achten Standards of Care. Darin wurde noch empfohlen, das Mindestalter für Hormonbehandlungen auf 14 Jahre, für Mastektomien auf 15 Jahre, für Brustvergrößerungen oder Gesichtsoperationen auf 16 Jahre und für Genitaloperationen oder Hysterektomien auf 17 Jahre festzulegen.

In den im Sommer 2022 final veröffentlichten Standards of Care waren schließlich alle Altersgrenzen aus der Textvorlage gelöscht worden. In einer ausführlichen Reportage zeichnete die „New York Times“ im selben Jahr die schon damals offenkundige Kontroverse um die richtige Behandlung von geschlechtsdysphorischen Minderjährigen nach.

Widerstand kam demnach vor allem von transaktivistischen Akteuren, darunter auch Ärzt*innen. Nach der transaktivistischen Lesart ist jede Form von Beschränkung auf einer Stufe mit Konversionstherapien (klassisch: Umpolungstherapie, um Homosexuelle zu heterosexualisieren) zu sehen. Man solle sicherstellen, dass Kinder und Jugendliche die Behandlungen erhalten, die sie wünschen und nicht, sie vor etwas zu schützen. Nun, zwei Jahre später, wird durch E-Mails bekannt, dass offenbar auch Regierungsangehörige wie Rachel Levine intervenierten.

Einflussnahme auf Studien

Kurz danach wurde eine weitere Aktion der WPATH bekannt, die Zweifel an der medizinischen Evidenz ihrer Standards of Care befeuern: Der Journalist Jesse Singal berichtet im „Economist“, dass  Verantwortliche der WPATH in die Erstellung von Metastudien zur Evidenz gender-affirmativer Behandlungen bei Minderjährigen eingegriffen haben sollen. Ihr Ziel: Für die eigenen Ziele ungünstige Ergebnisse zu verhindern. Laut Singal hätte die WPATH beim 2018 beim Evidence-Based Practice Centre der Johns Hopkins University solche Studien in Auftrag gegeben.

Doch die WPATH habe sich von Anfang an vorbehalten wollen, die Arbeit der Wissenschaftler*innen zu kontrollieren und auch bestimmen wollen, was veröffentlicht werden solle. Die Leitung des Evidence-Based Practice Centre sah die wissenschaftliche Unabhängigkeit in Gefahr. Laut „Economist“ sagte John Ioannidis von der Universität Stanford, der Leitlinien für systematische Übersichten mitverfasst hat, dass es zu voreingenommenen Zusammenfassungen oder zur Unterdrückung ungünstiger Beweise kommen könne, wenn sich Sponsoren einmischen oder ein Veto einlegen können.

Im Ergebnis wurde schließlich nur eine einzige Metastudie veröffentlich, an der laut nun offenbar gewordener interner Dokumente eine Person der WPATH an der Abfassung des Artikels und dessen endgültiger Genehmigung beteiligt gewesen sein soll.

Relevanz für deutsche Leitlinien

Die Geschehnisse in den USA sind auch für die Auseinandersetzung in Deutschland relevant. Die Autor*innen der deutschen S2k-Leitlinien und ihr Leiter Georg Romer sehen sich in Einklang mit internationalen Standards wie eben von der WPATH und betonen, sich auf den aktuellen Forschungsstand zu stützen. Doch auch hierzulande wächst die Kritik: zwei der beteiligten Fachgesellschaften haben ein Veto eingelegt und wollen die bisherige Fassung nicht mittragen.

Auf dem Deutschen Ärztetag wurde in diesem Jahr eine Resolution verabschiedet, die auf die schwache Evidenzbasis des gender-affirmativen Ansatzes verweist, mit dem zu schnell die Weichen für eine medizinische Geschlechtsangleichung gestellt werden. Nun bestärken die jüngsten Vorkommnisse um die WPATH die Kritik. Auf dieser Basis kann an der bisherigen Fassung der deutschen Leitlinien nicht länger festgehalten werden.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Staatlich gesponserter Israelhass

Am 22. Juni fand in Kassel eine Demo vor dem Bundessozialgericht statt, zu der lokale queeraktivistische Gruppen aufriefen. Die Veranstaltung wurde mit Mitteln aus dem Programm „Demokratie leben“ gefördert. Im Demoaufruf behaupten die Veranstalter einen „Genozid in Gaza“.

Es wird Zeit, der staatlichen Förderung von antisemitischem Agitprop den Stecker zu ziehen (Foto: Tom auf Pixabay).

24. Juni 2024 | Till Randolf Amelung

Wieder einmal wird sichtbar, wie sehr eine anti-israelische Haltung in queeraktivistischen Kreisen zum politischen Tagesgepäck gehört: Für den 22. Juni riefen in Kassel mehrere Gruppen, darunter meeTIN* Up und das Queere Zentrum Kassel zu einer Demonstration vor dem dort ansässigen Bundessozialgericht auf. Anlass war das schon im letzten Jahr gefällte, aber erst im März 2024 vollständig veröffentlichte Urteil, demzufolge sich als nicht-binär definierende Menschen keinen Anspruch auf die Kostenübernahme von geschlechtsangleichenden Maßnahmen haben.

Unter dem Motto „Selbstbestimmung jetzt – Geschlecht dekolonisieren“ wurde auf Instagram mobilisiert. Im Begleittext heißt es: „Vom Bundessozialgericht wurde ein Urteil veröffentlich, dass die Rechte von trans* und nichtbinären* Menschen weiter einschränkt. Die Verschärfung des Asylrechts, die Sanktionieren von Bürgergeld und der Genozid in Gaza sind weitere Beispiele davon, wie über das Leben und die Körper von Menschen fremdbestimmt wird und zeigen wie das binäre Geschlechtersystem mit Kapitalismus, Kolonialismus, und Rassismus zusammenhängen. Deshalb: raus auf die Straße!“

Der Demoaufruf auf Instagram (Foto: Eigener Screenshot)

Lego der Ideologeme

Ein erschütterndes, für queere Anliegen sogar fragwürdiges und gefährliches Statement! Schon die Behauptung, Rechte von Transpersonen und nicht-binären Menschen würden „weiter eingeschränkt“ ist obskur – denn diese Szene hat doch erst neulich das so heiß ersehnte Selbstbestimmungsgesetz bekommen, was nun im Bundesgesetzblatt verkündet wurde und damit zweifelsfrei zu November 2024 in Kraft treten kann.

Doch es wird noch abenteuerlicher: Anstatt die Bildbeschreibung bei Instagram zu nutzen, um pointiert zu erklären, worin denn nun die vermeintlichen weiteren Einschränkungen der Rechte bestehen würden, wird ein absurdes Lego der Ideologeme präsentiert. In einem sehr weiten Bogen wird das Gerichtsurteil mit Asylrecht, Bürgergeldsanktionen und einem „Genozid in Gaza“ verbunden, und die ganz großen Todsünden queer-intersektionaler Nomenklatur, nämlich Kapitalismus, Kolonialismus und Rassismus, dürfen auch nicht fehlen.

Genozid in Gaza?

Während der typisch radikalaktivistische Größenwahn, der mit solchen Texten nur die ohnehin bereits Erweckten abzuholen vermag, belustigt, erschreckt es zutiefst, wie akzeptiert Falschbehauptungen und antijüdischer Israelhass in diesen Kreisen sind. In Gaza findet kein Genozid statt. Die israelische Armee geht gegen die radikalislamistische Terrororganisation Hamas vor, deren Angehörige am 7. Oktober 2023 ein Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung verübten und Hunderte Israelis als Geiseln verschleppten. Das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung ist fraglos schlimm, doch zugleich gehört es zum Kalkül der Hamas-Terroristen, dass es zu diesen militärischen Operationen kommt, um die nach wie vor gefangen gehaltenen Geiseln zu befreien: So kann die Suche nach den Geiseln propagandistisch gegen Israel eingesetzt werden.

Die Tragweite dessen, was geschah, bringt die Berliner Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel auf den Punkt: „Der 7. Oktober zeigte die Quintessenz von Judenhass, seine ultima ratio, den unbedingten Willen, die jüdische Existenz auszulöschen.“ Umso deutlicher führt es das moralische Versagen vieler vor Augen, gerade von Kreisen, die sich als besonders sensibel für Ungerechtigkeiten, weil queerfeministisch-intersektional oder progressiv gerieren, konstatiert auch Schwarz-Friesel.

Zuerst öffentlich gemacht wurde der jüngste Beleg dafür vom Kasseler Bündnis gegen Antisemitismus, die bereits frühzeitig vor Antisemitismus auf der documenta fifteen 2022 warnten. Das Bündnis kritisierte, dass sich an dem Demoaufruf staatlich geförderte Einrichtungen wie das mit rund 70.000 Euro bedachte Queere Zentrum Kassel beteiligen und die Veranstaltung gar selbst mit Mitteln aus dem Bundesprogramm „Demokratie leben“ ermöglicht wurde. Die Organisatoren selbst gaben auf Instagram offen zu, dass nur diese Mittel die Durchführung der Veranstaltung sicherstellten.

Kritik wird abgestritten

In den Kommentaren auf Instagram wurde meeTIN* Up mit der Kritik konfrontiert, doch es wurde abgestritten, dass man Hamas-Propaganda verbreite. Allerdings verstärken inzwischen veröffentlichte Redebeiträge auf dem Blog der Gruppe Zweifel an den Beteuerungen. In einem heißt es, die kanadische Transaktivistin und Autorin Kai Cheng Tom zitierend: „Auf dem Weg zur kollektiven Befreiung ist es absolut notwendig, dass wir die Fähigkeit zur Nuancierung entwickeln, ohne das Grundprinzip der Integrität aufzugeben. Nuanciertheit bedeutet anzuerkennen, dass es komplexe historische und kulturelle Faktoren gibt, die den Zionismus für viele jüdische Menschen attraktiv gemacht haben, und dass Antisemitismus heute lebendig und real ist. Integrität bedeutet, daran festzuhalten, dass diese Gründe den Genozid, den wir heute in Palästina erleben, NICHT RECHTFERTIGEN. Integrität bedeutet, dass Palästina befreit werden muss.“

Nützliche Idioten der Hamas

Wovon oder besser: von wem muss Palästina befreit werden? Was heißt das in letzter Konsequenz? Wie sich die islamistischen Judenhasser und ihre linkstotalitären Verbündeten die Befreiung vorstellen, hat der Hamas-Terror unmissverständlich gezeigt: „Am 7. Oktober 2023 wurden über 1200 Menschen jeden Alters gefoltert, verstümmelt, verbrannt. Mit Jubelgeschrei“, schreibt Schwarz-Friesel in ihrem Kommentar in der „Welt“.

In einer Stellungnahme vom 23. Juni auf ihrem Blog schreibt meeTIN* UP, dass sie ihre Veranstaltung diskreditiert sähen und allein für den Inhalt des Demoaufrufs verantwortlich seien. Bei ihrer Wortwahl hätten sie sich nur an Akteuren wie der UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese orientiert, die sich ihrerseits hinlänglich als blind auf dem islamistischen Auge erwiesen hat. Was auch immer sie zu ihrer Verteidigung ins Feld führen mögen – sie sind mit der kritiklosen Übernahme solcher Falschbehauptungen nur nützliche Idioten der Hamas.

Es ist bisweilen nur schwer erträglich, was unter dem Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit hingenommen werden muss, aber das zeichnet westlich-liberale Demokratien aus, die auch ihre Feinde rechtsstaatlich schützt. Und es ist gut, dass die Hürden hoch sind. Doch mit Steuergeldern muss das nicht alimentiert werden. Hier ist es höchste Zeit, einen Sumpf trocken zu legen.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog. 


 

Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Debatte strikt unerwünscht

Transaktivisten verhindern Vortrag von CDU-Politikerin zum Selbstbestimmungsgesetz

Die CDU-Politikerin Mareike Lotte Wulf wollte am 19. Juni an der Universität Göttingen einen Vortrag über das Selbstbestimmungsgesetz halten, doch queere und linksradikale Aktivist*innen verhinderten dies.

Aktivist*innen sorgen für den Abbruch einer Veranstaltung mit der CDU-Politikerin Mareike Lotte Wulf in Göttingen (Foto: RCDS Göttingen auf X).

21. Juni 2024 | Till Randolf Amelung

Wieder einmal hat sich die Cancel Culture gezeigt, die es angeblich ja nicht gibt. Was war passiert? Vorigen Mittwoch wollte Mareike Lotte Wulf, Bundestagsabgeordnete der CDU, an der Universität Göttingen einen Vortrag zum Selbstbestimmungsgesetz halten und anschließend mit dem Publikum diskutieren. Eingeladen hatte zu dieser Veranstaltung der CDU-nahe Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS). Unter dem Titel „Identität auf dem Prüfstand: Selbstbestimmung ohne Grenzen?“ sollte es um kritische Punkte des im November 2024 in Kraft tretenden Gesetzes gehen. Wulf war für ihre Fraktion als Berichterstatterin für das Selbstbestimmungsgesetz zuständig und hat die Position ihrer Fraktion in den Ausschüssen vertreten.

Selbstbestimmung durch Überrumpelung

Das Selbstbestimmungsgesetz wurde von den Ampel-Parteien im Hauruck-Verfahren am 12. April durch den Bundestag gebracht (IQN berichtete). Es soll das bisherige Transsexuellengesetz (TSG) ersetzen, was aktuell noch zwei psychiatrische Gutachten und ein Verfahren vor dem Amtsgericht für die Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags erfordert.  Mit dem neuen Selbstbestimmungsgesetz soll künftig eine Erklärung vor dem Standesamt ausreichen. Eine wie auch immer geartete Überprüfung dieser Selbstaussage ist nicht vorgesehen – auch bei Minderjährigen nicht. Die CDU/CSU lehnt das Gesetz daher ab. Wulf kritisierte nach der Abstimmung im Bundestag, dass mit dem Gesetz künftig jeder seinen Geschlechtseintrag ändern lassen könne und keine nähere Begründung nennen müsse. So sagte sie unter anderem, die Ampel habe „möglichem Missbrauch“ des Gesetzes nichts entgegenzusetzen. Außerdem vernachlässige sie die Schutzfunktion des Staates gegenüber Kindern und Jugendlichen. Dennoch ist sie für eine Überarbeitung der bisherigen TSG-Regelungen gewesen.

Vortrag gecancelt

All das hätte sie höchstwahrscheinlich in ihrem geplanten Vortrag näher ausgeführt, dabei keineswegs eine Verbesserung der Versorgungslagen von Transmenschen ablehnend, sondern nur die besondere Schutzbedürftigkeit von Heranwachsenden monierend. Zu ihren Ausführungen kam es aber gar nicht, denn laut der Darstellung des Veranstalters RCDS demonstrierten vor dem Veranstaltungsort ungefähr 200 Personen lautstark. Schließlich durchbrachen bis zu 100 Demonstrierende die Einlasskontrolle und lärmten vor sowie im Hörsaal. An einen geordneten Vortrag mit Diskussion war unter diesen Bedingungen nicht zu denken. Die Veranstaltung wurde abgebrochen und Wulf von der Polizei aus dem Gebäude eskortiert.

Polizeibeamte eskortieren Mareike Lotte Wulf vom Gelände (Foto: Mareike Lotte Wulf auf Facebook).

Mehrere Gruppen aus dem linken und queeren Spektrum in Göttingen hatten zu den Protesten aufgerufen, allen voran die Grüne Jugend. Unter dem Motto „Gegen jede Trans*feindlichkeit!“ mobilisierten sie gegen einen vermeintlich „diskriminierenden Vortrag“ und behaupteten fälschlicherweise, dass Wulf „öfters Hetze gegen trans* Menschen betreibt“. Auch wurde kritisiert, dass keine Betroffenen dabei seien. Konservative wurden pauschal als „Menschenfeinde“ diffamiert. Wo man sich im Kampf gegen den Faschismus wähnt und bereits alles darunterfällt, was nicht akkurat auf der eigenen Linie ist, muss man selbstverständlich nicht dialogfähig sein. So agierten die Demonstrant*innen am Mittwoch ganz in diesem Sinn, als sie durch ihre Störungen verhinderten, dass die Veranstaltung durchgeführt werden konnte.

Woke Selbstgerechtigkeit

Das Pressestatement der Grünen Jugend zum verhinderten Vortrag liest sich unfreiwillig ironisch und trieft vor typisch woker Selbstgerechtigkeit: „Transfeindliche Rhetorik dieser Art stellt eine reale Gefahr für Menschen dar und trägt zur Spaltung der Gesellschaft bei.“ Dabei geht die eigentliche Gefahr von solch einem fragwürdigen Verständnis von Demokratie und Meinungsfreiheit aus.

Dieses totalitär anmutende Verständnis von Meinungsfreiheit und Debattierlust zieht sich durch den gesamten Verlauf des Selbstbestimmungsgesetzes. Die Debattenverweigerung hat der politische Nachwuchs der Grünen bereits von Spitzenpolitiker*innen wie dem Queerbeauftragten Sven Lehmann vorgelebt bekommen. Die CDU-Politikerin Wulf hat sich in ihrer Rolle als Berichterstatterin gründlich mit dem Gesetz beschäftigt, ihre Einwände sind profund. Doch auf keinen Einwand gingen Lehmann und andere Politiker*innen aus der Ampel sorgfältig ein und queere Aktivist*innen ebenso wenig.

Ein Screenshot vom Pressestatement der Grünen Jugend mit Userkommentaren auf Instagram (Foto: eigener Screenshot)

 Berechtigte Bedenken am Selbstbestimmungsgesetz

Die Bedenken der Bundestagsabgeordneten Wulf sind, ob man sie teilt oder nicht, berechtigt. Es besteht ein Missbrauchsrisiko, wenn es für einen Wechsel des Vornamens und Geschlechtseintrags keine Form der Absicherung mehr gibt, ob jemand tatsächlich zum Personenkreis gehört, für den das Gesetz gedacht ist. Bei Kindern und Jugendlichen – vor und mitten in der Pubertät – ist eine amtliche Bestätigung eben nicht losgelöst von anderen Schritten einer Geschlechtsangleichung zu denken. International zeigt die jüngste Studienlage, dass eine schnelle rechtliche und soziale Bestätigung einen Weg festigen kann, der auch zu medizinischen Eingriffen führt, die aufgrund ihrer Irreversibilität sorgfältig abgewogen sein müssen.

Gerade um den richtigen Umgang mit Minderjährigen gibt es in diesem Zusammenhang kontroverse Auseinandersetzungen, vor allem in der Medizin. Besonders deutlich wird dies in Deutschland aktuell anhand der sich kurz vor der finalen Veröffentlichung befindenden S2k-Leitlinien (IQN berichtete). Eine sachlich-konstruktive Debatte wäre umso wichtiger, um all die kritischen Punkte zu klären. Doch das ist offenbar nicht erwünscht und zeigte sich auch bei der dann doch überraschenden Verabschiedung des Selbstbestimmungsgesetzes im April. Diese überschnitt sich mit der Vorstellung des Abschlussberichts des Cass-Reports in Großbritannien über die Missstände in der Versorgung von geschlechtsdysphorischen Kindern und Jugendlichen. Eine breitere Kenntnis dieses Reports hätte die Stimmungslage wohl zum Nachteil der queeren Aktivist*innen und ihrer parteipolitischen Erfüllungsgehilf*innen verändert.

Verhinderte Debatten sind nur aufgeschobene

Die Auseinandersetzung um die S2k-Leitlinie zeigt allerdings, dass sich Debatten durch totalitäres Gebaren nur aufschieben, aber nicht gänzlich verhindern lassen. Umso größer sind jedoch der Schaden und gesellschaftliche Spaltungen, die sich dadurch erst recht entwickeln.

Mehrere CDU-Politiker verurteilten das Canceln des Vortrags ihrer Parteikollegin Wulf. Der Generelsekretär Carsten Linnemann sagte gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland: „Mit freier Lehre und offenem Gedankenaustausch hat das rein gar nichts mehr zu tun.“ Und: „Ich möchte den RCDS ausdrücklich ermutigen, die Diskussionsveranstaltung mit Mareike Wulf zu wiederholen. Der Rechtsstaat darf vor solchen Chaoten nicht einknicken.“

Die Universität Göttingen selbst ließ in einer Stellungnahme verlauten: „Protest zu äußern, ist legitim, aber eine eingeladene Rednerin daran zu hindern, ihre Meinung überhaupt vorzutragen, entspricht nicht unserer Vorstellung von Diskussion“. Allerdings muss sich die Universitätsleitung fragen, welchen Beitrag sie geleistet hat, um die Durchführung der Veranstaltung zu ermöglichen. Warum hat sie beispielsweise keine Polizei alarmiert, um die rabiat Protestierenden aus dem Gebäude zu verfrachten?

Es ist zu wünschen, dass die Veranstaltung doch noch stattfinden kann. Queere Aktivist*innen können kein Sonderrecht beanspruchen, von einem kritisch-sachlichen Diskurs verschont zu bleiben.

Nachtrag am 22. Juni 2024

Die Lesben und Schwulen in der Union (LSU), eine von der CDU anerkannte Sonderorganisation und Interessensertretung für LGBTI, kritisierte die Störaktion der Göttinger Aktivist*innen in einem Pressestatement  vom 21. Juni ebenfalls. Der Bundesvorsitzende Sönke Siegmann dazu: „Ich bin enttäuscht von dem Verhalten derjenigen, die als Mitstreiter für die gemeinsame Sache auftreten und dann solche Art von „Diskurs“ auch noch gutheißen. Ihr sprecht keinesfalls für alle LSBTIQ-Menschen.“


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog. Im November 2023 war er auf Einladung der CDU als Sachverständiger im Familienausschuss zum Selbstbestimmungsgesetz angehört worden. Am 18. Juni 2024 saß er zusammen mit Mareike Wulf und Heinz-Jürgen Voß bei der Volkswagen-Stiftung in Hannover auf dem Podium und diskutierte ebenfalls über das Selbstbestimmungsgesetz. Frau Wulf wurde von ihm als sachlich-konstruktive sowie empathische Diskussionsteilnehmerin erlebt.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Hools im Mittelblock

In loser Folge stellen wir Aufsätze aus älteren Ausgaben des Jahrbuchs Sexualitäten gratis zum Download bereit. Pünktlich zur Europameisterschaft 2024 geht es um den beliebtesten Sport weltweit – König Fußball.

Schwule aktive Fußballprofis geben sich bisher nicht zu erkennen (Foto von Jannes Glas auf Unsplash).

14. Juni 2024 | Redaktion

IQN-Mitbegründer Jan Feddersen ging für das Jahrbuch 2016 – damals wie heute ein EM-Jahr – der Frage nach, wie es um schwule Männer im Fußball steht. Interessieren sich Schwule überhaupt für Fußball? Und: Welche Umstände sind dafür verantwortlich, dass es keinen aktiven Profikicker gibt, der offen schwul ist?

Auch acht Jahre später haben diese Fragen nicht an Aktualität verloren. Bis heute hat sich nichts daran geändert, dass sich, abgesehen vom früheren deutschen Nationalspieler Thomas Hitzlsperger nach dem Ende seiner aktiven Zeit als Profifußballer, so gut wie niemand im Profifußball outen möchte. Erst kürzlich zum diesjährigen Internationalen Tag gegen Homophobie, der jährlich am 17. Mai begangen wird, kam ein zuvor medial groß angekündigtes Gruppenouting doch nicht zustande. Wir müssen also noch weiter warten.

Auf ein Wort in eigener Sache

Die Intiative Queer Nations arbeitet ehrenamtlich. Wir stellen diesen Text zum kostenlosen Download bereit. Die Produktion und der Druck des Jahrbuchs Sexualitäten sind indes nicht kostenlos.

Deshalb freut sich Queer Nations jederzeit über Unterstützung mittels Spenden oder Mitgliedschaften:

Vielen Dank für Ihren Support.


Wichtige Fachgesellschaft lehnt neue Leitlinie für Transkinder ab

Es ist ein Rückschlag für die gender-affirmative S2k-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und -dysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik und Behandlung“! Erstmals positioniert sich eine große deutsche medizinische Fachgesellschaft dagegen.

Gibt es für Minderjährige mit Geschlechtsdysphorie ein Recht auf irreversible Behandlungen, ohne dass Nutzen und Risiken wie bei anderen medizinischen Eingriffen abgewogen werden? (Foto von Thiago Rocha auf Unsplash).

7. Juni 2024 | Till Randolf Amelung

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V.  (DGPPPN) lehnt die S2k-Leitlinien „Geschlechtsinkongruenz und -dysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik und Behandlung“ ab. In einem Brief vom 5. Juni 2024, der IQN vorliegt, teilt der Präsident dieser Fachgesellschaft, Professor Andreas Meyer-Lindenberg, dem Vorsitzenden der Leitlinien-Kommission, Professor Georg Romer, diese Entscheidung mit.

In dem Schreiben heißt es, dass nach dem Standpunkt der DGPPPN „hormonelle und chirurgische Interventionen nach obligatorischer multiprofessioneller kinder- und jugendpsychiatrischer und somatischer Diagnostik wenigen Fällen vorbehalten sein“ sollten. Außerdem wird ein Ethikvotum gefordert sowie die Einbindung in klinische Studien.

Derzeit befindet sich die S2k-Leitlinie in der abschließenden Konsultationsphase, bevor das finale Dokument veröffentlicht wird. Eine abschließende Positionierung der DGPPPN solle es erst zur Endfassung der kritisierten Leitlinie geben, aber wenn sich die Leitlinie nicht entscheidend ändert, ist auch kein anderes Votum der Fachgesellschaft zu erwarten. Die DGPPPN wünscht sich, höflich im Ton, aber entschieden dissident in der Sache, dass es nach einer „Bearbeitung der Rückmeldungen und idealerweise auch aus einer systematischen Aufarbeitung der Literatur seit 2020 noch eine Annäherung der Empfehlungen der Leitlinie an die oben skizzierte Position ergibt“.

Kritik an Leitlinie wächst

Diese vorläufige Entscheidung zur S2k-Leitlinie ist ein schwerer Rückschlag für die mit erheblich transaktivistischem Einfluss erstellten Empfehlungen. Mit der DGPPPN positioniert sich nun erstmalig die nach eigenen Angaben „größte deutsche medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaft auf dem Gebiet der psychischen Gesundheit“ gegen die neuen Leitlinien. Die DGPPN vertritt die Interessen von über 11.500 Mitgliedern.

Zuvor äußerten sich bereits einzelne Mediziner, beispielsweise Florian D. Zepf, gegen die neue Leitlinie für geschlechtsdysphorische Minderjährige. Auch eine weitere Gruppe von 15 Medizinern veröffentlichte ein über 100 Seiten starkes Dokument mit Kritik an der Leitlinie, ebenso übten zuletzt Delegierte auf dem Deutschen Ärztetag mit einer Resolution Kritik an der aus transaktivistischer Sicht erhofften Leitlinie. Dabei wünschte sich die federführende und mit knapp 2.000 Mitgliedern deutlich kleinere Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), in deren Auftrag Romer die Leitlinie erarbeiten ließ, dass keine inhaltliche Kritik mehr vorgenommen werden solle. Doch nicht nur einzelne Ärzte, sondern jetzt eben auch eine große medizinische Fachgesellschaft üben Widerstand gegen den Versuch, fundamentale Kritik still zu stellen.

International umstrittener gender-affirmativer Ansatz

Die S2k-Leitlinie beruht auf dem international mittlerweile umstrittenen gender-affirmativen Ansatz, der außerhalb transaktivistisch genehmer medizinischer Kreise kaum noch Zustimmung findet. Dieser sieht vor, sehr zügig Äußerungen über die Geschlechtsidentität zu bestätigen, was zu sozialen, juristischen und insbesondere auch zu medizinischen Eingriffen überleiten kann. Besonders im Fokus stehen dabei Pubertätsblocker, also Medikamente, die die biologisch angelegte Pubertät unterdrücken sollen. Jüngste Untersuchungen, insbesondere der Cass-Report in Großbritannien, haben offengelegt, dass der Einsatz solcher Medikamente auf einer nur unzureichenden Evidenzbasis beruht. Das heißt, das Verhältnis von Nutzen und Risiken ist zu wenig geklärt. Besonders riskant ist zugleich, dass im affirmativen Modell keine psychotherapeutisch begleitete Ergründung möglicher anderer Ursachen erwünscht ist, stattdessen gar von Transaktivist*innen als Konversionstherapie diffamiert wird. Begründet wird das oft mit einem angeborenen, frühen sicheren Geschlechtswissen und Verweisen auf neuromedizinische Befunde. Allerdings lassen sich Ursachen für Transidentität bis heute nicht zweifelsfrei festmachen. Dezidiert unerwünscht im transaktivistischen Weltbild ist eine gemeinsame Betrachtung mit anderen gut belegten Gründen für Geschlechtsdysphorie, insbesondere einer krisenhaften homosexuellen Entwicklung oder Pubertätskrise bei Mädchen.

Zugleich stiegen in allen westlichen Ländern, in denen für Minderjährige Behandlungen nach dem gender-affirmativen Ansatz angeboten wurden, in den letzten fünf Jahren die Zahlen von Behandlungswilligen stark an – besonders unter pubertierenden biologischen Mädchen. Auch für Deutschland ist das dokumentiert, zuletzt durch eine Auswertung von Versichertendaten deutscher gesetzlicher Krankenkassen. Nicht nur in Großbritannien, sondern auch in anderen europäischen Ländern hat dies seit 2020 zu Untersuchungen und schließlich zur Abkehr vom gender-affirmativen Ansatz geführt. Nun lässt sich die Debatte auch in Deutschland nicht mehr unterbinden. Im Sinne der Patienten- und Patientinnensicherheit war das längst überfällig.

Auf der Startseite der SGKJPP findet sich dieses knappe Statement (Foto: Screenshot vom 8. Juni 2024).

Nachtrag am 8. Juni 2024: Auch die Schweizerische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (SGKJPP) lehnt die S2k-Leitlinie in der vorliegenden Form ab. In einem knappen Statement auf der Website heißt es, die Fachgesellschaft befürworte eine Überarbeitung des aktuellen Leitlinienentwurfs. Zur Begründung verweisen sie auf die Stellungnahme der European Society for Child and Adolescent Psychiatry (ESCAP), in der u.a. ebenfalls ein vorsichtigerer Umgang mit Eingriffen wie Pubertätsblockern gefordert wird.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations.


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Queerideologisch vernagelt?

Fachbeirat der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld kritisiert Resolutionen des Deutschen Ärztetags

Auf dem Deutschen Ärztetag Anfang Mai 2024 stimmten die Delegierten für zwei Resolutionen, die den Einsatz von Pubertätsblockern und die künftigen Regelungen im Selbstbestimmungsgesetz für Minderjährige kritisieren. Der Fachbeirat der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld reagiert nun und fordert eine „Neubefassung auf wissenschaftlicher Grundlage“.

Wer ist auf dem falschen Weg – die Delegierten des Deutschen Ärztetags oder der Fachbeirat der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld? (Foto von Kenny Eliason auf Unsplash.)

4. Juni 2024 | Till Randolf Amelung

Die Kontroversen um die richtige medizinische Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie erreichen in Deutschland immer mehr Kreise – sowohl in der allgemeinen Öffentlichkeit als auch in der Medizin. Besonders das am 12. April 2024 im Bundestag verabschiedete Selbstbestimmungsgesetz und die kurz vor der finalen Veröffentlichung stehende S2k-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und -dysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik und Behandlung“ stehen im Zentrum der Debatte.

Schwache Evidenz für Pubertätsblocker

Im Kern geht es darum, jungen geschlechtsdysphorischen Menschen so früh wie möglich Behandlungen zu ermöglichen, die ungewollte Entwicklungen durch die Pubertät des biologischen Geschlechts verhindert. Befürworter*innen solcher medizinischer Interventionen sehen sich auf der Seite der Menschenrechte, Kritiker*innen warnen vor der dünnen medizinischen Evidenzlage und dem hohen Schädigungspotenzial durch irreversible Eingriffe mit lebenslänglichen Folgen. Im Ausland hat die Debatte längst Konsequenzen, vor allem andere europäische Länder wie Schweden, Finnland oder Dänemark sind zu einem vorsichtigeren Ansatz zurückgekehrt: Anstatt geschlechtsdysphorischen Minderjährigen möglichst schnell Pubertätsblocker und gegengeschlechtliche Hormone zu verordnen, soll psychotherapeutisch mit ihnen über einen längeren Zeitraum mögliche Ursachen für ihr Leiden ergründet werden.

Zuletzt sorge in dieser Hinsicht in Großbritannien der Cass-Report für Schlagzeilen, der die schwache Evidenzlage für den medizinischen Ansatz mit Pubertätsblockern mehr als deutlich aufzeigte. Diese Sachlage griffen auch zwei Resolutionen auf dem diesjährigen Ärztetag, der Jahreshauptversammlung der Bundesärztekammer, auf.  In ihnen wird gefordert, diese Hormongaben zur Verhinderung eines körperlichen Erwachsenwerdens bei Geschlechtsdysphorie für unter-18-jährige auf kontrollierte klinische Studien zu beschränken und Änderungen des Vornamens sowie amtlichen Geschlechtseintrags erst ab Volljährigkeit mit einem Selbstbestimmungsgesetz zu erlauben. Mit deutlicher Mehrheit stimmten die Delegierten für diese Resolutionen.

Fachbeirat kritisiert Resolutionen

Nun äußerte sich der Fachbeirat der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, der die Resolutionen in einer Stellungnahme scharf kritisiert. Die Beschlüsse „lassen eine Evidenzorientierung vermissen, auf die sich die Ärzt_innenschaft eigentlich verpflichtet hat.“ Weiter heißt es: „Sie stellen vielmehr eine politische Stellungnahme dar, die sogar der bereits verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz widerspricht. Es ist dem Fachbeirat der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (BMH) unerklärlich, wie derart unwissenschaftliche Anträge auf dem Ärztetag angenommen werden konnten.“ Es wird gefordert, die Beschlüsse neu zu fassen.

Zum Antrag des Ärztetags, Änderungen des Vornamens sowie amtlichen Geschlechtseintrags erst ab Volljährigkeit mit einem Selbstbestimmungsgesetz zu erlauben, heißt es seitens des BMH-Fachbeirats, der Antrag widerspreche rechtlich dem verfassungs- und menschenrechtlichen Stand. Als Begründung wird die auch von der Bundesregierung ratifizierte UN-Kinderrechtskonvention angeführt. Es gebe „keine rechtlich haltbare Begründung, Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren bei der Wahl von Vornamen und Personenstand einer anderen Regelung zu unterwerfen als Erwachsene“. In der Begründung unterschlagen wird allerdings, dass es für Minderjährige immer noch einen besonderen Schutzauftrag seitens des Staates gibt, und dieser bezieht sich auch auf übereilte Änderungen des amtlich eingetragenen Vornamens und Geschlechtseintrags. Ebenso wird vom Fachbeirat gar nicht berücksichtigt, dass die Änderung des amtlich eingetragenen Vornamens und Geschlechts im Zusammenspiel mit weiteren Schritten einer Transition gesehen werden muss. Der Cass-Report weist darauf hin, dass eine soziale Transition, zu der auch die Änderungen der amtlichen Einträge gehört, ein folgenreicher Schritt ist, der den Weg zu medizinischen Schritten festigen kann.

Kritik an S2k-Leitlinien

Bei der zweiten Resolution, die sich gegen die Gabe von Pubertätsblockern richtet und dies mit der fehlenden Evidenz für deren Nutzen begründet, wird vom BMH-Fachbeirat lediglich auf die S2k-Leitlinien verwiesen. Bei deren Erstellung sei die Evidenz „soweit als möglich berücksichtigt“ worden und der Einsatz von Pubertätsblockern mit Verweis auf negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit sowie Suizidprävention gerechtfertigt.

Doch die Evidenzbasierung der neuen Leitlinie ist umstritten. Zuletzt äußerte sich eine Gruppe von 15 Medizin-Professoren und kritisierte die Leitlinie in einer gemeinsamen Stellungnahme als „in vielen kritischen Punkten – vor allem bzgl. der potentiell irreversiblen, biomedizinischen Maßnahmen bei körperlich gesunden Minderjährigen mit GD – nicht evidenzbasiert“.  In einem Interview mit dem „Spiegel“ am 24. Mai 2024 äußerte sich einer der beteiligten Mediziner, Florian D. Zepf, zu der Kritik. Er bekräftigte die Mängel bei der Evidenzbasis und verwies neben dem Cass-Report auch auf eine neuere Studie aus den Niederlanden. Darin wurde untersucht, wie sich Geschlechtsdysphorie bei Minderjährigen im weiteren Verlauf entwickelte. Beim Großteil der untersuchten Teilnehmer*innen milderte sich die Symptomatik bis zum 25 Lebensjahr erheblich oder verschwand sogar wieder (IQN berichtete). Gerade die Komplexität der Identitätsentwicklung im Kindes- und Jugendalter erfordere aus der Sicht von Zepf eine Zurückhaltung mit irreversiblen Maßnahmen.

Aktuelle Auswertungen von Daten der deutschen gesetzlichen Krankenversicherungen von Versicherten in einem Alter von 5 bis 24 Jahren im Zeitraum von 2013 bis 2022 stützen einen vorsichtigeren Ansatz. In den Daten wurde nicht nur ein starker Anstieg der Prävalenz anhand der Vergabe der Diagnose „F.64.0 Transsexualismus“ festgestellt, sondern auch, dass nach 5 Jahren „insgesamt nur noch 36,4 Prozent eine gesicherte F64-Diagnose aufwiesen“.

Intellektuell dürftig

An der Stellungnahme des BMH-Fachbeirats ist bemerkenswert, dass sie an keiner Stelle inhaltlich fundiert auf die Studienlage eingeht. Anstatt sich mit dieser auseinanderzusetzen und robust dagegen zu argumentieren, wird eine „äußerst übergriffige Sprachverwendung“ moniert, weil in der Ärztetag-Resolution der Begriff „Geschlechtsumwandlung“ vorkommt. Dies unterstreicht umso mehr die intellektuelle und fachliche Dürftigkeit der BMH-Stellungnahme. Auf dieser Basis fordert der Fachbeirat der BMH den Deutschen Ärztetag zu einer Neubefassung auf, unter Einbezug ihnen genehmer Fachleute sowie transaktivistischer Organisationen. Stattdessen wäre zunächst der Fachbeirat gut beraten, wenn er sich mit Medizinern wie Zepf in einen Austausch begibt. Doch die Stellungnahme lässt erahnen, dass die Mitglieder dafür zu ideologisch eng orientiert scheinen. Ein solcher Unwille zur seriösen Auseinandersetzung mit Sachverhalten, die nicht in die eigene Agenda passen mögen, könnte die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld als vertrauenswürdige Institution in der Öffentlichkeit nachhaltig beschädigen. Ob dies allen dort Beteiligten bewusst ist?


Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations.


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Fitnessstudio für Frauen hat Rechtsstreit mit Transperson

Kritiker*innen des Selbstbestimmungsgesetz warnten davor, dass es biologischen Männern mit dem neuen Gesetz leichter gemacht werden könne, sich in Räume einzuklagen, die exklusiv biologischen Frauen vorbehalten sind. Nun ist eine Fitnessstudiobetreiberin aus Erlangen in einen Rechtsstreit mit einer Transperson verwickelt.

Dürfen biologische Frauen beim Sport künftig noch unter sich bleiben? (Foto von bruce mars auf Unsplash.)

2. Juni 2024 | Till Randolf Amelung

Noch bevor das Selbstbestimmungsgesetz am 1. November 2024 in Kraft tritt, wird der erste Streitfall publik: Laura H., eine Transfrau ohne auch nur annähernde optische und genitalchirurgische Geschlechtsangleichung wollte Mitglied in einem Fitnessstudio in Erlangen werden, welches ausschließlich Frauen aufnimmt. Unklar ist, ob eine rechtlich wirksame Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags erfolgte.

Vor allem ohne rechtswirksame Änderung des Namens und Geschlechtseintrags beruht eine Aufnahme in geschlechtsspezifische Räume oder Änderungen einiger Dokumente auf Kulanzbasis. In den letzten 10 Jahren wurde viel erreicht, dass Organisationen Transpersonen sehr entgegengekommen sind. Sie ermöglichen ihnen schon vor einer rechtswirksamen Vornamens- und Personenstandsänderung gewünschte Anrede und Nutzung geschlechtergetrennter Einrichtungen nach Geschlechtsidentität, soweit es rechtlich zulässig ist. Erfolgreich war dies, weil vor allem Transpersonen im Fokus standen, die nach weitmöglicher Anpassung strebten.

Mit dem aktuellen Fall aus Erlangen bewahrheitet sich jedoch ein Szenario, vor dem Kritiker*innen des Selbstbestimmungsgesetzes immer gewarnt haben: Eine Transfrau ohne nennenswerte Angleichungsschritte möchte Zugang zu Räumen, die bislang für biologische Frauen vorgesehen sind. Der Fall, über den das Rechtsaußen-Medium „Nius“ zuerst berichtete, wurde mittlerweile auch von anderen Medien wie der „Berliner Zeitung“, dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ oder „queer.de“ aufgegriffen. Auch das juristische Fachmedium „Legal Tribune Online“ berichtete, da dieser Fall „einen gesetzlichen Zielkonflikt offenbart, der sich unter Noch-Geltung des Transsexuellengesetzes (TSG) ebenso stellt wie ab spätestens November unter dem SBGG“.

Seit 32 Jahren „ladys first“

Doris Lange, die das betreffende Studio „ladys first“ seit 32 Jahren betreibt, schildert den Fall in ihrem Crowdfunding-Aufruf für Rechtshilfe so: „Vor einigen Wochen hat sich meine Welt begonnen, auf den Kopf zu stellen. In unser Studio kam eine Person, die sich als Trans-Frau ausgab und Mitglied werden wollte. Ich selbst war nicht anwesend. Sie erzählte meiner jungen Mitarbeiterin, dass sie sich noch keiner geschlechtsangleichenden Operation unterzogen habe. Auch legte sie keinen Ausweis vor, aus dem hervorgegangen wäre, dass ihr Name weiblich wäre. Meine Mitarbeiterin war unsicher, wie sie damit umgehen sollte und vereinbarte mit ihr ein Probetraining unter dem Vorbehalt, erst mit der Chefin Rücksprache zu halten und dann nochmal Rückmeldung zu geben. Was das Duschen anging, schlug die Person meiner Mitarbeiterin vor, sie könne ja eine Badehose tragen.“

Lange entschied sich, der betreffenden Transfrau abzusagen und sich dafür auf ihr Hausrecht zu berufen. „Doch nicht nur im Umkleide- und Duschbereich, auch im – einzigen- Trainingsbereich sichere ich meinen Kundinnen bei Mitgliedschaftsabschluss einen Schutzbereich zu, in dem sie ohne biologische Männer trainieren können“, begründet sie ihre Entscheidung. Lange weiter: „Mit einem nicht geringen Anteil muslimischer Frauen, teilweise traumatisierter Frauen und auch minderjähriger Mädchen, deren Mütter ihre Töchter bei uns in einem sicheren Raum anmelden, würde ich mein Versprechen gegenüber meinen Kundinnen brechen.“

Antidiskriminierungsbeauftragte schaltet sich ein

Doch damit ging der Ärger für die Studioinhaberin erst richtig los. Zunächst gab die abgewiesene Transfrau Laura H. schlechte Bewertungen auf Google ab und schaltete schließlich die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) ein. Lange erhielt ein Schreiben von der Leiterin der Antidiskriminierungsstelle, Ferda Ataman: „Sie schrieb mir, dass ich mit meiner Weigerung eine, wie sie formulierte,  ‚trans Frau‘ aufzunehmen, diese in ihren Persönlichkeitsrechten verletze, und ‚empfahl‘ mir, ihr 1.000 Euro Entschädigung für die ‚erlittene Persönlichkeitsverletzung‘ zu bezahlen.“ Lange lehnte ab, suchte sich Rechtsbeistand und ging schließlich an die Öffentlichkeit. Inzwischen hat sich auch die Transperson anwaltliche Unterstützung gesucht und fordert, dass sie im Fitnessstudio aufgenommen wird, andernfalls solle die Betreiberin 5.000 Euro Strafe sowie 2.500 Euro Schadensersatz zahlen.

Rechtliche Einordnung

„Legal Online Tribune“ stellt in Frage, ob überhaupt eine Rechtsverletzung durch die Studiobetreiberin vorliegt. Denn: „§ 20 Abs. 1 AGG regelt Fälle, in denen das Diskriminierungsverbot trotz Ungleichbehandlung nicht verletzt ist, dann nämlich, „wenn für eine unterschiedliche Behandlung ein sachlicher Grund vorliegt“. Als ein Beispiel wird in Satz 2 Nr. 2 genannt, dass die unterschiedliche Behandlung zweier Personen „dem Bedürfnis nach Schutz der Intimsphäre oder der persönlichen Sicherheit Rechnung trägt“.  Dass diese Ausnahme im vorliegenden Fall eingreift, ist nicht nur auf den ersten Blick plausibel. Auch das Bundesjustizministerium (BMJ) verweist auf LTO-Anfrage auf diese Vorschrift.“

Die Sache mit dem Hausrecht

Auch im kommenden Selbstbestimmungsgesetz wird in strittigen Fragen auf diesen Passus verwiesen und die Möglichkeit des Hausrechts eingeräumt. Doch das wird von Transaktivist*innen vehement kritisiert und sie würden diese Regelung am liebsten streichen lassen. Unterstützt wurden sie dabei schon 2023 von Ferda Ataman, die den Hausrechtpassus im Selbstbestimmungsgesetz in einer Stellungnahme scharf kritisierte.

Foto von Anastase Maragos auf Unsplash.

Zum aktuellen Fall gibt es inzwischen auch eine Reaktion aus der Politik. Silvia Breher, familien- und frauenpolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion veröffentlichte folgendes Statement: „Die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung Ferda Ataman überschreitet ihren Kompetenzbereich. Die Frauenfitnessstudiobetreiberin hat sich auf das Hausrecht nach aktueller Rechtslage bezogen. Dies erlaubt ihr als Inhaberin und Betreiberin, ihre Nutzerinnen zu schützen. Das von der Ampel beschlossene Selbstbestimmungsgesetz, das am 1. November diesen Jahres in Kraft treten wird, sieht dies ausdrücklich vor und verweist sogar auf die geltende Rechtslage. Der Vorfall und die Reaktion sind bedenklich. Die Ampelkoalition hatte zugesagt, dass auch zukünftig Personen nach einer Änderung des Geschlechtseintrags nicht Zutritt zu geschlechtsspezifischen Toiletten und Umkleideräume verlangen können. Meines Erachtens wurde damit massiv ein Schutzraum von Frauen angegriffen und dies wird von Ferda Ataman sogar noch unterstützt. Ich fordere die Bundesfrauenministerin Lisa Paus auf, sich zu diesem Vorfall zu äußern. Es haben mir viele Frauen berichtet, dass sie gerade vor solchen Vorfällen Angst haben. Es muss weiterhin Schutzräume für Frauen geben.“

Nun könnte die Auseinandersetzung in Erlangen zum Präzedenzfall werden, inwieweit geschlechtsspezifische Räume und Angebote das biologische Geschlecht als Zugangskriterium beibehalten dürfen. Doris Lange sammelt derweil über den Verein Frauenheldinnen e.V. Spenden für die weitere juristische Auseinandersetzung.  Nach noch nicht mal 24 Stunden ist das Spendenziel von 12.600 Euro schon fast erreicht. Das zeigt, wie sehr ein Konflikt dieser Art mobilisieren kann.  Ob solche Auseinandersetzungen langfristig die Akzeptanz von Transpersonen in der Gesellschaft erhöhen, darf bezweifelt werden.


Till Randolf Amelung ist Redakteur des IQN-Blog und positioniert sich kritisch zum Selbstbestimmungsgesetz. Im November 2023 war er als Sachverständiger im Familienausschuss angehört worden.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Zum 50. Geburtstag des LFT

Das Motto des diesjährigen Lesbenfrühlingstreffens war „Bewegung“. Die tatsächliche Durchführung hat auf gelungene Art und Weise bewiesen, dass es manchmal besser ist, innezuhalten. Der erste Beitrag unserer neuen Autorin Chantalle El Helou ist eine Femmage an die bundesdeutsche lesbische Traditionsveranstaltung.

Das Orga-Team des LFT 2024 am Veranstaltungsort, dem Werbelllinsee in Brandenburg (Foto: Alison Miller).

31. Mai 2024 | Chantalle El Helou

Dieses Jahr fand vom 17. bis zum 20. Mai das Lesbenfrühlingstreffen am Werbellinsee in Brandenburg statt. Das LFT ist seit 1974 eine Institution der Lesbenbewegung. 2019 trafen sich die Lesben zum letzten Mal in Präsenz. Nach einem analog-digitalen Hybrid-Treffen vor drei Jahren konnte der 50. Geburtstag des LFTs im Festivalcharakter gefeiert werden. Über 500 Lesben allen Alters versammelten sich im Seezeit-Ressort Joachimsthal zum Feiern bei Livekonzerten und Techno-DJs, zu Vorträgen und Workshops, die alle Facetten des lesbischen Lebens behandelten, zu Kino und Café und zu Auseinandersetzungen über die lesbische und queere Szene. Bands wie Kick La Luna spielten und bekannte Gesichter der lesbischen BRD wie die ehemalige Verlegerin des Querverlags Ilona Bubeck, die Autorin Doris Hermanns oder die Aktivistin Laura Méritt gestalteten Programmpunkte. Damit die Diskussionen auch von denjenigen geführt werden, die sich wirklich für das LFT interessieren, war das genaue Programm nur den Frauen vor Ort zugänglich.

Das LFT gilt seit jeher als verstaubt und unsexy. Zu diesem Image haben die Debatten beigetragen, die das LFT seit jeher prägen. War es früher vor allem die von den Kritikerinnen dominierte Auseinandersetzung um SM und Penetration, die dem Treffen den Ruf der Sexnegativität einbrachte, dreht sich die Diskussion heute um die In- und Exklusion von Transfrauen und Nichtbinären. Im Jahre 2021 sah sich das Organisationsteam mit den Vorwürfen der Transfeindlichkeit konfrontiert. Anlass des Aufschreis waren auf dem LFT angebotene Veranstaltungen, die sich ausschließlich an Frauen richteten und Themen wie Detransition kritisch behandelten. Alle namenhaften queeren Zeitschriften und Institutionen versuchten sich in ihrer Empörung zu überbieten. So distanzierten sich beispielsweise sowohl der Lesbenring e.V., als auch die Bundesstiftung Magnus-Hirschfeld aus Überzeugung, dass explizite Kritik an queeren Interpretationen des Lesbischseins den Tatbestand der Transfeindlichkeit erfüllt.

Die massive Reaktion auf Veranstaltungen, die Transfrauen nicht als lesbische Frauen inkludieren und sich kritisch mit dem Transaktivismus auseinandersetzen, zeigt, wie groß das Unbehagen mit lesbischen Zusammenkünften ist. Dem entgegen erscheint die in den Hintergrund getretene SM-Debatte als ein Luxusproblem – immerhin war das ein Streit nur unter Lesben.

Die Hölle der Community

Das Unbehagen mit lesbischen Zusammenkünften geht jedoch nicht vorrangig von der nicht-lesbischen Mehrheit der Gesellschaft aus, sondern von den Lesben selbst. Auch die möglichen Folgen des neuen Selbstbestimmungsgesetzes werden diskutiert. Die Aufrechterhaltung des Hausrechts kann angesichts des Zustands der lesbischen Bewegung nur geringen Trost bieten. Was nützt ein Hausrecht, wenn es niemand durchsetzt? Lange bevor die gesetzliche Umwandlung von Geschlecht in Geschlechtsidentität stattfand, haben die Lesben selbst die Demontage ihrer Einrichtungen in die Hand genommen. Vorauseilender Gehorsam, Angst, Opportunismus, Selbsthass, Feigheit und der wohl schwerwiegendste Grund – Goodwill – haben in eine Situation geführt, in der es Lesbenräume ohnehin nicht mehr gibt und die Überbleibsel lesbischer Organisationskraft stetig abgebaut werden. Eindrückliches Beispiel dafür lieferte jüngst das Ex-Lesbenwohnprojekt RuT, das ihr Wohnprojekt nun auch zu einem queeren Ort erhoben hat: Leider nur dem urlesbischen Esoteriksprech treu geblieben, wird behauptet, dass Lesbischsein vor allem eine Sache der Identifikation sei.

Es gibt keinen Generationenkonflikt

Während die lesbischen Projekte reihenweise unter dem Druck zusammenbrechen, dem sie sich selbst durch den Wunsch nach Anschlussfähigkeit und öffentlicher Finanzierung ausliefern, wird sich zur Erklärung dieser Entwicklung auf den Zwang eines vermeintlichen Generationenkonflikts zurückberufen. Ältere Lesben übernehmen die Öffnung lesbischer Räume ganz gönnerhaft in Bezugnahme auf das Phantom der jungen Queer-Lesbe, die angeblich ganz anders sei, als man selbst war und ist. Doch dass Homosexualität keine Frage des Alters oder der Generation ist, konnte auf dem diesjährigen LFT erneut bewiesen werden. Es ist eben das geteilte Begehren der Homosexualität, dass die Lesben zusammenbringt und nicht die Identifikation mit einer ominösen lesbischen Weiblichkeit, auch wenn das manche glauben mögen. Die Homosexualität ist inhärent körperlich, sie bezieht sich auf den Körper und dessen objektivem Geschlecht. Gedanklich ist allein der Umgang, den man mit der eigenen Homosexualität wählt. Auch wenn es konkret nicht immer um Sex geht, ist die Bezugnahme der Homosexualität eben sexuell und damit körperlich. Keine Identifizierung – egal wie ernsthaft sie ist – kann die Körperlichkeit ersetzen oder überlagern.

Dass es beim LFT auch um Feiern und Geselligkeit geht, nicht nur um explizit politische Diskussionen, kann den politischen Charakter des Treffens selbst nicht schmälern. Allein der Exklusivität der Homosexualität Rechnung zu tragen, ist der politische Gehalt des Treffens.

In einer Zeit, in der Exklusivität grundsätzlich abgelehnt wird und seit langer Hand geplante Lesbenprojekte wie das RuT ihre Arbeit nun als allgemeine Inklusionsveranstaltung betrachten, ist es bereits subversiv, dass es überhaupt ein Treffen gibt, das lesbisch und nicht queer annonciert ist und in dem Transsein keine affirmative Erwähnung findet.

Lesbische Geselligkeit als Selbstverständlichkeit

Das LFT ist ein Überbleibsel der Idee lesbischer Selbstverständlichkeit, das gern als Anachronismus verspottet und verächtlich gemacht wird. Teil dieser Selbstverständlichkeit ist die Idee und Organisierung der ausschließlich lesbischen Geselligkeit. Exklusive Räume und die dort gegebene Zeit ermöglichen vieles: eine ausgelassene Stimmung des allumfassenden Flirtens, politische Diskussionen oder körperbezogenere Tätigkeiten wie Playfights – spielerisches Raufen –, nackte Gruppenmassagen und spontanen Sex. Während die Queerbewegung zu Aufbruch und Fluidität drängt und in vermeintlich stetiger Veränderung kopflos voran stolpert, bleibt das LFT, wo es ist. Gleichzeitig gelang ihm dieses Jahr

Der runde Geburtstag darf auch mal ordentlich gefeiert werden (Foto: Ahima Beerlage).

ein beeindruckend vielfältiges Angebot und eine ausgelassene Stimmung zwischen den Generationen.

Während sich die queeren Projekte stetig gegenseitig disziplinieren, um sich auf inklusiver Linie zu halten, hat das LFT die queere Rebellion ­– eine Rebellion gegen die Homosexualität – bisher an sich vorbeiziehen lassen. Sich nicht von dem Bewegungsdrang der anderen anstecken zu lassen, sondern einfach auszuhalten, ist manchmal die bessere Entscheidung, denn: Je mehr man nachgibt, desto größer wird der Druck.

Die selbstbezügliche Homosexualität wird von der queeren Community als Engstirnigkeit und Separatismus zurückgewiesen. In diesen Verhältnissen nicht bündnisfähig zu sein, ist eine Auszeichnung und das wohl schönste Geburtstagsgeschenk, das man sich selbst bereiten kann. In diesem Sinne auf weitere 50 Jahre Lesbenfrühlingstreffen!


Chantalle El Helou, geb. 2000, B.A. in Politikwissenschaft, zurzeit Masterstudium in Gesellschaftstheorie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; auf Ideologiekritik fokussiert, Publikationen zur Kritik an Prostitution, Queertheorie und Antizionismus, engagiert im lesbischen Nachtleben Berlins.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.


Warum die Gender-Aktivisten falsch liegen

Wenn von zwei biologischen Geschlechtern die Rede ist, sind queere Aktivist*innen zumeist schnell zur Stelle und bezichtigen dies als „menschenfeindlich“. Unser anonymer Gastautor hält das mit dem Philosophen David Hume für einen klassischen naturalistischen Fehlschluss. 

Der schottische Philosoph und Ökonom David Hume (1711-1776) ist einer der bedeutensten Köpfe der Aufklärung (Vektorgrafik: Grégory ROOSE auf Pixabay).

Redaktionelle Vorbemerkung: Die Schärfe in der Auseinandersetzung um das Thema „Geschlecht“ nimmt zu, gerade vor dem Hintergrund des im April vom Bundestag beschlossenen Selbstbestimmungsgesetz. Auch die Auseinandersetzungen um einen angemessenen medizinischen und rechtlichen Umgang mit geschlechtsdysphorischen Kindern und Jugendlichen anlässlich der fertiggestellten S2k-Leitlinie sind Teil der Kontroverse. Von queeren Aktivisten und von ihren Gegnern wird auch gern die Biologie bemüht, um die jeweilige Position auch ethisch und politisch zu begründen. Unser heutiger Gastautor „Der Theoretiker“ ruft uns David Humes „naturalistischen Fehlschluss“ ins Gedächtnis und ermöglicht mit seinem pointierten Beitrag ein gedankliches Innehalten. „Der Theoretiker“ ist uns auf X immer wieder begegnet, als sachlicher Diskutant mit klarem Standpunkt in der identitätspolitisch aufgeheizten Stimmung. In ihm spiegelt sich auch wieder, wie diese Stimmung und diese Themen bei linken und liberalen Heteros ankommen. Diese waren schon immer Verbündete in bürgerrechtlichen Fragen. Wir von der Initiative Queer Nations wollen Debattenräume ermöglichen, mit Sachlichkeit Gemeinsames und Differenzen aushalten und besprechen. Daher haben wir uns entschieden, folgenden Gastbeitrag in unserem Blog zu veröffentlichen.

28. Mai 2024 | Anonymous

Am 3. Juli 2022, vor bald zwei Jahren, haben militant auftretende Gender-Aktivisten einen wissenschaftlichen Vortrag der Biologin Marie-Luise Vollbrecht verhindert. Die Humboldt-Universität zu Berlin sagte den im Rahmen der „Langen Nacht der Wissenschaften“ geplanten Vortrag ab, da sie, wie sie vorgab, die Sicherheit der Veranstaltung nicht garantieren könne. Der Vortrag »Geschlecht ist nicht gleich (Ge)schlecht. Sex, Gender und warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt« lässt sich nun bei Youtube verfolgen.

Die Gender-Aktivisten rühmen sich, einen „menschenverachtenden Vortrag“ verhindert zu haben. Marie-Luise Vollbrechts Thesen seien krude „biologistisch“. Die Haltung der Gender-Aktivisten bezeugt jedoch nicht nur völlige Ahnungslosigkeit in wissenschaftlicher Methodologie, sondern exemplifiziert ein pathologisches Verhalten, das in der Psychologie als „toxische Schuldumkehr“ bekannt geworden ist: Wenn sich jemand im Kontext dieses skandalösen Redeverbots des Biologismus verdächtig gemacht hat, sind das jene Gender-Aktivisten.

Naturalistischer Fehlschluss

Jeder Anfänger der Philosophie lernt im Proseminar den „naturalistischen Fehlschluss“ kennen. „Entdeckt“ hat ihn der britische Aufklärer David Hume (1711-1776). Hume machte auf einen wesentlichen logischen Fehlschluss in ethischen und politischen Theorien aufmerksam: Zwischen der Ebene der Tatsachen und der Ebene der moralischen Forderungen liegt eine unaufhebbare Kluft, die leider oft übersehen wird: Man kann niemals von Tatsachen folgerichtig auf Normen überleiten. Das ist nicht möglich, da die Sphären der Tatsachen und die der Normen einen kategorial verschiedenen logisch-semantischen Charakter aufweisen. Man kann von einem Aussage-Satz niemals logisch überleiten zu einem normativ-wertenden Satz. Von der einen gelangt man niemals in die andere Welt.

Der Mensch ist ein natürliches Lebewesen und biologischen Zwängen unterworfen. Im Unterschied zu den Tieren ist er aber in Lage, seine Lebenswelt durch die Institution der Kultur nach seinen Bedürfnissen zu verändern. Der Mensch ist also Angehöriger zweier Welten: der Natur und der von ihm geschaffenen Kultur. Viele der biologischen Zwänge kann er überwinden oder wenigstens abmildern. So ist der Geschlechtstrieb biologisch an die Fortpflanzung gekoppelt. Der Mensch ist aber in der Lage die biologische Kategorie der Fortpflanzung außer Kraft zu setzen. Nicht nur das, er ist sogar in der Lage, sofern er dies wünscht, die Fortpflanzung völlig aus seinem Gesichtskreis zu verbannen und Sexualität ohne biologische „Grundierung“ zu praktizieren. Würde ihm nun einer in vorwurfsvollem Ton entgegnen: „Du weißt aber schon, dass die Sexualität eigentlich der Fortpflanzung dienen soll..?“ , so würde er wahrscheinlich etwas verwundert antworten: „Das mag sein, betrifft mich aber nicht, denn was ich tue, schadet niemandem und daher halte ich mein Handeln für legitim.“

Biologie und Legitimität von Gesetzen

Was hat mein Beispiel mit der Gender-Debatte zu tun? Viel, denn auch der Verweis auf die Faktizität der zwei Geschlechter in der Biologie ist für die Frage nach der Legitimität der Gesetze, die in diesem Kontext erlassen werden sollen, irrelevant. Wenn eine Person sich mit der biologisch vorgegebenen Dualität der Geschlechter unwohl fühlt, hat sie in einer liberalen Gesellschaft selbstverständlich das Recht, eine ihr zusagende Geschlechter-Rolle zu wählen, mit der sie sich besser fühlt. Die Biologie kann hier gar nicht weiterhelfen, da Geschlechter-Rollen allein in der Welt der Kultur bestehen und nur hier diskutiert werden können. Gegner einer freien Auswahl der Geschlechter-Rollen können also nicht auf deren Unnatürlichkeit verweisen. Umgekehrt gilt das aber auch: Befürworter können nicht auf deren vermeintliche Natürlichkeit verweisen. Gesetzesvorhaben, die im Bereich der Geschlechter-Rollen geplant werden, können in vielerlei Hinsicht diskutiert werden: Man kann ihre Praktikabilität, ihre Effektivität, ihre Akzeptanz in der Bevölkerung und ihre positiven und negativen Wirkungen diskutieren und am Ende auch ihre Legitimität. Auf ihre Natürlichkeit oder Unnatürlichkeit lässt sich dabei aber nicht rekurrieren.

Die Frage ist also: Warum reagieren die Gender-Aktivisten auf die bloße Darstellung biologischer Tatsachen (die für die Kategorie „Legitimität“ wie erwähnt gar keine Rolle spielen können) wie ein wildgewordener Hornissenschwarm? Sie reagieren mit Verdrehungen, Verleugnungen und Drohungen. Haben die betont aggressiv auftretenden Gender-Aktivisten den naturalistischen Fehlschluss nicht verstanden? Oder handelt es sich um eine wissenschaftsfeindliche totalitaristische Bewegung, die viel mit den religiösen Eiferern unserer Tage und wenig mit den Verteidigern der Offenen Gesellschaft zu tun hat?

Rechte einer Minderheit

Wir hatten oben bemerkt, dass eine Person, deren präferierte Geschlechterrolle vom Mainstream abweicht, von einer Offenen Gesellschaft großzügige Toleranz erwarten darf. Sie kann erwarten, dass die Gesellschaft dafür sorgt, dass sie nicht diskriminiert wird – und dass das mühevolle Arbeit bis ins Privateste hinein nötig macht, ist ohnehin klar. Nicht erwarten kann sie, dass die Gesellschaft ihre Präferenzen übernimmt. Sie kann außerdem erwarten, dass die Gesellschaft die Anpassungsleistungen minimiert, die jene Person gegenüber der Mehrheit alltagspraktisch zu realisieren hat. Nicht erwarten kann sie, dass die Mehrheit mehr tun wird, als den aktiven Schutz ihrer Lebensweise zu garantieren.  Biologielehrbücher können ihretwegen nicht umgeschrieben werden. Eine Minderheit ist eine Minderheit, zumal wenn sie naturwissenschaftlich kontrafaktisch orientiert ist, und kann nicht erwarten, dass die Mehrheit dies aus Zartgefühl unerwähnt lässt oder gar leugnet.

Solche normativen Fragen aber können – wie bereits erwähnt – auf dem Felde der Naturwissenschaft nicht debattiert werden. Sie müssen in der Öffentlichkeit fair und ohne Tabus erörtert werden. Ein Redeverbot ist totalitär und steht sowohl in Widerspruch zur Wissenschaft als auch zur freiheitlichen Ordnung einer Offenen Gesellschaft. Sich angegriffen zu fühlen, ist kein Beweis dafür, wirklich angegriffen worden zu sein.


Unser anonymer Gastautor ist auf X unter dem Pseudonym „Theoretiker“ aktiv. Er hat seiner Familie versprochen, so lange anonym zu bleiben, wie die Transdebatte derart toxisch ist. So viel dürfen wir über seinen fachlichen Hintergrund verraten: Er hat in Philosophie zu logischem Positivismus promoviert.


Auf ein Wort in eigener Sache: Die 2005 gegründete Initiative Queer Nations versteht sich getreu des Mottos von Magnus Hirschfeld „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“ als Debattenplattform. Im Blog gibt es Kommentare, Analysen, Berichte zu aktuellen Themen, die unsere Arbeitsschwerpunkte berühren. Neben der Herausgabe des „Jahrbuchs Sexualitäten“ seit 2016 und Veranstaltungen, etwa unseren Queer Lectures, erweitern wir damit unser Angebot. Wir sagen: Mainstream kann jeder – wir haben das nicht nötig!  Wir arbeiten ehrenamtlich. Alle Texte in unserem Blog sind kostenfrei zugänglich. Damit das weiterhin möglich ist, freuen wir uns sehr, wenn Sie uns mit einer Spende oder Mitgliedschaft bei der IQN e.V. unterstützen.